(5) wild air
Live in the sunshine,
swim in the sea,
drink the wild air.
- Emerson
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- Lanohiah, jetzt -
Direkt nach dem Sonnenaufgang betrat ich den Balkon, der an unser Zimmer grenzte und hob mich mit kräftigem Anstoß in die Lüfte. Sanft und beinahe lautlos schlug ich mit den Flügeln und flog an ein paar krächzenden Vögeln vorbei.
Ich landete auf dem Dach der Akademie, sah auf das Gelände und die umgebende Landschaft herunter.
Es war jetzt etwas über eine Woche her, dass unsere Ausbildung abgeschlossen war. Etwas interessantes über den Grund, warum ich das Mädchen, das von ihren Freunden "Hira" genannt wurde, beschützen musste, hatte ich bisher nicht gefunden.
Kev hatte herausgefunden, dass sein Schützling eine Lehrerin mittleren Alters war. Sie war sehr religiös, betete jeden Tag und unterrichtete Religion an einer Schule. In ihrer Freizeit half sie ehrenamtlich in einer Suppenküche.
Meinen besten Freund verwirrte es, dass diese Frau mehr an Gott glaube als er selbst. Wir vertraten beide die Meinung, dass es keinen Gott gab, den man anbeten konnte. Es gab vielleicht eine göttliche Macht, die all das hier erschaffen hatte. Die Güte und Barmherzigkeit und Liebe erschaffen hatte. Irgendwie musste es ja mehr geben als die Reaktionen unseres Gehirns, die Launen der Natur.
Natürlich verstand ich Menschen und Engel, die an einen Gott glaubten. Aber manchmal glaubte ich, dass man nicht einen Gott für alle guten Dinge im Leben loben oder verantwortlich machen sollte. Wir alle waren in der Lage, etwas Gutes zu schaffen. Auch wenn die meisten es für unmöglich hielten.
*
Am Nachmittag dieses Tages flogen wir mit ein paar anderen Engeln zu einem Ort kilometerweit der Akademie entfernt. Wir flogen, bis es dämmerte und landeten dann am Eingang eines Waldes.
Insgesamt waren wir fünf Engel, jeder von uns konzentriert und bewaffnet. Uns wurde eine Mission aufgetragen, die wir zu erfüllen hatten.
Wir betraten den Wald, dessen dichte Schatten die Luft augenblicklich kühler werden ließ. Uns begegnete kein Mensch, aber selbst wenn es so gekommen wäre, hätten sie uns aufgrund unserer Zauber nicht sehen können.
Wachsam gingen wir tiefer hinein, jeder von uns auf der Hut. Die Flügel hatten wir halb ausgestreckt und halb gefaltet, um notfalls schnell abheben zu können.
Einzig und allein unser Anführer hatte seine Flügel zurückgezogen. Ich bemerkte, dass dies fast nie jüngere Engel taten, auch ich nicht. Wahrscheinlich weil wir uns mit ihnen sicherer fühlten.
Niemand sprach ein Wort. Kaliel ging neben mir, genauso lautlos wie die anderen und ich.
Hier waren bereits Menschen verschwunden. Und das nicht ohne Grund.
Uns war gemeldet worden, dass sich eine unbestimmte Anzahl von Nøkken in diesem Wald und angrenzenden Sumpf abgesetzt hatten, die sich in menschlichem Gebiet befanden.
Als wir an den wässrigen Teiles der Umgebung angelangt waren, wurden wir alle noch vorsichtiger. Hier irgendwo mussten sie sein. Die gefährlichen, mysteriösen Wasserkreaturen, die ihre Gestalt ändern und Menschen in die Sümpfe locken konnten.
Unsere Schwerter klirrten leise, als wir sie aus den Schutzscheiden zogen. Wir alle trugen Schwerter bei uns, in die Metall eingearbeitet wurde, weil dieser Substanz eine schützende Wirkung gegenüber Nøkken nachgesagt wurde.
Melahel, der Gott, der vom Übel erlöst, ging voraus. Er war so etwas wie der Kampflehrer unserer Akademie und führte stets Missionen dieser Art.
Wir gingen hinter ihm her, bis er plötzlich etwas langsamer wurde und nun auch er das Schwert aus der Scheide zog. Alarmiert blickte ich mich um, sah das Wasser an, entdeckte aber nichts ungewöhnliches.
Auf den ersten Blick zumindest.
An der Grenze zwischen Land und Wasser lag ein kleiner Haufen Moos mit ein paar dünnen Stöcken. Weiterhin blickte ich darauf. Bis es sich bewegte.
Melahel machte mit unglaublicher Geschwindigkeit einen Schritt nach vorne und rammte sein Schwert zu Boden.
Der Nøkken schrie schmerzerfüllt auf. Das Schwert steckte durch seinen Arm hindurch so tief im Boden, dass sich das Wesen nicht losreißen konnte.
"Lanohiah, hilf mir mal", forderte der Mann, während er noch weiter ans Wasser trat. Ich half ihm, das Geschöpf am Arm hochzuziehen, nachdem Melahel das Schwert wieder herausgezogen hatte.
