(35) the fall feels like flying
And you promise yourself
that you will never fall so hard again,
until you meet someone
who makes the fall feels like flying.
-Nikita Gill
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- Hiraeth, jetzt -
Lano setzte sich neben mich und wir saßen schweigend über der Stadt.
Ich verlor das Zeitgefühl darüber, wie viele Minuten wir in unseren Gedanken versanken.
Es zog ein plötzlicher, eisiger Wind auf. Ich schauderte, Lano bemerkte es und sah mich an. "Wollen wir zurückfliegen?"
Wollte ich das? Am liebsten wollte ich noch länger hierbleiben, aber ich freute mich auch darauf, nochmal zu fliegen und mich nachher in das warme Bett legen zu können.
Also stand ich auf, sah nochmal nach unten und fragte mich aus heiterem Himmel, wie sich der Adrenalinrausch anfühlen würde, wenn ich jetzt springen würde.
Ich hatte keine Angst. Keine Angst wie damals, weil ich wusste, dass mich jemand fangen würde.
Lano war aufgestanden und blickte mich an. Ich sah zurück.
Und dann ließ ich mich fallen.
"Hira!"
Der Wind zerrte an mir, an meiner Kleidung, an meinem Körper. Ein leichtes, gleichzeitig bedrückendes Gefühl schoss in meinen Magen. Ich spürte, wie die Schwerkraft mich erbarmungslos Richtung Boden riss. Es ging alles viel zu schnell.
Dann war Lano da, fing mich auf, seine Arme krallten sich beinahe schmerzhaft um mich. Er drücke mich an sich, drückte mir fast die Luft weg.
Adrenalin und Euphorie und Dopamin durchfuhr meinen gesamten Körper, bevor ich das alles überhaupt realisieren konnte.
Die Arme des Engels schlangen sich noch mehr um mich, mein Gesicht fand sich in Lanos warmem Nacken wieder, während wir durch die Luft wirbelten. Ich riss die Augen noch weiter auf, die starken, weißen Flügel vor mir betrachtend, wie sie kräftig aufschlugen, um uns beide ins Gleichgewicht zu bringen.
Ich ignorierte, dass er mir fast die Luft zum atmen nahm. Er klammerte sich an mich, als wäre ich das letzte, was ihm auf dieser Welt etwas bedeutete. Unsere Körper pressten sich aneinander. Meine Lippen öffneten sich ein winziges Stück, berührten die glühende Haut an Lanos Nacken, ganz federleicht.
Sein Körper spannte sich noch mehr an. Einer seiner Hände legte sich an meinen Hinterkopf, hielt mich, schützte mich. Mein Magen erlebte eine schwindelreiche Achterbahnfahrt, bis wir unser Gleichgewicht gefunden hatten und ruhig in der Luft schwebten.
Der Druck auf meinen Lungen verschwand, als Lano sich etwas weniger an mich presste und ich wieder normal atmen konnte. Unabsichtlich nahm ich erleichtert einen tiefen Luftzug und ließ ihn wieder hinaus, genau in Lanos Nacken. Sein fester Griff an meinem Hinterkopf schien nun noch stärker zu werden, seine Hand verkrampfte sich beinahe in meinen Haaren.
"Tu das nie wieder", stieß er hervor.
"In deinen Nacken atmen?"
"Einfach irgendwo runterzuspringen, du vollkommener Vollidiot!"
Die Erkenntnis traf mich mit einem heftigen Schlag, wie ein Eimer eiskaltes Wasser, das auf mich geschüttet wurde.
Ich hatte gewusst, dass er mich auffangen würde. Schluckend drückte ich meinen Kopf zurück und Lanos Griff ließ nach. Schwer atmend sah ich meinem Schutzengel in die Augen. Unsere Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt.
Ich vertraute Lano.
Lano war die erste und einzige Person in meinen Erinnerungen, der ich vertraute. Wirklich vertraute. Nicht nur mit meinem Leben, welches mir sowieso noch nie so viel bedeutet hatte. Sondern auch mit meinen Gefühlen und Gedanken.
Mir war gar nicht aufgefallen, wie viel ich ihm von meinen inneren Vorgängen eigentlich schon preisgegeben hatte. Und wenn ich so darüber nachdachte, dann würde ich ihm in diesem Moment auch alles andere erzählen.
Für einen winzigen Moment dachte ich, Lano würde mich küssen. Die Zeit schien still zu stehen, als er mich anstarrte und wahrscheinlich fühlen konnte, was ich gerade für ihn empfand. Doch dann schlang er einen Arm unter meine Kniekehle, die andere um meinen Rücken. Er wandte den Blick ab und wortlos flogen wir durch die Nacht zurück.
*
Wir kletterten durch das Fenster und über mein Bett genau darunter wieder hinein. Ich schaltete das Licht an. Unbehaglich stand ich im Raum, sah meinen Schutzengel an. Ich konnte überhaupt nicht einschätzen, was er gerade fühlen oder denken könnte.
Er stand irgendwie stocksteif dort vor dem Bett und starrte aus dem Fenster, welches er soeben geschlossen hatte. Seine Flügel waren ausgebreitet, was darauf hindeutete, dass er sich nicht ganz so entspannt fühlte. Aber das konnte ich ihm auch nicht verdenken.
