2. Tanzabend - Teil 1

Ich war zwar nicht eingeladen, aber ich war trotzdem um achtzehn Uhr sechsunddreißig vor der Tanzhalle. Ich hatte nichts zu tun und am Tag zuvor hatte ich vernommen, wie sich zwei Leute vor dem Supermarkt darüber unterhalten hatten, also machte ich mich auf den Weg. Ich hatte meine Einkäufe extra langsam eingepackt, damit ich so lange zuhören konnte bis ich alle relevanten Informationen beisammen hatte. Wo? Wann? Das reichte.

Ohne Einladung irgendwo aufzutauchen, das machte ich nicht zum ersten Mal. Oft funktionierte das auch, denn wenn sehr viele Leute eingeladen waren, dann fiel das gar nicht auf. Ich lief einfach mit dem Strom der Besucher hinein, lächelte Leuten zu, die ich nicht kannte und verzog mich auf die Toilette, sobald mich jemand komisch anschaute. Klar wurde ich auch schon öfter rausgeworfen, aber was machte das schon? Bei der nächsten Veranstaltung stand ich wieder auf der Matte.

So auch an diesem Abend. Ich wusste, dass es um eine Tanzveranstaltung ging und ich konnte nicht einmal tanzen, aber ich würde so tun als ob. Warum nicht? Mich kannte hier niemand, es war der Nachbarort und ich war nicht oft hier gewesen, also würde ich mich vor keinem Bekannten blamieren weil es keinen Bekannten gab in dieser Stadt. Ist es überhaupt eine Blamage wenn man es nicht als solche wahrnimmt?

Also, ich kam sechs Minuten nach Einlassbeginn an der Tanzhalle an. Von draußen durch die Glasscheiben konnte ich sehen, dass die Leute alle paarweise gekommen waren. Ich hatte nicht daran gedacht, dass man zu diesem Tanzabend den Partner mitbringen sollte und so ganz alleine würde ich auffallen. Zum Mitbringen hätte ich so oder so niemanden gehabt. Wenn alle mit Begleitung gekommen waren, dann konnte ich nicht damit rechnen, noch einen Solo-Menschen zu finden, der mit mir tanzen würde. 

Es war noch nicht ganz dunkel, also schaute ich mich vor der Tanzhalle nach jemandem um. Es liefen ein paar Männer vorbei, aber manche waren zu klein, manche zu groß, zu dick, zu dünn, zu sportlich, zu unbeweglich, hinkten, gingen zu schnell vorüber oder waren gar nicht mein Typ. Es musste schon auch jemand sein, der auch danach aussah, als würde er an einem Tanzabend teilnehmen. Ich hatte mich schön herausgeputzt und ein langes Kleid angezogen. Mein Partner sollte einigermaßen passend aussehen und zumindest einen Anzug oder etwas in der Art tragen. Nicht einen Typen im karierten Flanellhemd, nicht einen Typen mit Cordhose. Es sollte ein Anzug sein.

Ich erwischte nach einigem Warten einen Lehrer, der gerade auf dem Weg nach Hause gewesen sein musste und konnte ihn erfolgreich dazu überreden, mit mir zu dem Tanzabend zu gehen. Er fragte viel, ich antwortete wenig. Er trug ein weißes Seidenhemd und eine Hose mit Bügelfalte, das passte. Er war einen Kopf größer als ich und er unterrichtete anscheinend Mathe und Musik. Meinetwegen. Wir müssten ja nicht reden, nur tanzen. Ich müsste mich ja nicht über seine Fächer unterhalten, denn beides waren nicht meine Lieblingsfächer gewesen. Wenn er aber Musik unterrichtete, dann musste er Taktgefühl oder Rhythmusgefühl haben oder sowas in der Art. Auch gut.

Es stellte sich heraus, dass er ein guter Tänzer war. Mit sechzehn hatte er einen Tanzkurs gemacht und deshalb kannte er die Grundschritte. Cool, ich hatte nie einen Tanzkurs gemacht, aber ich glaubte, das merkte er gar nicht. Was auch niemand merkte war, dass weder er noch ich eine Einladung hatten. Er wusste nicht, dass ich nicht eingeladen war. Das fiel nicht auf. Wenn man von außen auf die ganze Szene geschaut hätte, dann hätte man nicht sagen können, dass er und ich nicht dazu gehörten.

In der Pause unterhielten wir uns mit den anderen Tanzpaaren. Einige davon waren tatsächlich ein Paar, manche waren nur reine Tanzpartner. Manche tanzten sogar beruflich. Manche hatten hier gerade ihr erstes Date. Was man nicht so alles für Leute kennenlernt, wenn man auf Veranstaltungen geht ...