Gewaltsam hielt ich das glitschige Wesen fest, das schrie, sich wand und befreien wollte. Es hatte bläuliche, sehr glatte Haut, mit der er mir entwischt wäre, wenn ich keine rauen Handschuhe getragen hätte. Es war ein bisschen kleiner als ich, hatte eine menschliche Statur und gelb-bräunliche, große Augen. Ich konnte nicht einschätzen, ob das Moos auf seinem Kopf nur drauflag und klebte, oder ob es angewachsen war.
Ich hielt das Ding auf Abstand, weil es sich ständig zu entwinden und mich zu beißen versuchte. Ein weiterer Engel kam mir zur Hilfe und hielt den Nøkken von der anderen Seite fest.
Melahel stellte sich vor das Wesen und betrachtete es, anschließend streckte er das Schwert aus und fuhr damit ganz langsam an seiner glatten, bläulichen Haut entlang.
"Wie viele seid ihr? Warum seid ihr in menschliches Gebiet vorgedrungen?", fragte der Engel ohne Umschweife und verstärkte den Druck der Klinge auf seiner Haut. Der Nøkken wollte zurückweichen, weshalb wir ihn noch stärker festhalten mussten.
Er schwieg. Wir wussten, dass er sprechen konnte. Immerhin verwandelte er sich in göttlich gutaussehende Menschen, um naive und gutgläubige Frauen oder Männer ins Wasser zu locken.
Melahel wartete etwa eine halbe Minute. Dann ließ er das Schwert sinken, trat einen Schritt zurück und sah sich beiläufig um. "Wie wird das Wetter morgen, Reiiel?"
Reiiel sah auf und schien auf diese Frage überhaupt nicht vorbereitet gewesen zu sein.
"Ziemlich sonnig", half ich ihm aus, verstehend, worauf Melahiel hinauswollte.
"Exakt. Ziemlich sonnig. Ein wunderbarer Tag zum Bräunen in der Sonne. Oder zum verbrutzeln und austrocknen, findest du nicht?"
Der Nøkken riss die Augen auf. Ich hatte davon gehört, dass man seine Fähigkeiten zum Gestaltwandeln unterbinden konnte. Somit wäre es, als würde man einen Fisch in die Sonne legen. Qualvoll.
Das Wesen neben mir stieß ein seltsames Geräusch aus. "Ihr tötet uns doch sowieso", meinte es dann, mit rauer und nicht allzu oft benutzter Stimme.
"Wenn wir die genaue Anzahl von euch erfahren und außerdem den Grund, weshalb ihr hier gelandet seid, dann nein", erklärte der silberhaarige Engel.
"Okay, schon gut. Es gab nicht mehr viel Nahrung in unseren Gebieten. War einfach verlockend, hierher zu kommen. Also sind wir zu dritt aufgebrochen." Das Wesen sah Melahel in die Augen, dieser sah ausdruckslos zurück.
"Würdest du so freundlich sein, deine Gefährten zu rufen?", bat Melahel ein wenig verärgert. Der Nøkken sträubte sich zuerst wütend, gab dann aber nach und stieß einen lauten, krächzenden Schrei hervor.
Nach wenigen Sekunden traten zwei weitere Nøkken hervor, die ganz in der Nähe gewesen waren und alles beobachtet haben mussten. Die anderen Engel hielten auch sie fest.
"Es spricht gegen die Gesetze des ganzen Systems, die Grenzen zu überqueren. Ihr werdet euch vor dem Gericht verantworten müssen", erklärte Melahel trocken.
"Was? Aber du sagtest doch-"
"Ich sagte wir töten euch nicht. Was das Gericht für eine Entscheidung fällt steht nicht in unserer Macht."
Nachdem zwei von uns noch eine Patrouille durch den Wald machten um sicherzugehen, dass sich wirklich keine weiteren Nøkken hier befanden, flogen wir die Festgenommenen zu dem der Akademie am nächsten gelegenen Gerichtsbebäude.
Melahel übernahm den Bericht für den Richter, weshalb wir restlichen Engel dann schon zur Akademie zurück konnten.
Ich flog zwischen Kaliel und Reiiel. Meine Gedanken hingen am Vorfall von vorhin und bei den nächsten Worten von Kaliel wusste ich, dass ich nicht der einzige war. "Seltsam, oder? Also, dass die Wesen plötzlich die Grenzen überqueren. Letzte Woche gab es einen Fall mit Draugen auf einem menschlichem Friedhof..."
"Warum ist das seltsam? Sowas passiert doch immer mal wieder", erwiderte Reiiel. "Die Nøkken hatten Hunger, hast du doch gehört. So verfressen wie die sind. Und Draugen verirren sich doch sowieso überall hin."
"Wahrscheinlich hast du Recht", stimmte ich ihm zu. "Kein Grund, sich jetzt den Kopf zu zerbrechen." Ich sah Kaliel von der Seite aus an, die bei meinen Worten nickte.
*
Ich stand mit Kev auf dem Balkon, rauchend, mitten in der Nacht. Obwohl wir einfach nur schweigend dort gestanden hatten, kam es mir wie eine Unterbrechung vor, als ein Schock durch meinen Körper fuhr und das pure Gefühl von Angst zurückließ.
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