𝐗𝐗𝐗𝐕𝐈𝐈 𝐃𝐞𝐦 𝐀𝐮𝐠𝐞 𝐟𝐞𝐫𝐧
... 𝐝𝐞𝐦 𝐇𝐞𝐫𝐳𝐞𝐧 𝐬𝐨 𝐧𝐚𝐡𝐞
"Weißt du noch als meine Ex-Frau mich verlassen hatte und du wolltest, dass ich die Praxis erstmal schließe, um mich zu erholen?" Verwirrt löste ich mich aus unserer Umarmung. Das hatte jetzt gar nichts mit dieser Situation zu tun, doch Dino sprach es mit einer gewissen Eindringlichkeit aus. Also dachte ich nach und tatsächlich, spielte sich die Vergangenheit, wie ein Film in meinem Kopf ab.
Er erschien damals zur Pause nicht im Therapiezimmer, wo wir immer unsere Pausen verbrachten. Also suchte ich ihn in seinem persönlichen Büro auf. Er hatte gereizt reagiert, weil ich nicht geklopft hatte.
Doch seine Wut war mir egal, nachdem ich ihn da sitzen sah, wie das letzte Häufchen Elend. Sein Sohn strahlte ihm von einem aufgestellten Porträt aus entgegen. Dazu ließ Dino seinen Ehering zwischen seinen Fingern kreisen.
Er hatte mir nie erzählt, dass seine Beziehung gelitten hatte, aber ich konnte eins und eins zusammen zählen. Außerdem hielt ich noch nie viel von seiner Frau.
Weil sie nie Zeit zu haben schien, kam mein Freund immer zu spät zur Arbeit und wenn sie den Kleinen mal vom Kindergarten abholte, dann brachte sie ihn gleich kurz angebunden zu uns in die Praxis. Mir kam es ja ganz Recht, da ich es liebte, die Zeit mit Malio zu verbringen.
Gott, vermisste ich den kleinen Frechdachs...
Ohne viel Umschweife, da ich damals schon wusste, Dino würde sowieso nicht allzu viel preisgeben, bot ich ihm an, sich eine Auszeit zu nehmen. Also nickte ich im Hier und Jetzt.
"Ich konnte nicht dicht machen, weil ich das Geld unbedingt gebraucht habe." Finanzielle Probleme waren mir nicht bekannt, doch worauf wollte er hinaus? Er ließ ein wenig auf sich warten, bis er mir meine unausgesprochene Frage beantwortete. "Ich habe ein Haus restaurieren lassen." Es dämmerte mir immer noch nicht, bis er hinzufügte, "hier in Dubrovnik." Mir fiel die Kinnlade herunter, als ich an die Worte von Luka, dem Stadtführer zurück dachte. Niemand wusste, wer dieses Haus nach der Sprengung wieder errichten ließ. "Du hast dieses Haus wieder errichten lassen?", bat ich um Bestätigung.
Dino wandte sich von mir ab und lief auf eine Wand zu. Seine Hand fuhr über die weiße Tapete. "Die Grundmauern standen noch", flüsterte er in Gedanken. Ich verstand. Nur wieso? "Hatte dich das Schicksal der Einwohner hier auch so mitgenommen?", wollte ich wissen, da mir sonst kein plausibler Grund einfiel.
Mich erschrak der verächtliche Lacher, der tief aus seiner Kehle entwich. "Im Krieg kämpft jeder irgendwann nur noch für sich und ich wollte retten, was mir noch übrig war." Er drehte sich wieder herum und mir glänzten tief sitzende Tränen aus seinen Augen entgegen, doch er wäre nicht Dino, wenn er im nächsten Moment nicht abgewunken und gelächelt hätte. Es schmerzte mich nur mehr als seine Tränen, denn dieses Lächeln sah so kaputt aus.
"Komm mit", forderte er mich auf, nachdem er den Hebel für den Dachboden von der Wand nahm.
Die Leiter glitt hinunter und wir stiegen hinauf. Ich tat es, ohne etwas zu hinterfragen. Meine Sicht war einer Art Tunnelblick gewichen. Ich blendete die Umgebung aus und auch meine schreienden Gedanken. Lediglich mein pochendes Herz verriet mir, dass sich was Großes anbahnte und ich nur Angst hatte, es zu realisieren.
Der Dachboden stand leer. Es duftete hier oben sogar noch nach Neubau. Die dicken Balken des Daches, gaben den Duft von frisch gesegtem Holz wider. Ich fühlte mich hier oben sicher, in dem sperrlichen Licht, welches von unten zu uns hinauf schien.
