(34) you made it through

Scream it louder
than your voice can handle
because you are free
and you made it through.
- Seeker
___________

- Hiraeth, jetzt -

Als ich am nächsten Morgen meine Augen öffnete, fühlte ich mich erst ein wenig orientierungslos. Dann sah ich mich im Zimmer um und dachte an den gestrigen Abend.

Ich bemerkte die Decke auf mir. War ich gestern einfach so eingeschlafen? Und Lano hatte mich auch noch zugedeckt?

Als ich aufstand stellte sich heraus, dass er sogar den Tisch, auf dem wir gegessen hatten, komplett ab- und aufgeräumt hatte.

Himmel, hätte ich jetzt gerne einen Kaffee.

Ich verschwand im Bad, nahm eine wunderbare, lange Dusche, machte mich anderweitig fertig und ging dann wieder ins Zimmer zurück.

Auf dem Esstisch stand ein Teller mit einem Croissant und Obst, daneben eine Tasse mit heiß dampfendem Kaffee. Außerdem lag dort noch ein kleiner Stapel mit Büchern, auf dem sich ein Zettel mit ordentlicher, leicht schwunghafter Handschrift befand.

Guten Morgen, Hira. Ich muss leider etwas erledigen, bin aber heute Nachmittag wieder da. Habe mir aus der Bibliothek hier ein paar Bücher geliehen, vielleicht findest du sie ja interessant. Bis später.
Lano

Ungläubig blickte ich auf die Bücher. Es war englische Poesie dabei, ein Buch über die Geschichte der Engel, ein Sachbuch über Fabelwesen und ein spannend klingender Roman.

Das Croissant war noch warm.

Das war doch ein Witz.

Ich begegnete so einem tollen Typen. Und dann konnte ich ihn nicht mal haben, wie sehr hasste mich das Schicksal eigentlich?

Plötzlich sank ich auf einen Stuhl und erinnerte mich an unseren Kuss. Eine Erinnerung, die ich bis jetzt ganz gut verdrängt hatte. Irgendwie wollte ich, dass es wieder geschah. Ich hatte mich noch nie bei jemandem so geborgen gefühlt. Auch wenn meine Welt, so wie ich sie kannte, in tausend Stücke gebrochen war, so fühlte ich mich irgendwie dennoch so ganz.

Ich nahm einen vorsichtigen Schluck von dem wunderbar schmeckenden, koffeinhaltigen Getränk und sah aus dem Fenster. Ob Lano zu seiner Freundin in die Akademie flog? Ein Stich von Eifersucht überkam mich, so klar und deutlich, dass ich erschrocken aufstand.

Eine meiner Hände fuhr an meinen Kopf, raufte mir verzweifelt und schockiert die Haare. Leicht durcheinander schloss ich die Augen und atmete durch. Hira, beruhige dich. Er wird es spüren können, wenn du weiterhin so einen Schwachsinn fühlst.

Somit versuchte ich, dieses plötzlich aufgetretene Gefühlschaos zu ignorieren, nahm mir die Bücher, den Kaffee und das Essen, legte mich ins Bett und genoss ein paar ruhige Stunden, in denen ich begierig die Worte der Seiten einsog, während warmes Sonnenlicht durch das Fenster fiel.

*

Zwei weitere Tage verbrachten wir dort. Tage, an denen Lano erst Abends wieder zurückkehrte.

Er erzählte mir, dass er zusammen mit Rochel, dieser Engelfrau, die uns hier aufgenommen hatte, herauszufinden versuchte, was der Grund für das seltsame Verhalten der magischen Wesen war.

Ich wusste, dass das alles meiner Sicherheit diente und vor allem der Sicherheit vieler anderer Menschen und unbetroffenen magischen Wesen. Deshalb verbrachte ich die Zeit ohne Widerworte alleine in dem Zimmer, welches ich nicht einmal verlassen durfte.

Ich sehnte mich danach, meine Freunde Miles, Caro und Liam wieder zu sehen. Es sagte schon etwas über mich aus, dass ich sie eigentlich am stärksten vermisste wenn ich einsam und mir langweilig war. Aber naja, wir hatten uns immer zusammen die Zeit vertrieben, deshalb fehlten sie mir in diesen Momenten wahrscheinlich so.

Jeden Abend, an dem Lano wieder zurückkehrte schien er etwas frustrierter zu werden. Ich bemerkte aus dem Augenwinkel, wie er mich manchmal ansah. Mit diesem bestimmten Blick, der irgendwas zwischen Bedauern, Verzweiflung und tiefe Nachdenklichkeit ausdrückte.

Außerdem ließ er mich heute Abend komplett in meinem Zimmer alleine und das passte mir gar nicht.

Ohne zu zögern ging ich zur Tür und öffnete diese vorsichtig. Ich steckte meinen Kopf daraus und ging sicher, dass sich niemand auf dem Gang befand. Dann tapste ich die drei Schritte zur gegenüberliegenden Tür und klopfte an.

Nicht viel später öffnete Lano und winkte mich schnell hinein. Er ging sicher, dass mich niemand gesehen hatte und schloss sogleich die Tür. Als er mich ansah bemerkte ich, dass seine Haare noch feucht waren.

