8. Die Bühne - Teil 1

Es waren schon viele Leute da, als ich eintraf. Die vorderen Reihen waren gut besetzt, hinten waren aber noch viele Plätze frei. Ich setzte mich hinter eine Reihe herumalbernder Schüler. Eine ganze Bande aufgedrehter Jungs. Sie ließen Radiergummis mit einem Lineal fliegen und fingen sie wieder auf. Ihr aufgeregtes Quasseln erfüllte den Raum. Durch die Tür an der rechten Seite des Saals trat Mona ein. Sie lief an den vorderen Reihen vorbei und rief den Schülern energisch zu: "Ich glaub an euch! Das schafft ihr!"

Auf der Bühne standen einige Leute und redeten geschäftig miteinander. Ich konnte nicht erkennen, wer unmittelbar an den Vorträgen Teil haben würde und wer von der Technik war. Weil ich meine Uhr vergessen hatte, wusste ich nicht, wie spät es war und ich musste einfach abwarten, wann es losgehen würde. 

Die Schüler vor mir hopsten auf ihren Sitzen herum und waren ziemlich unruhig. Wahrscheinlich warteten sie schon länger hier. Ich wusste nicht, ob sie irgendwo dazugehörten. Es war eine relativ große Gruppe, sie besetzten die ersten beiden Reihen vollständig. Einer von ihnen drehte sich um und fragte mich: "Werden Sie auch eine Rede halten?" 

Ich war wie vom Donner gerührt. Manchmal war ich mir nicht ganz sicher. Und das betraf alles. Obwohl ich etwas gehört oder gesehen hatte, war ich mir dessen nicht mehr hundertprozentig sicher, wenn man mich im Nachhinein fragte. Zum Beispiel mit der Rede. Ich wusste zwar, dass ich nicht kontaktiert worden war, aber jetzt, wo der Schüler mich gefragt hatte, kam ich doch ins Zweifeln. Auf seine Frage hin schüttelte ich langsam den Kopf und sagte: "Nein... nicht, dass ich wüsste."

Er nickte wissend und sagte: "Es soll wohl auch zwei Überraschungsgäste geben, heute. Also kann es schon sein, dass Sie vielleicht eine Rede halten werden."

Es durchfuhr mich wie ein Blitz. Von Überraschungsgästen war doch nicht die Rede gewesen? Hatte ich etwas verpasst? Mit angehaltenem Atem kramte ich nach dem Programmheft, aber ich konnte es in meiner Tasche nicht finden, obwohl ich mir ausnahmsweise ganz sicher war, dass ich es eingesteckt hatte. Ich sah mich sogar vor meinem geistigen Auge, wie ich es in die Tasche gepackt hatte. Der Schüler beobachtete mich. Er setzte hinzu: "Das stand nicht im Programm, das hab ich vorhin den Mann da vorne sagen gehört."

Ich ließ meine Tasche sinken. "Ach so." Das war fies. Da sollte man wohl zwei Ahnungslose auf die Bühne holen, um sie zu blamieren. Vor versammelter Mannschaft sollte man hier also blamiert werden, so. Wenn ich das gewusst hätte ... Ich wollte auf meine nicht vorhandene Uhr schauen und meine Chancen abschätzen, hier noch abzuhauen, da sah ich, wie die Türen geschlossen wurden und die Leute von der Bühne abgingen, die sich vorhin noch dort unterhalten hatten. Zu spät. Mist. 

Ein großer, dicker Mann in grell-grünem Anzug kam auf die Bühne und grinste in die Menge. Vom ersten Moment an war er mir unsympathisch, obwohl ich ihn nur gesehen und noch nichts von ihm gehört hatte. Er hatte schneeweiße Haare und ein Gesicht, das hart und kantig wirkte. Der würde bestimmt die Überraschungsgäste auswählen, da war ich mir sicher. Ich ging schnell in meinem Kopf verschiedene Themen durch, falls ich als die unselige Kandidatin für den Posten des Überraschungsgastes gewählt werden würde. Dann würde ich wenigstens nicht ganz so dumm dastehen.

Aber dadurch, dass im Programmheft sowieso nicht konkret stand, über welche Themen referiert werden würde, konnte ich die Auswahl auch nicht eingrenzen. Ich hoffte einfach, dass mindestens eine andere Person vor mir an die Reihe kam, damit ich wenigstens eine Idee davon hatte, über was hier heute referiert werden würde. Außerdem wusste ich auch nicht genau, mit welchem Publikum ich es zu tun haben würde. Da waren Schüler, aber auch Männer und Frauen in Anzügen und irgendwo hinten saßen auch ein paar Frauen in Hauskitteln. Mit welchem Vorwissen sollte ich rechnen? Wie tiefgründig sollte er Vortrag überhaupt sein?

