𝐗𝐗𝐗𝐕𝐈𝐈𝐈 𝐃𝐚𝐬 𝐒𝐢𝐜𝐡𝐭𝐛𝐚𝐫𝐞

... 𝐢𝐬𝐭 𝐯𝐞𝐫𝐠𝐚𝐧𝐠𝐞𝐧

"Hier hat alles angefangen", hauchte ich ihr zu. Wie am ersten Tag krallte sie sich ins eiserne Geländer des Balkons.
"Ich hatte von der ersten Sekunde an Angst dieses Land verlassen zu müssen, obwohl in Wirklichkeit wusste ich da schon, dass mehr dahinter steckt", offenbarte sie mir, ihr Blick starr an den untergehenden Feuerball am Horizont gerichtet.
Sie ließ meine Mundwinkel zucken. Wie die Wege des Schicksals ihre Parallelen schmiedeten...
Auch ich schmiegte meine Finger um das Metall.
Es war der gleiche Sonnenuntergang, der mich wünschen lassen hatte, Dubrovnik nie wieder verlassen zu müssen, bevor die Granate explodierte.

"Als ich das erste Mal hier stand, konnte ich mir auch vorstellen in Dubrovnik zu bleiben. Und tief in mir drinnen wusste ich, dass es etwas für die Ewigkeit wird, nur eine andere als ich sie mir wünschte. Ich wusste, es wird nicht verschont bleiben. Das wussten wir alle. Vermutlich haben wir uns nur den schönsten Ort zum Sterben ausgewählt", gab ich es zum ersten Mal zu. Wer gesehen hatte, wie dieser Krieg angefangen hatte, der kannte auch das Ende.

"Aber heute wird der Frieden herrschen. Die Sonne wird einfach untergehen und jede Mutter wird die Gelegenheit bekommen, ihrem Kind einen Gutenachtkuss zu geben. Jeder Vater wird von der Arbeit nach Hause kommen und seine Frau in den Arm nehmen können. Die Sonne wird morgen wieder aufgehen und alle Tränen trocknen."
Damit war das der schönste Sonnenuntergang seit mehr als zwanzig Jahren für mich. Ich begriff, dass alles einen Anfang fand, aber auch ein Ende und ich akzeptierte es.
Auf der einen Seite, retteten Ärzte leben, Freunde gaben ihr letztes Hemd für einander, Familien hielten zusammen und auf der anderen Seite töteten Menschen, betrogen und verbreiteten Schmerzen. Die Welt würde niemals auf eine der beiden Seiten verzichten können.

"Ich fühle mich leer. Keine Ahnung, ob ich jemals wieder glücklich werde. Was ist, wenn jetzt meine zwanzig Jahre der Trauer anstehen? Was ist, wenn ich es nicht akzeptieren kann, dass du mir gegeben wurdest und dann einfach wieder genommen? Das ist doch unfair!" Sie stampfte wütend auf, wie ein kleines beleidigtes Mädchen. Ich legte meine Hand über ihre und zwang sie, mich anzusehen.
"Deine Oma sagte einst, du wirst niemals wahrhaftiges Glück finden, wenn du die Trauer nicht in Kauf nimmst. Ich werde gehen, aber du hast durch unsere kleine Begegnung gelernt, die anderen in dein Leben zu lassen." Mittlerweile hielt ich beide ihrer Hände fest in meinen, doch ihre wunderschönen Augen fanden den Boden. "Keiner kann dir nehmen, dass ich ein Teil von dir bin. Niemals!" , versprach ich ihr.
"Ich weiß, dass wir uns wieder sehen werden und ich werde warten, Beba", fügte ich noch hinzu, um sie umzustimmen.
Ihre Wimpern klimperten, als sie versuchte, die letzten Tropfen aus ihnen zu lösen.

"Volim te", sagte sie, nachdem ihre Augen mich wieder fanden. "Ich dich auch. Du glaubst gar nicht wie sehr."
Und damit beendete ich die Distanz, die uns noch nie gut stand und zog sie an meine Brust.

Die zwei schönsten Monate meines Lebens spielten sich vor meinen Augen ab. Wie sie mich in meinem Alptraum gefunden und auf ihrem Weg das Blut gegen Blumen getauscht hatte. Sie war da und hatte mit jedem Lächeln ein Pflaster auf meine Wunden gelegt.
Ich ging auf in dem Strahlen ihrer braunen Augen und starb in ihren Tränen, doch würde für immer tief in ihrem Herzen weiter leben.

"Leb wohl, mein Engel", hauchte ich dicht an ihr Ohr. Es schmerzte. Der letzte Kuss auf ihrer zarten Stirn schmeckte bitter, hinterließ jedoch eine unendliche Süße auf meinen Lippen.

Und dann war alles weg. Eine unsichtbare Macht, wie ich sie noch nie spürte, wehte mich vom Fleck.
Als hätte ein Düsenjet mich gerammt, ohne, dass es weh tat. Dann tauchte ich auf. Ich stieg aus einem Meer, dass grenzenlos wirkte. Hier gab es keine Sonne, allein der Himmel leuchtete in den Farben des Regenbogens.
Egal wie weit ich in das Wasser sah, es war durchsichtig, rein. Selbst meine Füße über dem Sand, wirbelten keinen Schlamm vom Boden auf.

Jeder Schritt geschah, ohne Widerstand. Meine Beine führten mich, als ob sie den Weg bereits kannten.