"Ich.. bin kurz im Bad", meinte ich, weil ich irgendwie kurz Abstand von dieser Situation nehmen wollte, außerdem überkam mich der Anflug eines schlechten Gewissens, wenn ich ihn weiterhin so ansah. Seufzend zog ich die Badezimmertür auf.
Ich spürte einen scharfen Luftzug und schreckte auf, als Lano wie aus dem Nichts plötzlich mit Blitzgeschwindigkeit neben mir stand.
Ich konnte nicht bestimmen, wer wen zuerst küsste. Unsere Lippen krachten einfach aufeinander, wie zwei Magnete, als wäre es einfach unumgänglich, unverhinderbar.
Seine Hände an meinem Hinterkopf und Rücken drückten mich näher an ihn, während ich meine Finger um seine Schulterblätter legte, genau über der Stelle, wo seine Flügel seine Haut verließen. Langsam fuhr ich näher zu der Stelle, befühlte den Übergang zwischen Haut und Federn.
Lano stieß einen schnellen Atemzug aus. Ich spürte, wie sich seine Arme und alle Muskeln noch mehr anspannten, wenn das überhaupt noch möglich war.
Das Gefühl, was ich verspürte, war noch belebender als sich von einem Gebäude hinunter zu stürzen. Es durchfuhr meinen gesamten Körper, verschlug alle Gedanken aus meinem Kopf. Mein Körper übernahm die Kontrolle, als ich mich an den Engel presste.
Lanos feuchte Lippen drückten sanft und gleichzeitig hart auf meine, genüsslich und sehnsüchtig. Mein Mund öffnete sich ein kleines Stück, während wir uns küssten, als wäre der jeweils andere das letzte bisschen Sauerstoff auf dieser Erde, den wir zum atmen brauchten.
Das hier, war mein fliegen. Das hier war, wie ich fliegen konnte. Fliegen fühlte sich an, wie Lano zu küssen.
Ich löste mich von ihm, küsste seine Wange, die Linie um seinen Kiefer herum, seinen Hals und seinen Nacken, während er mit einer Hand an meine Taille fasste und mich näher an sich zog.
Die unglaublich starke Lust auf mehr überrollte mich heftig und erhitzte meinen Körper.
Meine Hände erkundeten Lanos starke, muskulöse Arme. Meine Lippen setzten feuchte, harte Küsse hinter sein Ohr und seinen Nacken, bis ihm ein tiefes Stöhnen entfloh.
Und dann hörte ich das Krachen von Holz.
Erschrocken schlugen wir beide die Augen auf. Ich blickte in das gewohnte, wunderschöne, helle Blau. Dann sah ich zu meiner rechten Seite und realisierte, dass Lanos Hand die Seite der Holztür zerschmettert hatte.
Verwirrt entfernte ich mich ein kleines Stück. Seine Hand um den Türrand hatte das dicke Holz zerschmettert, einfach so. Oh Gott, es mussten doch hundert Holzsplitter in seiner Haut stecken.
Mein Blick schoss zu Lano zurück, doch seine Augen waren geschlossen.
"Bist du okay?", flüsterte ich nach ein paar Sekunden, atemlos.
"Ja", antwortete er, die Augen nicht öffnend.
Schließlich entfernte ich mich noch ein paar Zentimeter. Lano nahm seine Hand von der Tür, blickte das eingebrochene Holz an.
"Entschuldigung", sagte er dann.
Ich betrachtete seine Hand voller Holzsplitter, dann schoss mein Blick zu seinem Gesicht zurück.
Und dann begriff ich, dass seine Gefühle ihn momentan zerreißen mussten. Lust und Schuld. Schuld nicht nur, weil das, was wir taten, verboten war. Gegen Lanos System war.
Lano hatte auch eine Freundin. Warum küsste er mich also, nochmal? Ich fühlte mich grausam. Schon immer hatte ich so etwas gehasst. Ich sollte niemanden küssen, von dem ich wusste, dass jemand ihn so liebte. Das er jemanden hatte, der auf ihn wartete. Ich fand, dass wir Mädels zusammenhalten sollten. Ich weiß, es waren immer zwei dran Schuld. Lano wohl am meisten. Trotzdem fühlte ich mich grausam.
Das schlechte Gewissen sorgte dafür, dass ich noch zwei Schritte zurückwich.
Lano beobachtete mich aufmerksam. Seinen Gesichtsausdruck konnte ich kaum deuten.
"Mach dir keine Sorgen. Es war eine Lüge", sagte er dann.
Meine Augenbrauen zogen sich zusammen, verwirrt, ungläubig.
"Ich habe keine Freundin. Ich habe gelogen, Hira."
Und dann verließ er den Raum, schloss die Zimmertür hinter sich.
Für eine lange Zeit stand ich regungslos alleine in meinem Zimmer, überrumpelt und überfordert von verschiedensten Gedanken und Gefühlen.
Ich konnte das Gefühl nicht loswerden, dass dieser kurze Flug soeben in einer Bruchlandung geendet war.
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