"Was ist das schwerste, was du je getan hast?", fragte ich ohne Umschweife.

Daraufhin schienen Lanos Gedanken abzuschweifen und ich beobachtete, wie er über eine Antwort auf diese Frage nachdachte.

"Ich weiß es nicht", gab er dann zu, mich wieder ansehend. "Ja, ich auch nicht", log ich schließlich.

"Lano, wusstest du, dass du schöne Augen hast?"

"Was willst du, Hira?", lachte Lano, sich lässig mit verschränkten Armen gegen die Wand lehnend. Mein Herz klopfte schneller bei seiner Frage, seinem Lachen und auch bei seiner selbstbewussten Körperhaltung.

"Können wir einen Ausflug machen?", platzte es dann aus mir heraus.

"Du machst doch gerade einen Ausflug in mein Zimmer, reicht das nicht?"

"Du meinst die drei Schritte, die unsere Zimmer voneinander entfernt sind?", spottete ich grinsend.

"Genau die meine ich. Das war doch wohl nervenaufreibend genug. Was wenn dich jemand gesehen hat? Ich weiß ja nichtmal, ob ich dich den Weg gleich wieder zurückgehen lassen kann", grinste er zurück.

Dann tu es nicht, dachte ich verstohlen. "Ich möchte nochmal fliegen, Lano", gab ich zu. Tatsächlich vermisste ich das atemberaubende Gefühl von Höhe und Freiheit.

Ich sah, wie sich der Ausdruck im Gesicht meines Schutzengels etwas veränderte. Er wurde.. weicher. Dann konnte ich beobachten, wie er leise seufzte und ich jubelte beinahe laut auf. Er hatte nachgegeben.

"Also gut. Geh dir was warmes anziehen, ich bin in zehn Minuten in deinem Zimmer. Du hast Glück, dass es schon dunkel ist."

"Danke, Lano", rief ich strahlend und schlich mich wieder in mein Zimmer hinein. Voller Vorfreude schnappte ich mir warme Kleidung und zog sie über. Wir würden wieder fliegen. Beim Gedanken daran bemerkte ich, wie sehr ich das wohl tatsächlich vermisst hatte.

Lano betrat nach wenigen Minuten den Raum. Auch er hatte sich umgezogen. Er nahm mich in seine Arme auf, öffnete mit einer Hand das Fenster, wir flogen hinaus und er lehnte es wieder an.

Und dann rauschten wir in die Dunkelheit hinab. Der Wind streichelte mein Gesicht. Ich konnte praktisch spüren, wie Lanos starke Flügel schlugen, um uns in der Höhe zu halten. Aufgrund der kalten Luft bekam ich Gänsehaut auf dem ganzen Körper, sogar auf den Wangen und ich schauderte.

"Ich habe den Unsichtbarkeitszauber um mich gelegt", begann Lano schließlich zu erklären. "Solange ich dich berühre, bist auch du unsichtbar für Wesen aus der Menschenwelt."

"Verstehe", antwortete ich, weiterhin nach unten blickend. Wir erreichten die Stadt, welche man schon aus einiger Entfernung am Horizont hatte sehen können.

Ich war noch nie in einem Flugzeug geflogen. Aber wenn man damit über eine dicht besidelte Stadt flog, dann musste die Aussicht wahrscheinlich fast genauso aussehen, nur aus weiterter Entfernung.

Die funkelnden Lichter unter dem dunklen Himmel waren atemberaubend. Schon nach kurzer Zeit steuerte Lano auf ein riesiges, gläsernes Gebäude zu und setzte mich auf einer Art Balkon ab.

Ich saß dort und blickte auf die Stadt hinab, während sich Lano entfernte, um die unmittelbare Gegend auf Gefahren abzusuchen.

Ruhig atmete ich durch. Ich hatte keine Angst, dass ich hinunterfallen könnte, so ganz ohne Sicherung. Naja, wenn etwas passieren würde, wäre Lano sowieso in der nächsten Sekunde bei mir.

Es war wunderbar. Es war gerade alles so wunderbar. Dieses Gefühl war überwältigend, weil ich es noch nie gespürt hatte.

Noch nie war ich so bedingungslos zufrieden gewesen. Ich war frei. Ich war frei dafür, ich zu sein. Frei von diesen Städten aus scharfem Plastik, an denen ich mich immer geschnitten hatte. Frei von Menschen aus Stein, an denen ich meine Wärme verloren hatte. Noch nie hatte ich mich mehr wie ich gefühlt.

Ich sah hinunter und erinnerte mich an Zeiten, bei denen ich gerne gesprungen wäre.

Wahrscheinlich war dies das schwerste, was ich jemals beinahe getan hatte.

Und jetzt saß ich hier und war dankbar, wirklich dankbar für meine letzten Kräfte, die mich daran gehindert hatten. Denn sonst hätte ich den Moment verpasst, wo ich in dieser Höhe saß, diese Aussicht und vorallem mein Leben genoss, anstatt ihm ein Ende setzen zu wollen.

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