(46) an angel

She's been trough hell and came out an angel. You didn't break her, darling. You don't own that kind of power.
- BMM Poetry
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- Virago, jetzt -

Ich sah meine Flügel, zum ersten Mal seit Jahren. Mein Atem stockte, während ich hinunter starrte. Ich spürte sofort, dass es meine waren, auch wenn sie anders aussahen.

Früher waren sie schneeweiß gewesen, heute zierten die Federn ein paar leichte, verschiedene Grautöne. Am Anfang, dort, wo sie eigentlich mit meiner Haut verschmelzen sollten, sah ich einen blanken Knochen und rötliche Federn. Mir wurde übel. 

Ich wendete mich ab, mein Magen rebellierte. "Schaff ihn hier raus", brachte ich hervor. Rochel reagierte sofort und leitete Ahadiel aus dem Raum heraus. Ich versuchte nicht daran zu denken, wie mir dieser Knochen gebrochen werden musste. Wie mir meine Flügel aus der Haut gerissen werden mussten. 

Für einen Moment stützte ich meine Hände auf meine Oberschenkel und versuchte, mich nicht zu übergeben. Ich war noch ein Kind gewesen. Am Anfang der Flügel hatte mein Blut die Federn wohl unwiderruflich rot gefärbt. Meine Narben auf den Schulterblättern brannten wieder.

"Nehmen Sie sich Zeit. Kommen Sie dann bitte in den Nebenraum", bat der Arzt Sarakiel. Ich sah aus dem Augenwinkel, wie er in die Kühltruhe greifen wollte.

"Nein", widersprach ich. "Ich würde das gerne machen." Jetzt, wo ich sie endlich wieder hatte fiel es mir schwer, sie in fremde Hände zu geben.

Sarakiel nickte, drückte mir dünne Plastikhandschuhe in die Hand, murmelte etwas von Hygienemaßnahmen und verschwand.

Ich atmete tief durch. Sah auf, wo mich Kev, Lano und Tahariel unverhohlen anstarrten. Ich konnte es ihnen nicht verdenken. Lanos aufmunterndes Lächeln gab mir Kraft.

Schließlich wandte ich mich zu meinen Flügeln um. Meine Fingerspitzen fuhren langsam über die steifen, aber weichen Federn. Was ich spürte war unglaublich und kaum mit Worten zu beschreiben. Ich streifte die Handschuhe über und griff in die Truhe, um das Flügelpaar vorsichtig heraus zu holen. 

Tief durchatmend trug ich sie in meinen Händen. Es würde funktionieren. Es musste funktionieren. 

Kev lief vor und öffnete mir die Tür. Mit unglaublich stark klopfendem Herz trat ich in den nächsten Raum hinein, meine Flügel sicher in meinen Armen, die Hoffnung sicher in meinem Herzen. 

*

Unendlich langsam schlug ich meine Augen auf. Für einen Moment erschreckte ich mich, weil ich in ungewohnter Weise in ziemlich angreifbarer Position auf dem Bauch lag. Als ich mich aufrichten wollte, da spürte ich dieses neue Gewicht auf dem Rücken.

Oh mein Gott.

Schwer atmend richtete ich mich auf, mit unglaublicher Vorsicht. Ich war halb nackt. Mit einem Herzen, welches mir heftig gegen den Brustkorb schlug, stand ich auf. Das Krankenzimmer in welchem ich mich befand, war leer. Aber das kümmerte mich nicht im geringsten.

Ich rannte zum angrenzenden Badezimmer, riss die Tür auf und starrte in den Spiegel. Meine Flügel, oh Gott. Langsam hob ich meine Hände zu den Federn, befühlte meine neuen Körperteile. Ich konnte sie mit den Fingern spüren, aber sonst fühlte ich nichts.

Puh, Vira, beruhige dich. Schwerfällig versuchte ich, meine Flügel zu bewegen. Zuerst tat sich überhaupt nichts. Erst nach mehreren Versuchen konnte ich sie zu beiden Seiten ausstecken. Ein berauschendes Gefühl durchfuhr mich und Freudentränen sammelten sich in meinen Augen. Ich hatte meine Flügel wieder.

