(40) virago
Virago: a strong, brave, or warlike woman; a woman who demonstrates exemplary and heroic qualities
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- Virago, vor sechs Stunden -
Ich erwachte. Ich riss meine Augen auf. Ich zischte vor Schmerz.
Mein Kopf dröhnte. Mein Körper brannte.
Ich stand auf, taumelte, fiel zu Boden.
Schmerz durchfuhr meinen Kopf. Noch nie hatte ich solche Kopfschmerzen erlebt.
Schmerz. Flashbacks. Schmerz.
Es überkam mich alles viel, viel zu schnell. Bilder. Gedanken. Erinnerungen.
Ich rappelte mich auf, versuchte meine Atmung zu beruhigen. Die Luft wollte nicht mehr heraus oder herein, mir wurde schlecht und schwindelig. Atmen, ein und aus.
Völlig durchnässt von plötzlichem Schweißausbruch taumelte ich ins Badezimmer. Mein Rücken schmerzte. Mein Kopf explodierte. Gott, schmerzte das.
Zitternd machte ich den Wasserhahn an, füllte meine Hände mit dem eisig kalten Wasser und vergrub mein Gesicht darin. Nahm es wieder heraus. Wasser.
Mein Rücken brannte. Alles brannte. Feuer.
Ich riss meine Klamotten von mir, stellte mich unter die Dusche, ließ kaltes Wasser über meinen Körper laufen.
Mama.
Meine Lungen waren nicht in der Lage, ordentlich zu atmen. Ich hatte zu viel Sauerstoff, mir fehlte Sauerstoff. Was war hier los?
Schwarze Punkte tanzten vor meinen Augen, das Rauschen des Wassers verwandelte sich in einen dumpfen, einvernehmenden Ton. Ich sank zu Boden.
Ein Gerichtssaal. Schreie. Meine Schreie.
Ich schloss die Augen, als mich alles einholte. Es war zu viel auf einmal, mein Kopf dröhnte.
Federn, Flügel.
Nackt taumelte ich aus der Dusche. Ich stand vor dem Spiegel, starrte in meine furchtbar weit aufgerissenen, schreckerfüllten Augen.
Drehte mich um, verdrehte meinen Kopf dabei, noch immer in den Spiegel schauend.
Ich schrie. Schrie und schlug auf den Spiegel ein. Tausend Glassplitter platzten hervor, schnitten mir ins Fleisch. Tränen rannten mir über die Wangen, als ich meine blutigen Hände um mich schlug.
Narben. Risse. Zwei lange Risse auf meinen Schulterblättern.
Ich schrie. Dann wurde alles schwarz.
***
- Virago, vor fünf Jahren und einhundertdreißig Tagen -
"Du bist Virago, richtig?", fragte Richter Ahadiel mich.
Er lächelte. Er schien freundlich zu sein, aber trotzdem hatte ich Angst. Wo war meine Mama? Wo war mein Papa?
"Ja", brachte ich hervor. Ich saß auf einem Holzstuhl in einem Raum. Der Engel vor mir saß an einer Art Podest oder so, einem höheren Platz als meinem. Ich mochte es nicht, dass er von weiter oben auf mich runtersah.
"Was weißt du von deiner Mutter und deinem Vater? Haben sie mal irgendwas gesagt, was dir vielleicht komisch vorgekommen ist?"
In mir verhärtete sich alles. Ich durfte nicht darüber reden und ich würde auch nicht. "Ich weiß nicht."
"Bist du dir da sicher, Liebes?", fragte Ahadiel, nun noch etwas mehr lächelnd. "Du brauchst keine Angst haben. Wir wollen euch helfen. Aber dazu müssen wir wissen, was genau passiert ist."
"Ich weiß es aber nicht", sagte ich. Ich wollte nicht hier sein. Hier gefiel es mir nicht.
Er stellte mir noch ein paar Fragen, aber ich antwortete nicht oder hörte nicht zu. Ich wagte mich nicht einmal, über irgendwas nachzudenken, was passiert war.
"Okay, wir machen eine Pause", beschloss der Richter. Ich konnte erkennen, dass er müde und ungeduldig war.
Erleichtert stürmte ich aus dem Raum und fühlte mich sofort besser. Eine Engelin mit strahlend weißen Flügeln und Goldtönen an den Spitzen kam auf mich zu. "Na, Süße? Möchtest du einen Himmelbeerensaft?"
Zuerst wollte ich ablehnen, aber dann überlegte ich genauer. "Ja, bitte. Wäre es auch möglich, dass Sie mir etwas zu Essen bringen?", lächelte ich höflich. Der Engel nickte und verschwand aus dem Wartezimmer. Niemand war mehr hier.
Wo waren meine Eltern? Leise öffnete ich die Tür zum Gerichtsraum. Er war leer. Auf Zehenspitzen tapste ich zum Podest. Hinter der Erhöhung war eine Tür. Ängstlich, aber auch entschlossen öffnete ich sie und schlich den Gang entlang, der sich vor mir auftat.
Es war dunkel, aber nicht zu dunkel für meine Augen. Ich war stolz darauf, dass ich noch viel besser ohne Licht sehen konnte als die anderen Kinder.
Bald schon hörte ich Stimmen. Zuerst konnte ich keine Worte ausmachen. Ich schlich noch näher heran, bis ich Ahadiel deutlich hören konnte.
"Sie wird nichts verraten. Aber sie weiß etwas", sagte er und klang zornig dabei. Sie redeten über mich?
"Und was schlägst du jetzt vor, Ahadiel? Sie ist zu jung, um sie zu verurteilen", meinte jemand anders.
