(8) profoundly capable
We are very, very small
but we are profoundly capable
of very, very big things.
- Stephen Hawking
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-Lanohiah, jetzt-
Ich saß auf dem Stuhl einer Bibliothek und beobachtete Hira dabei, wie sie durch die Bücher der Regale stöberte. Sie war schon früh morgens aufgebrochen, weshalb sich nur wenig andere Menschen hier befanden.
Für heute Nachmittag war ich zu einer weiteren Mission gerufen worden. Ich hatte noch keine Ahnung, worum es dabei ging, nur, dass Kev diesmal auch dabei sein würde.
Seufzend stand ich auf, stellte mich dicht neben Hira und betrachtete ihre schlanken, zarten Finger, die über die Buchrücken fuhren. Mal zog sie vorsichtig eines hervor, betrachtete den Einband und schob es dann wieder zurück. Hin und wieder holte sie die Bücher komplett aus dem Regal heraus und blätterte sie durch.
Ich sah von den Fingern auf, die sanft Seite für Seite umschlugen und blickte ihr ins Gesicht, das zur Hälfte von den hellbraunen Haaren bedeckt war. Die grün-braunen Augen huschten von Zeile zu Zeile, überschlugen manchmal Absätze und landeten dann plötzlich ganz unten auf der Seite.
Aber all das brachte mich doch auch nicht weiter. Gerade als ich mich ein wenig genervt abwenden wollte, klappte Hira das Buch zusammen und mein Blick fiel auf den Buchtitel.
Verwirrt sah ich zurück zum Bücherregal und erkannte erst da, in welcher Abteilung wir uns hier befanden.
Hira schob das Buch wieder zurück, viel weniger sanft als vorher. Dann starrte sie es noch einige Sekunden lang an, als würde sie es sich wieder anders überlegen. Plötzlich schüttelte sie den Kopf, als würde sie sich über sich selbst wundern. Ich bekam nicht richtig mit, wie sie sich ihre Tasche schnappte und beinahe fluchtartig die Bibliothek verließ.
Ich zog all die Bücher hervor, die sich Hira angesehen hatte.
Ramana Maharshi: Wer bin ich? Der Übungsweg der Selbstergründung
Elias Fischer: Selbstverwirklichung: Erkenne dich selbst und verwirkliche deinen Lebenssinn
Richard David Precht: Erkenne dich selbst - Geschichte der Philosophie 2
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Auch dieses Mal leitete Melahel unsere Mission. Jedoch waren wir weniger als vor einigen Tagen im Wald mit den Nøkken. Gemeinsam mit Kev und Caracasa, dem Frühlingsengel flogen wir hinter Melahel her, der schon seit einiger Zeit zielstrebig in eine Richtung flog.
"Wir fliegen zu den nördlichen Wäldern", bemerkte Caracasa nach einiger Zeit. Ihre unglaublich langen blonden Haare, die zu grünlichen Spitzen übergingen, wehten hinter ihr her. Ich fragte mich, weshalb sie sich nicht in ihren Flügeln verhedderten.
Die meisten Engel trugen eher dunkle Kleidung, aber Caracasas Körper umhüllte ein luftiges, weites Oberteil in hellen, sanften Farben.
Irgendwann machten wir tatsächlich die riesige Waldlandschaft mit den dunklen Nadelbäumen aus. Melahel führte uns zu einer Stelle, wo die Bäume nicht so dicht waren, damit wir von der Luft aus in den Wald fliegen konnten.
Wir landeten lautlos im Kreis mit unseren Rücken zueinander auf einer kleinen Lichtung und warteten einige Sekunden ab, bevor wir die Flügel senkten und uns etwas gelassener umsahen.
Uns allen war bewusst, dass wir uns in einem Gebiet befanden, in denen uns einige Wesen angreifen konnten. Es gab zwar eine Art Vertrag, die Grenzen seines Lebensraums nicht zu überschreiten, allerdings wurde dies nicht immer eingehalten oder von allen Lebewesen verstanden.
Ich wusste, dass uns auch einige Wesen gegenüber feindselig gestimmt waren. Nicht nur, weil wir gerade in ihren Lebensraum eindrangen und uns auch sonst oft das Recht nahmen, ihre Gebiete zu kontrollieren. Sie hatten auch einen grundlegenden Hass uns gegenüber, der sie nicht selten dazu brachte, uns anzugreifen.
Sie waren nicht in der Lage zu verstehen, dass wir Engel praktisch unsere Lebenszeit dazu benutzen, alles im Gleichgewicht und unter Kontrolle zu behalten.
Kurz dachte ich an alle Kriege und Vorfälle zwischen den Menschen und den magischen Wesen. Die nun aus menschlicher Seite alles nur noch Märchen, Volksgeschichten und Spinnereien waren. Bösartige Hexen aus Märchen. Meerjungfrauen, Nixen und Sirenen aus Seemannsgeschichten. Geschichten über Schutzengel aus der Bibel. Götter aus antiken Mythen. Fabelwesen aus Fantasyromanen. Die meisten Menschen glaubten nur, was sie selber mit eigenen Augen gesehen hatten.
Und das war auch gut so. Ohne jeden Menschen in dieselbe Schublade stecken zu wollen: Viele von ihnen ordneten ihrer Rasse alle anderen unter. Stellen sich an die Spitze der Nahrungskette. Vernichten das, was ihnen fremd ist, ihnen eine Bedrohung sein könnte. Wahrscheinlich würden viele ihren Nutzen daraus ziehen wollen.