Es klopfte. Ich war zu überwältigt um zu reagieren. Schließlich ging die Tür langsam auf und mit tränenverschwommener Sicht erblickte ich Rochel. Ich stieß einen Laut aus, den Laut den man machte, wenn man halb weinte und halb lachte. Lächelnd rannten mir Tränen über die Wangen, als mich Rochel in den Arm nahm.

Ich wünschte, ich wäre jetzt bei meiner Mutter.

Tief durchatmend nahm ich ein paar Stücke Stoff von Rochel entgegen, welche dann wieder den Raum verließ. Ich brauchte ein paar Minuten um mich zu beruhigen und dann meine Unterwäsche anzuziehen. Um das neue, dunkle Oberteil mit den Schlitzen anziehen zu können, musste ich meine Flügel zurückziehen. 

Angsterfüllt sah ich in den Spiegel. Natürlich wusste ich von früher, wie das ging. Aber ich wollte sie nicht verschwinden lassen. Ich wartete noch ein paar Minuten vor dem Spiegel stehend. Dann fasste ich all meinen Mut zusammen, schloss meine Augen, zog meine Flügel zurück und zog mir schnell das Oberteil über. 

All diese Zeit sah ich nicht in den Spiegel. Ich wollte mich nicht mehr ohne Flügel sehen. Ich wollte mich nicht mehr als einen Menschen sehen.

Nervös konzentrierte ich mich. Dann durchfuhr mich Schmerz. Fuck, das hatte ich nicht bedacht. Wo die Flügel wieder aus meiner Haut kam platzte irgendwas auf und ich blutete wieder.

Normalerweise würde das wohl wehtun müssen, allerdings fühlte ich mich durchstömt von Glücksgefühlen, sodass es alles andere in den Hintergrund rückte.

Hektisch griff ich nach Papiertüchern und hielt sie mir umständlich an die Anfänge meiner Flügel, wo sie das Blut aufsaugten.

Als nach einiger Zeit nichts mehr kam warf ich die blutbeschmierten Tücher in den Müll, wusch mir das Blut von den Fingern, sah in den Spiegel. Mein Gesicht war blass, rund um meine Augen erkannte man feine rote und violette Äderchen, meine Haare könnten mal wieder gekämmt werden. Aber ich fand, dass ich noch nie stärker ausgesehen hatte. 

Ich machte die Tür auf, ging in das Krankenzimmer zurück. Meine Flügel am Rücken wippten etwas leblos umher. Ich konnte praktisch spüren, wie die Muskeln in den letzten Jahren verkümmert waren. Trotzdem, alleine zu wissen, dass sie wieder bei mir waren und mich vervollständigten war wunderbar.

Für einen Moment aber musste ich das Gefühl meiner wiedergewonnen Flügel in meinen Hinterkopf schieben. Wie würde es jetzt weitergehen? Wahrscheinlich musste ich mich von Rochel, Lano und Kev verabschieden. Mit Tahariel mitgehen, meine Eltern finden.

Ich sah mich in dem weißen, schlichten Zimmer um. Es gab nicht einmal ein Fenster. Ich musste raus hier, sehnte mich nach frischer Luft.

Als ich die Tür aufmachte, da stand Lano vor mir. Er lehnte gegenüber von mir an der Wand des langen Ganges und blickte mir erst in die Augen, dann fuhr sein Blick über meine Flügel. Er lächelte.

Die Operation und die Zeit danach mussten doch sicher über zwei oder drei Stunden umfasst haben. Er hatte doch wohl nicht die ganze Zeit über hier gewartet?

"Wie fühlst du dich?", erkundigte Lano sich.

"Gut", krächzte ich schwächlich. Ich räusperte mich, damit meine Stimme hoffentlich wieder etwas stärker klang. "Ich kann sie noch kaum bewegen. Aber sie fühlen sich... gut an. Es fühlt sich richtig an."

Lano nickte verständnisvoll. "Das ist wunderbar, Vira." Als er das sagte, da brach etwas in mir. Er wusste noch nicht, dass ich ihn verlassen musste.