"Das ist ein Problem. Die anderen waren alt genug um sie einzusperren", überlegte Ahadiel. Nein. Ich hatte es geahnt, aber auf etwas anderes gehofft. Sie hatten meine Eltern ins Gefängnis gesteckt. Tränen brannten in meinen Augen. Sei stark, Virago. Nicht weinen, nicht jetzt.
"Was, wenn sie irgendwas anstellt? Keine Ahnung, was ihre Eltern ihr da eingeprägt haben. Wahrscheinlich hat sie eine Gehirnwäsche bekommen oder so. Sie ist eine Gefahr für das System", wütete eine weitere Stimme.
"Quatsch!", meldete sich eine weibliche Stimme. "Sie ist noch so jung. Vielleicht versteht sie das alles nicht einmal. Wir schicken sie einfach auf eine besondere Schule und lassen sie überwachen."
"Das ist zu riskant", sagte Ahadiel, entschlossen.
In diesem Moment wollte ich umkehren. Wer weiß, wie lange die Engelin für den Saft und das Essen brauchen würde. Aber ich konnte nicht. Ich stand hier, lauschend, voller Angst. Konnte mich nicht bewegen. Was hatten die mit mir vor?
"Ich habe einen Plan", verriet der Richter. Einen Plan?
"Sie kann nicht unter uns Engeln bleiben. Aber- Rochel, beruhige dich, sieh mich nicht so an, warte ab. Wir können sie nicht ins Gefängnis stecken oder anderweitig verurteilen. Aber wir können ihr ein anderes Leben ermöglichen."
Stille. Ein anderes Leben?
"Ist das dein Ernst?", wurde die weibliche Stimme laut. Rochel wahrscheinlich.
"Wir nehmen ihr die Erinnerungen und Flügel und ermöglichen ihr ein Leben als Mensch. Ich finde das ziemlich großzügig."
"Ich auch", stimmte ihm eine andere weibliche Stimme zu. Ein paar andere brummten zustimmend, während ich hier stand und mein Verstand einen Moment brauchte, um das alles zu verarbeiten.
"Großzügig? Ahadiel, das geht nicht. Wir können ihr nicht ihre Existenz nehmen!", protestierte Rochel. Mir wurde schlecht und ich bemerkte, dass ich weinte.
Was passierte dann mit Taha?
"Süße, was machst du denn hier?", ich schreckte auf und drehte mich um. Da erkannte die Engelin wohl, dass ich garnicht hier sein durfte. Ihr entglitten alle Gesichtszüge, als sie weiter den Gang hinabsah, noch immer den Saft und ein geschmiertes Sandwich in den Händen.
Auch ich wandte mich um. Ahadiel stand vor uns und ich glaubte, dass ich noch nie eine solche Angst hatte. Von seinem Lächeln war nichts mehr zu sehen. Auch die anderen Engel folgten ihm nun und starrten mich an, als sie mich erblickten.
Ahadiel trat vor und zog den Saft-Engel zur Seite. Ihr Gesicht wurde blass, als der Richter ihr etwas ins Ohr zischte. Dann nickte sie und verschwand so schnell, wie sie gekommen war.
Mit heftig klopfendem Herzen sah ich zu den erwachsenen Engeln hoch. Hieß das, dass ich meine Eltern nie wieder sehen würde? Das sie mir meine Flügel nehmen würden?
Ich weinte nun laut, schluchzte. Es brachte nichts mehr, stark zu sein. Das spürte ich.
"Komm mit", bellte Ahadiel nun und packte mich grob am Oberarm. Ich weinte noch mehr. Das tat weh.
"Hör auf!", stürzte ein weiblicher Engel nun vor, sodass der Richter von mir losließ. Sie beugte sich herunter, sodass wir uns auf Augenhöhe befanden. "Ich bin Rochel, Kleines. Hab keine Angst. Du musst leider mit uns mitkommen. Ich weiß, das ist nicht schön", sagte sie mitfühlend.
Ihr Lächeln erinnerte mich an das meiner Mutter. Rochels Augen waren strahlend türkisfarben, ihre Flügel unglaublich riesig.
Ich sah sie an, mit tränenverschwommener Sicht. Sie nahm mich in den Arm, während ich noch mehr weinte.
"Das reicht. Kommt jetzt, wir haben heute auch noch andere Sachen zutun", meldete sich Ahadiel. Seine Stimme klang eisig kalt.
Zitternd folgte ich den Engeln, dicht neben Rochel gehend. Als sie während des Gehens auf mich heruntersah, erschien mir ein Bild vor meinem inneren Auge. Es brannte sich in mein Gehirn, während ich verwirrt zu ihr hochsah.
Wir kamen in einem dunklen Raum an. Es war kalt, die nassen Spuren in meinem Gesicht schienen einzufrieren.
Da realisierte ich es. Sie würden mir meine Flügel nehmen. Ich würde meine Eltern nie wiedersehen. Meine Freunde. Taha.
"Nein!", schrie ich. Ich wirbelte herum, hob in die Luft ab. Suchte einen Ausgang. Ich wollte meine Flügel nicht verlieren. Ich wollte mich nicht verlieren.
"Kind, komm da runter!", bellte Ahadiel zornig und erhob sich ebenfalls in die Luft.
"Nein!", schrie ich, weinte ich. Und dann spürte ich einen harten Schlag an meinem Kopf. Mir wurde schwarz vor Augen.
"Ahadiel!", rief jemand erschrocken von irgendeiner Seite. Aber es war zu spät.
Mit einem dumpfen Geräusch schlug mein Körper auf dem Boden auf. Schmerz. Mein Kopf dröhnte.
Schmerz.
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