Dino setzte sich mitten im Raum in den Schneidersitz und deutete mir, mich neben ihn zu setzen. Ich tat es. Unsere Arme berührten sich und ich brauchte diesen Halt. Den Halt, den ich von Milan gerade nicht bekam.
Er war mir in keiner Sekunde von der Seite gegangen, doch seine Ausstrahlung hatte sich verändert. Es jagte mir eine Heideangst ein, dass ich nicht mehr erkennen konnte, wie seine Brust sich hob, oder senkte. Er blinzelte auch nicht mehr. Ganz so als hätte er das Leben ein stückweit losgelassen. Ich versuchte seinen Anblick zu vermeiden, auch wenn es mir kaum gelang. Seine Augen galten nicht mir, sondern nur noch Dino. Seit Nelio verschwunden war, war das schon so und ich konnte aus seinem neutralen Ausdruck keinen Millimeter deuten, was er empfand.
Alles fühlte sich nur noch erdrückend und belastend an.
Ich zuckte zusammen, als Dino mir plötzlich eine kalte Karte in die Handfläche drückte.
"Hier oben haben wir uns immer versteckt, wenn es Ärger gab, oder wir einfach Quatsch machen wollten. Es war einfach unser Ort... Nur unserer", kommentierte er beiläufig.
Meine Iriden wanderten in Zeitlupe von meinem Freund zu Milan und landeten letztendlich auf dem kleinen Stück Plastik. Jeder einzelne Buchstabe auf diesem Ding, trieb mich weiter an die Grenze einer Klippe. Kaum zu übersehen, handelte es sich um einen Ausweis.
𝐈𝐯𝐨 𝐏𝐚𝐯𝐥𝐨𝐯𝐢𝐜
Tropfen verzerrten den Namen und ich wischte mir über mein nasses Gesicht. Ich erkannte das kleine, pauschbäckige Bürschchen plötzlich. Nicht nur von dem Foto, dass in meinem Nachtschränkchen wohnte. Ich erkannte auf dem Ausweis auch den Mann, der neben mir saß.
Mir fehlte die Luft zum atmen. Meine Hand wanderte zu meinem Mund, um die trockenen Schluchzer zu ersticken. Sie waren Brüder. Oh mein Gott, sie waren Brüder!
Dino hatte so großes leid erfahren und ich konnte es niemals ahnen.
"Es tut mir so unfassbar leid!" Ich sprang um seinen Hals und zitterte. Meine Brust schlug nach jedem Atemzug fast schon schmerzhaft gegen seine. Doch er zog mich so fest an sich, so dass das Beben ein Ende fand.
Nur wenige Minuten später drückte ich mich von ihm. Ich musste Dino wieder sehen. Er verzog seine Züge zu einer heulenden Grimasse. Meine Finger streichelten über die Tränen. Der Sport, der Bart und vermutlich diese harte Zeit hatten aus ihm einen anderen Menschen gemacht. Natürlich konnte ich ihn nicht erkennen. Endlich verstand ich, woher die Stärke kam, für die ich ihn so bewunderte.
"Kannst du ihm sagen, dass ich mehr als stolz auf ihn bin? Er ist genau das geworden, was Mama sich für uns gewünscht hätte", wisperte mir eine schwache Stimme ins Ohr. Mir lief ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter und ich wandte meinen Blick schlagartig ab. Milan verlor an Farbe, so wie zu Beginn. Die blauen Flecken zeichneten sich erneut auf seiner Haut ab. Die roten Kreise auf seinem rein-weißen Shirt wuchsen, ohne das ich es hätte aufhalten können. Ich spürte selbst den stechenden Schmerz, nur das ich nicht daran verbluten würde. Doch es tat genauso weh. "Milan?!" Ich rutschte auf die Knie.
"Was ist los, Emi?" Dino griff nach mir und hielt mich fest, doch ich sah nur noch ihn. Milan schüttelte den Kopf und ich nickte langsam. Wir verstanden uns ohne Worte und natürlich würde ich ihn nicht noch einmal vor seinem Bruder sterben lassen. Ich verschwieg die Umstände und litt alleine unter den Qualen, die sich vor mir abspielten.
"Er sagt, dass er unglaublich stolz auf dich ist und du genauso bist, wie eure Mutter es gewollt hätte."