"Wir müssen reden", entschloss ich dann, was mir einen verwunderten Blick seinerseits bescherte. 

"Ich werde mit Tahariel mitgehen. Weil ich meine Eltern finden muss und weil ich nicht in dieser Welt leben kann, als ob nichts passiert wäre", informierte ich ihn.

Für ein paar Sekunden blickte Lano mich an. Dann sah er sich nach links und rechts um, trat auf mich zu, griff unsanft aber nicht schmerzhaft nach meinem Arm, drückte mich wieder ins Krankenzimmer hinein und warf die Tür zu. Plötzlich stand er ganz dicht bei mir.

"Ich hatte gehofft, dass sich deine Meinung ändern würde, sobald du deine Flügel wieder hast", meinte er, woraufhin ich ihn nur verständnislos anstarrte.

"Das kann nicht dein Ernst sein, Vira. Du hast doch garkeine Ahnung worauf du dich da einlässt", wütete er plötzlich.

"Du doch auch nicht! Euch wird doch allen verschwiegen, was vorgefallen ist", erwiderte ich und erhob meine Stimme ebenso.

"Rochel hat es mir erzählt. Vira, du solltest dich nicht auf diese Seite stellen. Das sind kaum mehr als fünfhundert Engel. Fünfhundert Verräter gegen fünfhunderttausend, wie stellst du dir das vor? Sobald das Gericht den Standpunkt erfährt wird doch jeder umgebracht, ohne das die mit der Wimper zucken!"

Ich verstand, dass sich Lano nur Sorgen um mich machte. Aber das war keine Entscheidung, die er für mich treffen konnte. "Du nennst sie Verräter, Lano. Ich nenne sie Kämpfer. Die einzigen Verräter sind die, unter denen du lebst! Lieber sterbe ich mit diesen paar hundert Engeln als scheinheilig und unterdrückt mit den anderen fünfhunderttausend zu leben!"

Wieder starrte der Engel mich für einige Sekunden an. Noch nie habe ich diese sonst strahlenden Augen so leer und blank gesehen. "Wir werden nicht unterdrückt. Wir leben unsere Bestimmung, schon seit jahrtausendlangen Traditionen. Die Engel schützen die Menschen. Schützen die magischen Wesen."

"Nein, ihr kontrolliert sie. Sag mir, wieso müsst ihr als Schutzengel bestimmte Menschen schützen? Dem obersten Gericht ist doch scheißegal, ob da unten ein paar Menschen abkratzen. Bist du sicher, dass du zum Schützen ausgebildet wurdest und nicht zum Spionieren? Zum Menschen unter Kontrolle halten? Eine selbstlose Aufgabe vollbringend, erfunden vom Gericht, damit das Engelvolk beruhigt ist?", stürmte ich los, beinahe keine Luft holend.

"Lano, es ist alles nicht so wie es zu sein scheint. Es ist manipuliert. Die Schützlingswahl kann manipuliert werden. Deine wurde es auch", beichete ich dann.

Der Engel vor mir machte die Augen ein kleines bisschen mehr auf, kaum merklich. Mir wurde nun bewusst, dass Lano über diese Möglichkeit noch nie nachgedacht hatte.

"Rochel hat dich mit Absicht aufgewählt. Es war nicht das Schicksal oder Zufall oder dieser blaue Zauber. Es war Rochel, weil sie von Anfang an diesen Plan verfolgt hat. Das, was du deine Bestimmung nennst könnte alles eine Täuschung sein."

Ich verstand wirklich, dass Lano so blind war. Sein gesamtes Leben hat er von allen Seiten gehört, wie wunderbar das System sei. Vielleicht war es das sogar irgendwie auch. Aber man durfte nicht ignorieren, welche negativen Seiten es hatte. Oder welche Methoden die Gerichtsengel benutzen, um Macht und Kontrolle im Namen des Systems zu erhalten. Man durfte diese Unterdrückung nicht ignorieren.

"Lano, ich werde gehen. Und du kannst mich nicht daran hindern."

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