(16) all the chaos

There wasn't a predictable thing about her, it was all the chaos
that made her interesting.
- Atticus

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-Lanohiah, jetzt-

Ein paar Tage waren vergangen. Tage voller Zweifel und Sorgen und das Gefühl, etwas sehr Falsches zu fühlen. Irgendwann fragte ich mich, wie Gefühle überhaupt verboten sein können. Aber es machte keinen Sinn, darüber nachzudenken, denn die Antwort wusste ich bereits.

Unser System schrieb es vor. Die Gesetze schrieben es vor. Ich kannte kein Gesetz, welches dagegen sprach, dass ein Engel eine menschliche junge Frau lieben könne. Aber es war uns strengstens verboten, uns Menschen überhaupt zu zeigen. Die Strafe dafür kannte ich. Und ich wollte nicht mein ganzes Leben im Gefängnis zu verbringen.

Gesellschaftlich war es wahrscheinlich fast genauso schlimm. Ich hatte noch nie von einer Beziehung zwischen einem Menschen und einem Engel gehört. Es wäre unnormal. Gegen die Natur. Gegen alle Strukturen dieser Welt.

Und trotzdem konnte ich nicht aufhören, über diesen Gefühlsfunken in mir nachzudenken.

Als bloßen Schützerinstinkt oder Liebe zu seinem Schützling konnte man das nicht mehr bezeichnen. Es war mehr. Ich wollte Hira. Und ich konnte nicht.

Wütend raufte ich mir die Haare. Ich war in Hiras Zimmer und sah ihr beim Lesen zu. Obwohl ich mich damit nur quälte, wollte ich einfach bei ihr sein. Was zum Teufel war los mit mir?

Ich nahm Platz neben ihrem Bett und blickte sie an. Ihr Handy vibrierte. Als ich darauf sah, zeigte es den Namen Liam. Mein Blick schoss zurück zu Hira, welche das Handy nun seufzend in die Hände nahm und es anstarrte.

Wut überkam mich. Einerseits fand ich, dass dieser Idiot hier aufkreuzen und sie persönlich trösten und aufheitern sollte, andererseits war ich so selbstsüchtig, es doch nicht zu wollen. Ich war ihr Schutzengel, verdammt nochmal. Ich sollte derjenige sein, der sie beschützt und tröstet und aufheitert.

Hira drückte den Anruf weg, legte sich auf den Rücken. Ich blickte ihr in die warmen Augen, während sie über sich an die Decke starrte.

Und dann übernahm mein Körper die Kontrolle. Ich streckte meine Hand aus und legte sie auf ihre Hand. Neugierig fixierte ich das Mädchen vor mir, beobachtete jeden ihrer Gesichtszüge und wartete auf eine Regung in ihrem Gesicht.

Ich spürte nichts, keine Wärme. Mein Verbergungszauber ließ es nicht zu. Aber Hira spürte es.

Sie streckte die Hand nach oben, beugte die Finger, schloss die Augen. Mein Atem stockte, als ich ihren Arm mit den Fingerspitzen entlangfuhr, über ihre Fingerknöchel, bis hin zu den Spitzen ihrer Finger.

Ein Moment, den es so nie geben dürfte. So nie geben konnte. Ein Moment, in welchem mir der Atem weggblieb und ich mich kein Geräusch zu machen wagte.

Hira öffnete die Augen, ließ die Hand sinken und der Moment war vorbei.

*

Kev drängte mich tagtäglich dazu, den Fall Hira einfach irgendwie loszuwerden. Genau das wollte ich auch. Aber ich konnte einfach nicht. Es wäre unertragbar, wenn ihr nur aufgrund meiner Gefühle für sie letzendlich etwas passieren könnte.

Ich hatte eine Verantwortung zu tragen. Nicht nur dafür, sie auch wirklich nur als einen Schützling zu sehen. Sondern auch alles zu geben, um sie vor bevorstehendem Unheil zu bewahren.

*

Und dann kam der Tag, an dem das bevorstehende Unheil in unmittelbarer Nähe war.

Ich befand mich mit den Anderen in einem Versammlungsraum. Sealiah, die Leiterin der Akademie, hatte uns gebeten, uns dort einzufinden. Kev, Kaliel und ich hatten uns auf den Weg gemacht, in die dritte Reihe gesetzt und warteten nun, während sich Kev beschwerte, dass ihm das alles hier zu langweilig sei.

Kaliel war momentan sowieso mit ihren Gedanken wo anders. Gesten war sie von ihrer Reise zu Rochel zurückgekehrt. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es sein musste, den blauen Zauber wieder entfernt zu bekommen, den uns Rochel ganz zu Anfang eingesetzt hatte. Der dafür sorgte, in die Gefühlswelt unseres Schützlings blicken zu können.

Es musste so sein, als entferne man einen Teil von sich, der nur für einen bestimmten Menschen gedacht war.

