𝐗𝐗𝐗𝐈𝐈 𝐃𝐞𝐫 𝐓𝐨𝐝

...𝐡𝐚𝐭 𝐤𝐚𝐥𝐭𝐞 𝐊𝐫𝐚𝐥𝐥𝐞𝐧

Ich zählte vierzehn Stunden und dreiundvierzig Minuten in denen sie nun ihre Augen ununterbrochen verschlossen hielt.

Meine Finger fanden unbewusst durch ihre welligen Strähnen. Sie glänzten nicht mehr. Alles an ihr wirkte plötzlich so fad und zerbrechlich, dass selbst ich mich fürchtete, sie zu berühren.

Sie suchte mich in ihren Träumen, doch ich wagte mich nicht zu erscheinen. Ich wusste, dass es ihren Zerfall beschleunigen würde. Wie viel Wahrheit in dem Spruch 'Mit dem Tod spielt man nicht' steckte, wurde mir nun leider bewusst.
Also saß ich hier, war einfach nur da und hoffte, dass der schwarze Schleier, der sie nun umgab, wieder zu dem Feuerwerk an Regenbogenfarben werden würde.
"Du musst stark sein, kleines Vögelchen", flüsterte ich ihr direkt ans Ohr, doch schreckte zurück.

Die irdische Schwerkraft hatte mich erfasst und so ungewohnt wie sie für mich war, fiel ich direkt zu Boden. Ein Schmerz zog sich wie ein Gewitter durch meine Brust. Aus Angst und Schrecken rutschte ich über den Boden, bis ich meinen Rücken gegen die Wand lehnen konnte. Emiliana schlief tief und fest, während hier etwas passierte, was ich keineswegs einschätzen konnte, aber Schutz in ihrem Anblick suchte.

Blitze brannten sich durch meine Venen und hinterließen ein wütendes Feuer. Ich keuchte, indessen meine Hand über die schmerzende Stelle rieb. Es erinnerte mich an das letzte, was ich als Mensch fühlen durfte. Mir war als würde ich die Stiche noch einmal über mich ergehen lassen. Und was nach den Schmerzen übrig blieb, war die Angst;
Angst davor, nicht zu wissen, was nun passieren würde; Angst davor, erneut alles zu verlieren, was mir lieb war.

Die berüchtigten letzten Sekunden. Nein, sie beinhalteten keinen Funken Frieden. Ein Krieg aus Angst und der Trauer um sein eigenes Leben, beschrieb es viel besser.
Der Moment, in welchem du beginnst zu verstehen, was du alles hattest und eben in diesem Moment auch verlierst.

Eine Weile saß ich da, gefangen in meiner Panik. Meine Arme drückten meine Knie gegen die noch pochende Brust. Meinen Kopf versteckte ich dazwischen. Ich wollte um keinen Preis meine Augen öffnen. Vielleicht befand ich mich letztendlich in der Hölle. Wer wusste das schon?

"Was tust du Freak da? Du musst in die andere Richtung!"

"Theo, lass ihn doch kurz ankommen, verdammt nochmal!"

"Emi ist am verrecken und kein Arzt will uns helfen und der interessiert sich für die scheiß Inneneinrichtung!"

Die vertrauten Stimmen von Emilianas Freunden rissen mich aus meiner Trance.

Gott sei Dank überfielen mich schlagartig meine Gedanken. Es war mir vergönnt noch ein weiteres Mal ihre friedlichen Züge zu mustern. Ganz gewöhnlich schwebte ich zu ihr herüber und ahmte dabei eigentlich nur meine Schritte nach. Diesmal hatte sich nichts verändert.
Keine Einsamkeit.
Vorsichtig senkte ich meinen Kopf über ihre Lippen. Ich spürte sie atmen und sah wie ihre Brust sich in einem langsamen Rhythmus hebte und senkte. Emiliana lebte. Erleichterung breitete sich aus, bis ich wieder dieses Stimmengewirr gedämmt wahrnahm.

"Scheiße, wofür haben wir dich hergeholt?!"
Es herrschte ein energisches Geschreie im Flur und ich ordnete es hauptsächlich Theo zu.
Dieser dicke Fels in der Brandung behielt doch auch sonst immer einen ruhigen Rotkopf. Was war los?
Von meiner Neugierde getrieben, überstieg ich die Schwelle der Tür.

Beinahe wäre ich gegen eine Gestalt gestoßen. Ich machte schlagartig Halt, weil er mich sehen könnte.
Eine unbegründete Furcht, weil mich doch auch sonst keiner sehen konnte, doch sie flutete meine Adern und ich hütete mich vor diesem Menschen. Aus sicherer Entfernung beobachtete ich sein rätselhaftes Verhalten. Er tastete alle Wände ab.

Hatten Theo und Frieda einen Geisterjäger bestellt? Nein, in ihren Gesichtern spiegelten sich die gleichen Fragezeichen wie in meinem Gesicht wider.

Dieser großgewachsene Mann sah aus wie ein Wanderer mit seinen Boots und der kurzen Cargohose. Über seinen ganzen Rücken hing ein Rucksack. Ich versuchte um ihn herum zu schleichen, doch er stand zu dicht vor der Wand und viel zu sehr im Schatten, um etwas von ihm zu erkennen.
Außerdem trug er eine Kappe, sowie eine Brille. Das einzige Merkmal, welches ich sicher erkannte, war sein brauner kurzer Bart.

Ich zuckte zusammen, als Theo sich durch meine Erscheinung drängte und sich direkt vor dem Fremden platzierte. Sein Körper stand unter Spannung, während feine Schweißtropfen von seiner Stirn perlten. Zum ersten Mal empfand ich wahrhaftiges Mitleid für den Rotschopf. Er sorgte sich wirklich um Emiliana.