Von einem Überraschungsgast kann man jetzt auch nicht die Welt erwarten, versuchte ich mich selbst zu beruhigen. Der grüne Mann ging auf die Mitte der Bühne und sah von links nach rechts durch die Reihen, als würde er sein Publikum scannen. Dann hob er sich das Mikrofon an den Mund und sagte mit überraschend hoher Stimme: "Guten Tag, meine Damen und Herren, herzlich willkommen. Heute wird ein Nachmittag voller inspirierender Reden sein. Die Themen, die abgedeckt werden, reichen sehr weit. Falls Sie sich Notizen machen möchten, dann wird Mona Ihnen Papier und Stifte austeilen. Für heute haben wir uns ein ganz besonderes, von Überraschungen geprägtes Programm ausgedacht. Und zu einer Überraschung gehört auch immer ein Überraschungsgast. In unserem Fall gleich zwei, denn doppelt hält bekanntlich besser." 

Er lachte ein schrilles Lachen ins Mikrofon und in der ersten Reihe zuckte eine Schüler zusammen und hielt sich die Ohren zu. Der Mann sprach weiter: "Unser erster Überraschungsgast wird erst nach der Rede von Elisabeth von der Heide ausgelost. Alle unsere heute anwesenden Gäste können ausgelost werden. Also Sie und Sie und ... Sie." Sein Finger zeigte durch die Reihen und bleib an mir hängen.

Ich spürte, dass ich rot wurde. Hatte ich heute etwas Komisches angezogen, dass ich ihm aufgefallen wer? Oder war es meine Frisur? Ich hatte recht kurze Haare für eine Frau; war es das, was auffiel? Ich rutschte tiefer in meinen Sitz. Der Moment dauerte unangenehm lange. Dann ließ er endlich den Arm sinken. Ein paar der Schüler hatten sich zu mir umgedreht und gafften mich mit offenem Mund an. Als er weiter sprach, drehten sie sich langsam wieder nach vorne. Dafür war ich sehr dankbar. Angestarrt zu werden ist unangenehm.

"Ich bitte nun Frau von der Heide auf die Bühne." Es wurde zögerlich geklatscht und eine große, dünne Frau mit schütterem braunem Haar nahm den Platz des grünen Anzugs ein. Sie trug ein knöchellanges dunkelblaues Kleid, das aussah, wie eine billige Imitation eines edlen Abendkleides. Das Kleid war zwar lang, verdeckte aber ihre Krampfadern nicht ganz. Sie lächelte ins Publikum und meine bösen Gedanken taten mir augenblicklich leid, ja fast sogar physisch weh. Sie schien eine nette Person zu sein, dem Lächeln nach.

Mit einer anmutigen Geste nahm sie das Mikro entgegen und sprach hinein, als würde sie singen. Sie sagte: "Auch von mir ein herzliches Hallo. Ich bin sehr froh, dass Sie so zahlreich erschienen sind. Auf der Fahrt hierher habe ich viel überlegt und zwischen zwei Themen geschwankt, die ich Ihnen heute präsentieren wollte. Es war eine schnelle ... äh, eine schwere Entscheidung, aber ich habe mich dafür entschieden, Ihnen heute eine Rede über das Phänomen der Vergesslichkeit zu halten. Also, Vergesslichkeit, ja, davon kann ich viel verzählen, denn mein Mann zum Beispiel, der ist sehr vergesslich, wissen Sie. Wenn man ihm etwas erzählt, dann weiß er eine Woche später nichts mehr davon... und wenn man es ihm nochmal sagt, dann ist er so überrascht, als würde man es ihm zum allerersten Mal sagen ..."

Der grüne Mann sprang wie ein psychedelischer Grashüpfer in den Vordergrund und rief: "Ah, ja! Überraschung ist ein gutes Stichwort, denn Mona hat unseren ersten Überraschungsgast ausgelost! Mona, bitte auf die Bühne!" Mona trat von der Seite auf die Bühne. Sie entdeckte mich in der Menge und lächelte mir zu. Ich lächelte nicht zurück. Sie hielt dem grünen Mann ein kleines Stück Papier hin und flüsterte ihm etwas ins Ohr. 

Er grinste und nickte und schaute mich an. Mein Magen zog sich zusammen, sowie unsere Blicke sich kreuzten. Was für ein unangenehmer Mensch, dachte ich, konnte mich aber nicht allzu lange mit der Wertung dieses Mannes aufhalten. Schließlich war ich wohl eine heiße Kandidatin für die begehrte Stelle des Überraschungsgastes. Also hieß es jetzt nachdenken. Die Frau eben hatte über Vergesslichkeit referiert. Oder wollte es tun. Sie lief gerade von der Bühne, nach nur zwei Minuten. 

Immerhin hatte mir ihre Rede eine Idee gegeben, worüber ich referieren könnte. Wenn sie über Vergesslichkeit gesprochen hatte, dann könnte ich anknüpfen und über das Langzeitgedächtnis reden. Oder über Benimmregeln, zum Beispiel, dass man andere Leute nicht unterbrechen sollte. Der Mann sprach ins Mikro: "Der erste Überraschungsgast ..." Er lachte schrill und mir wurde schlecht. ".... heißt Irmgard Tembel. Frau Tembel, ich bitte Sie auf die Bühne."

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