Sealiah betrat den Saal und ihr autoritäres Auftreten mit ihren riesigen, mächtigen Flügeln sorgte dafür, dass augenblicklich Ruhe unter den Anwesenden herrschte.

"Guten Tag, vielen Dank für Ihr Erscheinen. Liebe Lehrer, liebe Leiter, liebe Schutzengel und Auszubildende, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass der Angriff von letzter Woche wohl kein Zufall war."

Die Ruhe wurde durch zahlreiches Flüstern und Tuscheln unterbrochen, doch Sealiah räusperte sich und ließ sich nicht beirren. "Diese seltsamen Verhaltensweisen und Vorfälle häufen sich in der letzten Zeit zunehmlich. Es ist unsere Pflicht, diese Situation wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Anscheinend gefährden einige Wesen sogar die Menschenwelt. Sie dringen in ihre Gebiete ein, zeigen sich ihnen, entführen und verletzen sie. Das oberste Gericht hat einige Maßnahmen angeordnet."

Die Akademieleiterin legte eine Pause zwischen ihren Worten ein, damit ihre Zuhörer diese erst einmal begreifen konnten. Worte, mit denen ich bereits vor Tagen gerechnet hatte. Die endlich einmal erkannt und ausgesprochen wurden.

"Der Unterricht der Auszubildenden wird auf ein Minimum beschränkt. Stattdessen bilden wir Gruppen, welche bestimmte Gebiete kontrollieren und zur Not alle dieser Wesen eliminieren. Das oberste Gericht bemüht sich währenddessen um Antworten auf alle Fragen, sowie eine mögliche langfristige Lösung."

Wir sollten alle dieser Wesen eliminieren? Bis das Gericht herausgefunden hatte, was los war?

"Im Moment ist davon auszugehen, dass es auch magische Wesen gibt, die nach etwas zu suchen scheinen. Die Zahl der Sichtungen der Wesen häufen sich in diesem Gebiet." Der weibliche Engel zeigte auf eine Stadt, die hinter ihr an die Wand projiziert wurde. "Einige hier in diesem Waldgebiet, andere aber auch mitten in der Stadt. Haben Sie also hier besonders große Vorsicht. Mehr können wir Ihnen momentan leider auch nicht sagen", erklärte Sealiah uns mit lauter, standfester Stimme.

Mit gerunzelter Stirn betrachtete ich die Karte. Riss die Augen auf. War das möglich?

"Genauere Informationen über die Einteilung und die Aufgaben der jeweiligen Gruppen erhalten Sie im weiteren Verlauf des Tages. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit."

Sealiah verließ den Saal und ließ die meisten hier verwirrt und nachdenklich zurück. Es war eine Bedrohung für das System und die Ordnung der Welt- zumindest ansatzweise. So etwas lag mehrere Jahre zurück. Doch damals kam die Bedrohung nicht von außen, sondern von innen. Von verräterischen Engeln. Jetzt stellte sich die Frage, was von beidem wohl leichter zu kontrollieren war.

Als auch wir den Saal schließlich verließen, war ich tief in Gedanken versunken. Gefährliche magische Wesen drangen in menschliche Gebiete vor. In Hiras menschliches Gebiet. Eine Geistergestalt beobachtete Hira im Park. Es war meine Aufgabe, sie vor bevorstehenden Gefahren zu beschützen.

Es wurde mir klar, als fiele eine Wand vor meinen Augen herunter, als bröckle sie und legte die Lösung und meine Bestimmung für Hira frei.

Man nenne es Intuition. Man nenne es einen neuen Sinn, der sich mit dem blauen Zauber tief in meiner Brust freigelegt hatte. Oder man nenne es den Zauber selbst, welcher mir Bilder vor mein inneres Auge schickte.

Bilder davon, wie sich schwarze, rauchige Gestalten auf den Weg zu meinem Schützling machten.

*

Es war eine klare Nacht. Über mir lag eine funkelnde Decke aus Sternen.

Ich saß hoch über der Stadt auf einem Werbeschild, rauchend, den Blick über all die Gebäude und Lichter werfend.

Und ich spürte, dass sie kommen würden. Ich spürte es in jeder Faser meines Körpers, weil alles in mir danach schrie, zu ihr zu fliegen und zu tun, wozu ich berufen war: Sie zu beschützen.

Ich inhaltierte tief und blies Rauch in die kühle Luft. Noch immer hatte ich keinen Plan, wie ich vorgehen solle.

Dann warf ich die noch brennende Zigarette hinunter und blickte ihr nach, bis ich sie nach einigen Metern nicht mehr sehen konnte.

Ich atmete tief ein, schloss die Augen.

Ließ mich vornüber fallen.

Im freien Flug breitete ich die Flügel aus. Instinktiv schlugen sie, trugen mich weiter nach oben und in die Richtung zu dem Mädchen, welches ich, ohne es zu können, beschützen musste.

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