Das Büffet wurde eröffnet. Ich liebe Büffets, denn da kann man sich alles raussuchen was man will und nachholen so oft man will. Vorausgesetzt es machte einem nichts aus, wenn es komische Blicke gibt, wenn man sich schon zum zehnten Mal ans Büffet begibt. Leider gab es so kleine Teller, sodass ich das ganze Zeug in die Höhe stapeln musste. Es gibt generell kalte und warme Büffets. Ich zog immer die warmen vor, dies hier war aber kalt. Egal, das war auch gut. Hauptsache ein Büffet.

Ich stapelte mir gerade vier belegte Brötchen übereinander, als mich jemand mit dem Finger antippte. Ich drehte mich um und da stand ein älterer Mann, der mich über den Rand seiner rahmenlosen Brille hinweg streng anschaute. 

"Entschuldigen Sie, kann ich Ihre Einladung sehen?" Ich zuckte zusammen.

"Oh, tut mir leid, die hab ich verloren ...", stammelte ich.

"Und wie sind Sie dann hier reingekommen?"

"Ich hab sie auf der Toilette verloren. Ist einfach reingefallen. Und Sie werden ja verstehen, dass ich sie nicht rausgeholt habe, nicht?" Ich sah ihn süffisant an und erwartete, dass er sich entfernte und woanders Einladungen kontrollieren ging. Damit, dass jetzt noch jemand Einladungen kontrollieren würde, hatte ich nicht mehr gerechnet. Es war zwanzig Uhr achtunddreißig.

Er brummte und das hieß wohl nein. Ich wollte ihn besänftigen und hielt ihm ein Zwiebelbrötchen mit extra Zwiebeln hin. Er nahm es mir aus der Hand und fing an, es eifrig zu essen, noch während er der privateren Atmosphäre wegen unter den Büffettisch kroch. Ich stapelte mir weitere Brötchen auf meinen Teller und kehrte dann zurück zu meinem Tanzpartner. Ich war ein wenig besorgt darüber, ob der alte Herr meine Begleitung auch kontrolliert hatte. Aber das hatte er anscheinend nicht, denn meine Begleitung saß unbehelligt an unserem Platz und aß. Er hatte sich die ganze Käseplatte an den Tisch mitgenommen, was zwar Unmut bei den anderen Gästen auslöste, aber es sagte niemand etwas dazu.

Ich deutete auf die Käseplatte und sagte zu ihm: "Das stopft ganz schön. Ich würde dazu noch etwas Apfelsaft dazu trinken." Er nickte und hielt einen Krug hoch, den er neben sich stehen hatte. Auch an den Apfelsaft hatte er gedacht! Während wir so da saßen und er seine Käseplatte und ich meine Brötchen aß, klingelte irgendwo ein Telefon. Der ältere Herr - er hatte das Brötchen inzwischen gegessen - sprang unter dem Büffettisch hervor und rannte mit einem Hörer in der Hand zu meinem Tanzpartner.

"Herr Fuchs, es ist für Sie."

"Aber ich heiße gar nicht Fuchs."

"Das ist egal, gehen Sie ran."

Meine Begleitung ging ran und hörte mit ernster Miene zu. Er nickte, obwohl der am anderen Ende es gar nicht sehen konnte. Dann legte er auf, gab dem älteren Mann den Hörer zurück. Mit pathetischer Geste stellte sich auf seinen Stuhl und rief in die Menge: "Heute gibt es Zeugnisse! Bitte versammelt euch alle in der Aula!" Die Leute stöhnten und schüttelten die Köpfe. Alle gingen in das Foyer des Tanzsaales und der Lehrer stellte sich vor die Leute. Dann fing er an, einen Stepptanz aufzuführen. Die Leute klatschten, als er fertig war. Ich ging an die frische Luft. Das war mir alles zu verrückt. Es war doch gar nicht Schuljahresende!

Nach einigen Minuten kam meine Begleitung zu mir nach draußen und legte mir sein Hemd um die Schultern. Mein Kleid hatte nur kurze Ärmel und es war dunkel und kalt geworden. Er hatte sein Hemd extra für mich ausgezogen ... wie aufmerksam. Er bemerkte, dass ich leicht angesäuert war. "Alles gut bei dir? Du bist vorhin so schnell rausgegangen."

Ich sah ihm fest in die kastanienbraunen Augen und wollte schon motzen, da fiel mir auf, was er doch für schöne Augen hatte. Ich schaute in Richtung des Saals und sagte, wie um mich zu verteidigen: "Ich bin einfach nur verwirrt. Es ist doch gar nicht Schuljahresende. Warum verteilst du dann Zeugnisse? Ich versteh das einfach nicht."

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