Vor meinem inneren Auge sah ich Feen und Drachen und Meerjungfrauen in Zirkusvorführungen, andere magische Wesen ausgestopft und zur Schau gestellt, uns Engel verfolgt und gejagt, die Lebensräume von uns allen zerstört und ausgebeutet. Manche würden uns alle behandeln, wie sie die Tiere und Pflanzen behandelten. Rücksichtslos und nur auf den eigenen Vorteil gesinnt.
Caracasa zuckte neben mir zusammen und riss mich mit dieser Bewegung aus meinen Gedanken. "Habt ihr das auch gehört?"
Kev neben mir spannte sich an und lauschte, Melahel blickte gefasst in eine bestimmte Richtung. Ich folgte seinem Blick. Einige Sekunden herrschte absolute Stille, bis die Stimme unseres Anführers sie unterbrach. "Sie beobachten uns. Greifen noch nicht an. Macht keine falsche Bewegung, verhaltet euch ruhig."
Von meinem Standpunkt aus konnte ich nicht sehen, was Melahel sah, doch ich wollte es nicht riskieren, zu ihm zu treten. Langsam gingen wir rückwärts, ohne der bestimmten Stelle den Rücken zuzukehren. Dann drehten wir uns langsam um, während Melahiel wachsam die Nachhut bildete.
"Okay, ich möchte nicht, dass ihr Fragen stellt, weil ich die Antwort darauf selbst nicht kenne", erzählte er uns mit bedeckter Stimme. "Ihr habt bisher noch keine Details über diese Mission erfahren, weil es bisher nicht in der Akademie herumgesprochen werden sollte."
Kev neben mir runzelte die Stirn bei seinen Worten, sagte aber nichts und wich einigen Ästen aus, die seinen Weg versperrten.
"Ein Waldtroll hat angefangen, magische Tierwesen auszuschlachten. Ihr wisst ja, im Gegensatz zu Berg- oder Höhlentrollen ernähren sich Waldtrolle normalerweise von Pflanzen und kleineren Tieren. Ihr Gemütszustand ist eigentlich sehr sanft. Dieser hier lässt allerdings Kadaver zurück, mit denen er sich noch lange hätte ernähren können."
Natürlich, kein Wesen war genau wie das andere. Es gab immer Ausnahmen. Aber von so einem Fall hatte ich bisher nicht gehört.
"Deshalb hatte ich auf deine Unterstützung gehofft, Caracasa. Waldtrolle sind sehr mit der Natur verbunden. Wenn sich diese Verbindung irgendwie verändert hat, könntest du dies vielleicht erkennen."
"Das dachte ich mir bereits", erwiderte der Engel mit verständnisvollem Ton.
"Lano, hast du schon mal gegen einen Troll gekämpft? Ich nicht. Stand jetzt auch eigentlich nicht so wirklich auf meiner To-Do-Liste", flüsterte Kev gedämpft, mit seinem Kopf in meine Richtung gelehnt.
"Wir werden wohl heute beide unseren Erfahrungshorizont erweitern", antwortete ich ebenso mit bedeckter Stimme.
Wir schritten eine Weile durch den dichten Wald, bis Melahel plötzlich stehen blieb. Wir folgten seinem Beispiel und lauschten. Tatsächlich, von etwas weiter weg hörte man schwach Schritte auf dem Waldboden. Schweigend gingen wir weiter und folgten der Richtung der Schritte, die immer lauter wurden. An ihnen konnte man hören, dass sie von einem großen Wesen stammen mussten.
Dann traten wir aus der letzten Baumreihe hervor und fanden uns an einem Fluss wieder, der sich zwischen einer Gesteinskette seinen Weg bahnte. Vogelkreischen. Unsere Schritte auf dem Waldboden. Das Plätschern des Wassers vor uns. Und das Grunzen eines riesigen Waldtrolls, der zwischen den umherstehenden Bäumen stand. Vögel flogen um ihn herum oder setzten sich auf ihn. Der Troll schlug nach ihnen. Das Wesen war gewaltig. Es überragte die meterhohen Nadelbäume beinahe.
"Was jetzt?", flüsterte Kev so leise, dass ich ihn beinahe nicht hören konnte. Ich drehte mich zu meinen Begleitern. Caracasas große Augen sahen stur geradeaus vorwärts. "Er wehrt sich gegen die Vögel", wisperte sie schockiert. "Ich verstehe das nicht.. Waldtrolle lieben die Natur. Das macht keinen Sinn. Das habe ich noch nie gesehen..."
Dann passierten mehrere Dinge gleichzeitig, nur im Bruchteil von Sekunden. Caracasas Augen weiteten sich stark, Melahel hinderte Kev daran, sein Schwert herauszuziehen. "Es wird nichts bringen."
Ich drehte mich um. Der Waldtroll sah mit seinem Kopf über die Schulter und blickte uns an. Dann machte er ein paar Schritte und stand uns in einigem Abstand gegenüber. Wir standen dort und warteten stocksteif ab, nur die Vögel in der Luft bewegten sich. Der Waldtroll setzte einen Fuß nach vorne, danach den anderen und ging mit riesigen Schritten auf uns zu.
Wir weiteten unsere Flügel, ließen den Troll dabei nicht aus den Augen. Ich vernahm das Geräusch von einem harten Abstoß und schlagenden Flügeln Melahels. "Los geht's."
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