Ich war frei, mein belastetes Herz nicht mehr da. Ich spürte nur Dankbarkeit für alles, was ich erleben durfte.

"Du hast mich gefunden, Sohn." Etwas warmes legte sich auf meine Schulter und ich traf auf die fast schon goldenen Augen meines Vaters. Sie leuchteten, ohne den Hauch eines Rotstichs, wie es so oft der Fall zu Lebzeiten, dank des Alkohols war.
Er stand tatsächlich da mit einer Angel in seiner anderen Hand.
"Ich habe dich wirklich gesucht" verriet ich ihm, ohne zu wissen, weshalb genau. Mein Wissen verschwand mit jeder Sekunde. Nur die Gesichter, die ich liebte, blieben glasklar in meinen Gedanken.
"Weil du die Größe eines Helden hast, Milan." Sprachlos betrachtete ich sein perfektes Bild und er angelte einfach weiter, als wäre das Schönste auf dieser Welt nichts besonderes.

"Milo, Dragi!", schrie eine Stimme, die ich aus Millionen heraus erkennen würde. Gott erlaubte mir wohl meine letzten Tränen. Sie zogen über mein Gesicht ohne Gestalt, wie kleine durchsichtige Blitze, die eine kurze kalte Spur an der Stelle hinterließen, die sie berührten.

"Mama!" Ich rannte auf sie zu und ließ meinen Körper neben ihr in den weißen Sand fallen. Meine Arme klammerten sich um ihre Gestalt.
"Zlato moje!" Sie drückte mir tausende von Küssen in die Haare.
Ich war immer noch ihr kleines Goldstück und das würde wohl auf ewig so bleiben. Es endete alles, wie es anfing, in den Armen der Frau, die mich am meisten liebte.

"Ich bin so glücklich", weinte ich mich an ihrer Schulter aus.
"Und so stark, mein Kind." Sie nahm mein Gesicht in ihre Hände und schien jeden Millimeter genauestens zu inspizieren.
"Mein Herz wog ohne dich so schwer. Es gab auf und ich musste Ivo auch verlassen." In ihren fast schwarzen Iriden spiegelten sich Freude und Trauer zur selben Zeit.
"Dino ist jetzt Arzt. Er hat einen Sohn und..." Ich stoppte. Ihr Lachen ertönte wie die sanfte Melodie einer Harfe.
"Er hat einen Engel an seiner Seite. Egal, wo er ist, sie wird ihm das Gefühl geben, dass es der richtige Ort ist. Sie wird ihn niemals an sich zweifeln lassen. Sie wird ihn lieben, komme was wolle."

"Du hast dir immer gewünscht, dich zu verlieben", erinnerte sie sich.
Ist es nicht das, wonach sich jeder Mensch insgeheim sehnt? Zu lieben und geliebt zu werden?
"Emiliana wird dich finden, genauso wie du mich gefunden hast. Irgendwann." Dabei streichelte sie mir eine verlorene Haarsträhne zurück.
Und das hoffentlich erst nach vielen Jahren...

"Dragi, hast du nicht bemerkt, dass wir Besuch haben?"
Doch, schon seit ich zu meiner Mutter gerannt war, saß da diese alte Frau neben uns am Ufer. Mein Schamgefühl schwand nur. Hier empfand ich alles ganz anders. Menschliche Emotionen entfremdeten sich mehr und mehr.

Sie betrachtete unbeteiligt das Wasser und lächelte dabei. Ihr weißes Haar schimmerte ein wenig unter dem geblümten Kopftuch hervor. Falten zogen sich wie die Linien einer Landkarte über ihr ganzes Gesicht. Ihr musste ein langes Leben vergönnt gewesen sein.

Plötzlich trafen ihre azurblauen Augen auf mir und ich erstarrte, als sie sich vor mir erhob.
"Sei höflich Dragi, stell dich ihr vor", forderte meine Mutter. Anstand und Manieren schienen ihr nach wie vor am wichtigsten.

Zögerlich begab ich mich wieder auf meine Beine und streckte ihr meine Hand entgegen. "Guten Tag, Milan Pavlovic", stellte ich mich ihr vor und sie erwiderte den Gruß. Sie hatte eine verdammt starke Ausstrahlung, fast schon einschüchternd. Meine Hand fühlte sich gepresst in ihrer.
"Freut mich wirklich sehr Milan Pavlovic. Elizaveta", verriet sie mir ihren Namen. Ich wollte ihr meine Hand entziehen, doch sie hielt sie eisern fest.
Was war das für eine seltsame Gestalt?
Auf einmal verschwand sie, mitten ins Nichts.

"Was war das?", fragte ich meine Mutter, doch sie zuckte mit den Schultern. "Sie hat uns immer nur gesagt, dass sie dich kennenlernen will, bevor ihre Reise endet."

Ich setzte mich wieder zu meiner Mutter, die wahrscheinlich niemals alle Fragen beantworten könnte, die in diesem Moment in meinem Kopf kreisten.
Auch mein Vater gesellte sich zu uns.
Es herrschte Stille, eine viel klanglosere als auf Erden.
"Ist das hier... also ich meine, bleiben wir hier?" Es brannte unter meiner Zunge. Mama lachte. Es war Musik in meinen Ohren, die Melodie des Friedens.

"Nein mein Schatz, das ist nur der Ort, an dem wir auf dich gewartet haben."


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