Mein Freund ließ mich los und ich kippte vor. Milan versuchte mir Halt zu geben, doch ich fiel auf meine Hände. Seine Kraft in dieser Welt nahm stetig ab und mir war nach Schreien, als ich die Holzdielen vor mir sah. Meine Welt ging unter und ich verfiel in eine Starre, nicht möglich, mich zu lösen.
"Kann er das sehen? Milo, das ist Malio. Ich musste ihm einen Namen geben, der mich an dich erinnert. Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht an dich gedacht habe, weißt du?" Dinos Worte überschlugen sich. Ich schielte kurz zur Seite. Er hielt Milan ein kleines Foto von seinem Sohn entgegen.
Die roten Locken glänzten über seiner Stirn und er strahlte, während Krümel seine Wangen zierten.
Milan lächelte und mir kam es so vor, als wäre es sein letztes Lächeln.
"Er hat unsere Augen", stellte Milan mit ehrlicher Freude fest.
"Ich liebe euch und ich werde immer an eurer Seite sein.
Auch an deiner, Emiliana", wandte er sich direkt an mich. "Du musst jetzt stark sein", forderte er noch. Auch wenn es mich ankotzte ständig diesen Satz zu hören, weil ich einfach nicht mehr konnte, tat ich was er sich wünschte. Denn es gab niemanden vor dem ich mehr Respekt hatte.
"Milan meint, Malio hat eure Augen... Er liebt euch und er wird immer an eurer Seite bleiben." Es war das schwerste, was ich jemals über die Lippen brachte.
Ich hatte meine Heimat verlassen, meine Freunde, meine Schule und es hatte sich angefühlt, als hätte mich jemand meiner Kindheit beraubt. Ich hatte die Hand meiner Oma gehalten, bis sie ihren letzten Atemzug tätigte und doch forderte noch nie etwas so viel Kraft, wie jetzt nicht zusammen zu brechen.
"Emiliana, kannst du meine Hand zu seinem Gesicht führen? Ich bitte dich." Ich schluckte. Meine Lungen zu füllen, kam mir nicht mehr wie eine Automatik des Körpers vor. Nein, ich musste mich zwingen, die Luft tief einzusaugen.
Mein Blick wanderte zu Milan und er gleichte mir. Ihm drohten Bäche aus den Augen zu fließen und sein geschundener Körper zitterte, kurz vorm Einknicken.
Ich nahm Dinos Hände behutsam in meine. Seine Haut schmiegte sich kalt und feucht in meine Handflächen. In diesem Moment herrschte endloses Vertrauen zwischen uns.
Vorsichtig streckte ich seine Arme aus, bis ich meinte, dass er Milan berührte. Irgendwie wusste ich, dass ich richtig lag, als Dinos Körper erstarrte.
Meine Knie rutschten über das raue Holz. Vermutlich jagte ich mir den ein oder anderen Splitter ein, doch das war nur Nebensache. Ich sah in ihre Gesichter und für einen Moment erfüllte es mich. Sie waren der Gegensatz zum Krieg. Am Ende des Tages gewann die Liebe und erstickte die Schreie, der Vergangenheit. Am Ende des Krieges ging die Sonne wieder auf.
Wie sie sich anblickten, ohne sich wirklich zu sehen...
"Ich spüre, dass er da ist, Emi." Dino atmete erleichtert aus. Er lachte und weinte zugleich, ohne sich von seinem Bruder zu lösen, der seine Hände schützend über seine legte.
Langsam wagte ich mich wieder zu ihnen, lehnte meinen Kopf an Dinos Schulter und betrachtete genauso glücklich den jungen Mann, der uns in seiner kurzen Zeit, so viel mehr gegeben hatte, als es jemand anderes in achtzig Jahren hätte geben können.
"Die Zeit ist gekommen, Emiliana", sprach Milan plötzlich und zerstörte damit meine innere Ruhe. Er sagte genau das, vor was ich mich am meisten fürchtete, seit ich zum ersten Mal dieses Foto in meinem Nachtschränkchen entdeckte.
Es sollte in meinem Stimmungstagebuch stehen.
Ich habe Angst, dieses Land jemals wieder verlassen zu müssen.
Doch es war nie die Furcht davor Kroatien zu verlassen.
Mein Finger tippte nicht zufällig blind auf diesen Punkt der Karte.
Milan hatte mich zu sich gerufen. Er war das, was mir fehlte und wahrscheinlich immer fehlen wird.
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