"Hör jetzt auf damit. Emiliana stirbt drei Meter weiter!" Nach jedem Wort tippte er auf die muskulöse Brust des Mannes und endlich erwischte mein Blick sein Gesicht. Mir wurde sofort klar, wer dort vor Theo stand. Ich konnte es aus seinen glänzenden Augen lesen, die so leer nach Antworten suchten. Hier stand er, Doktor Dino, oder wie sie ihn alle nannten. Seine kaffeebraunen Iriden besaßen keine typische Musterung, das verlieh dem Braun eine unendliche Tiefe. Selbst ich schaffte es kaum mich zu lösen.

Er machte auf der Stelle kehrt und ging schnellen Schrittes in Emilianas Zimmer. Als hätte ihr Name einen Schalter in ihm umgelegt. Seine Reaktion bohrte ein Pfeil in meine Brust. Dieser Mann erinnerte mich so sehr an mich selbst. Selbst der Tod schaffte es nicht, das Leben in mir zu verdrängen, wenn ich ihren Namen hörte. Und auch Dino vollbrachte eine hundertachtzig Grad Wendung. Seine leeren Augen füllten sich mit Entschlossenheit, nachdem er das Zimmer betrat und den anderen die Tür vor der Nase zu schmiss.

Ich glitt hindurch, denn auch mich hielt nichts auf. Außerdem musste ich es sehen. Wie würde sie ihm begegnen? Es blieb nicht lange ein Geheimnis.

Er stürzte sich sofort über sie und nahm ihren Körper in seine breiten Arme. "Emiliana? Emiliana!" Kontrolliert von seiner Panik, rüttelte er an ihren Schultern. Ein feinfühliger Doktor schien er nicht zu sein, denn ich befürchtete, Emilianas Knochen könnten unter seiner Berührung gleich brechen.

Von der Sonne geküsst, leuchteten ihre Iriden in einem blassen Gold auf. Noch bevor sie vollkommen erwachte, fand sie seinen Blick und erstarrte. "Dino", flüsterte sie kaum hörbar. "Ich bin da." Zwischen seinen Handflächen fand ihr Gesicht Platz. Ich ging um die beiden herum, doch sie bemerkten nichts und niemanden. Dino hielt sie , während sich ihre Tränen über seine Handgelenke ergossen. Mir fiel ein Stein vom Herzen und doch brach es in der lieblich süßen Schwerelosigkeit in tausende von Teilen.
Zwei Sekunden reichten, um zu erfahren, dass die beiden kein Jahrhundert trennen könnte.
Auch wenn ich gehen musste,
er würde bleiben.

Gott schmiegte ihre Seelen in ein glänzendes Licht. Deren Auren mischten sich zu einer strahlenden Kraft.

"Was ist aus dem Fettsack geworden, der jeden Tag mein ganzes Frühstück inhaliert hat?", wollte er wissen, nachdem er sich die Zeit genommen hatte, sie von Kopf bis Fuß zu inspizieren. "Ich will dich nicht verlieren!", antwortete sie stattdessen, als sie sich zeitgleich erneut an seinen Hals schmiss. Ihre Arme, durch die mittlerweile die Knochen durchschimmerten, lagen um ihn, wie eiserne Ketten.
Sie kämpfte gegen den Tod an, dem sie sich Stunden zuvor noch bereitwillig vor die Füße geworfen hatte. Wegen mir. Wegen mir.
Wegen mir...

Ich presste die Lider zusammen, in der Hoffnung fliehen zu können, doch so lange ich sie liebte, so lange brachte ich sie um.

"Wie heißt er, Emiliana. Du musst mir sagen, wie er heißt. Verstehst du?" Er schob sie an den Schultern von sich.
Sie versuchte ihn zu analysieren. Eine Angewohnheit, die sie zu ihrem Job, aber auch zu überflüssigen Kopfschmerzen brachte.
Erzähl es ihm einfach, bettelte ich innerlich. Öffne dich ihm so, wie du dich mir geöffnet hast. Hab keine Angst vor seiner Reaktion, sondern tu es einfach!

"Es gibt ihn wirklich!", beteuerte sie, nun selbst den Abstand suchend. Wie ein scheues Reh, drängte sie sich bis an die Wand.
"Ist gut Emiliana. Wie heißt er?" Dino behielt seinen ruhigen Ton bei, auch seine Hände lagen völlig entspannt auf seinem Schoß. Doch was Emiliana verborgen blieb, waren seine Füße, die er fast schon gewaltvoll aufeinander drückte, während er vor ihrem Bett hockte.

"Wirst du mir glauben?!", schrie sie nun den Tränen erneut so nahe, dass ich sie nur noch umarmen wollte.
Des Doktors Fassade brach auch. Er warf seine Kappe unachtsam zu Boden und rieb sich anschließend die Falten von der Stirn. "Ist jetzt auch egal", gab er leise von sich, bis Emilianas Schrei mir durch Mark und Knochen fuhr. Dino hatte seine Arme unter sie geschoben und die hübsche Frau einmal in die Luft befördert.
Wie eine Braut lag sie in seinen Armen, ohne zu realisieren, was gerade mit ihr geschah. Er agierte schnell und ließ ihr keine Zeit für Gegenwehr.
Emiliana hätte nicht mit sich reden lassen und er kannte sie scheinbar nur zu gut.

Deswegen ließ ich sie gehen, auch wenn sie plötzlich Hilfe suchend zu mir blickte und ihren Arm nach mir ausstreckte.
Abstand zu mir bedeutete für sie Sicherheit. Ich schenkte ihr nur mein Lächeln, bis die Eingangstür ins Schloss fiel.

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