𝐗𝐕 𝐃𝐢𝐞 𝐒𝐭𝐮𝐟𝐞𝐧
... 𝐳𝐮𝐦 𝐇𝐢𝐦𝐦𝐞𝐥
Die zerzausten Haare kamen nicht im entferntesten an das Chaos in meinem Kopf heran.
Ich spürte noch immer den Druck auf meinen Lippen, zwar nur hauchzart, doch fest genug,
um diesen Kuss niemals bezweifeln zu können.
Der Traum wiederholte sich sobald ich meine Augen schloss und wenn ich sie öffnete,
blickte ich nur meinem ausdruckslosem ich im Spiegel entgegen. Ich war verwirrt, weil ich es wieder tun wollte. Nicht aus einem Bedürfnis heraus, viel mehr fühlte ich mich davon abhängig. Abhängig von der Wärme in seinen braunen Augen. Süchtig nach seinen Berührungen, die jeden Zentimeter meiner Haut betäubten, um gleich zu meiner Seele vorzudringen.
Aber es war falsch. Manchmal zweifelte ich an meiner geistlichen Gesundheit. Milan existierte doch gar nicht! Vielleicht hatte ich mir mit meinen siebenundzwanzig Jahren tatsächlich noch einen Phantasiefreund ausgedacht. Eventuell träumte ich das alles auch nur. Neben der Frau, die einen Baum heiratete würde ich in die Klatschzeilen mit 'eine Frau, die ihren wortwörtlichen Traumpartner heiratete' kommen.
Egal wie sehr ich mich nach Milan sehnte, das Gefühl etwas Falsches zu tun, hielt mich von ihm ab. Tief in mir, hörte ich seine verzweifelten Rufe, doch ich ignorierte es. Mit dem Tod zu spielen, bedeutete das Schicksal herauszufordern.
Ich wischte mir ein letztes Mal über die Lippen, so als könnte ich damit auch die Erinnerungen löschen. Mein Finger blieb an einer schmerzenden Stelle hängen, da entdeckte ich den feinen Riss, der sich durch meine Unterlippe zog. Bei näherem Hinsehen musste ich feststellen, dass ich meine Gesichtspflege in letzter Zeit wohl ziemlich vernachlässigt hatte. Trockene Schüpfchen blätterten im Stirnbereich von meiner Haut. Es musste am Sonnenbrand liegen und Aloe Vera würde helfen. Nachdem ich die Creme aufgetragen hatte, musste ich raus aus diesem Zimmer, am besten auch aus diesem Haus. Den Druck, den Milan auf mich ausübte, spürte ich mittlerweile beinahe physisch.
Verstand er denn nicht, dass es für ihn nur den Tod gab? Wieso musste er ausgerechnet mich in eine Welt hineinziehen, die ich nicht ansatzweise verstand? Ich musste leben und nicht für den Rest meines Lebens schlafen, nur um bei ihm sein zu können. Ich war nicht Dornröschen und das Leben kein Märchen.
Also flüchtete ich. Zunächst in das Badezimmer, wo ich mir Friedas Schminktasche schnappte. Sie besaß hauptsächlich dunkle Kosmetikprodukte, was so gar nicht zu mir passte, doch daran sollte es nicht scheitern. Mein Zimmer würde ich heute nicht mehr betreten, denn dort spürte ich Milan am meisten. Während ich meine Wimpern nur tuschte, färbte ich meine Lippen in einem dunklen Rotton. Der Riss verschwand, genauso wie die anderen Makel unter der teuren Kosmetik. Friedas Zwang ihr Gesicht zu verstecken, spielte mir gut zu.
Zum Glück hatte ich meine Kleidung schon am Abend zuvor im Badezimmer zurecht gelegt. Ich schob den Saum des schlichten weißen T-Shirts unter den halb transparenten Maxirock und ging mit meiner Umhängetasche als I-Tüpfelchen aus dem Haus.
Das Stechen in meiner Brust verdrängte ich. Mir stand ein Leben nach meinen Vorstellungen zu, damit rechtfertigte ich mein Verhalten. Den einzigen Fehler, den ich begann, lag darin, Milan Hoffnungen gemacht zu haben, dass ich ihm helfen könnte. Das konnte keiner, nur er selbst, indem er herausfand, an was er so verbissen festhielt.
Wir wären zwar erst heute Abend verabredet gewesen, doch ich rannte zu Nelio, als sei er meine letzte Rettung. Meine Beine stolperten wie von selbst den Berg hinunter. Dabei blendete ich die Stände und Menschen aus. Mir fiel nur ein, dass Frieda und Theo heute den Wochenmarkt besuchen wollten und ich wieder verschlafen hatte. Genau deswegen war es falsch, auch wenn es sich so verdammt gut anfühlte!
Mir stieg mit jedem Schritt die Verzweiflung höher, bis sie mir die Luft abschnürte.
Nelio leerte gerade ein volles Tablett an einem vollbesetzten Tisch aus. Mich konnten keine zehn Pferde aufhalten, als ich geradewegs auf ihn zusteuerte, nur um meine Hände um seinen Rumpf zu schlingen. Ich lauschte seinen ruhigen Herzschlägen, die stetig mehr wurden.
"Hey... alles... okay?" Völlig überfordert stotterte er, während seine Hände sanft über meinen Rücken streichelten. Nein, doch ich schwieg, wie so oft.
"Ist es in Ordnung, wenn ich mich hier an einen Tisch setze und auf dich warte? Ich bestelle auch fleißig Getränke, damit sich keiner beschwert", plapperte ich drauf los.
Er ließ seine eisblauen Augen über mein Gesicht wandern. "Spinnst du?", schnitt seine Stimme meine Anspannung entzwei. Ich schluckte, weil er vermutlich Recht hatte, aber es aus seinem Mund zu hören, tat weh. "Dir geht's nicht gut und ich nehme mir jetzt frei und wenn sie es nicht akzeptieren, dann müssen sie sich ein anderes Helferlein suchen."
So meinte er es also. Mein Mund klappte auf, um Widerspruch zu leisten, doch da hatte er mir schon längst den Rücken zugewandt.
Ich beobachtete, wie er mit der jungen Frau mit dem Pferdeschwanz diskutierte. Sie gestikulierte in Richtung der vollen Strandbar, doch auch er blieb standfest. Deren Aufmerksamkeit landete kurz auf mir, was mich vor Peinlichkeit vom einen Bein auf das nächste wippen ließ. Ich starrte auch nicht mehr zu ihnen, sondern zum Meer hin. Es präsentierte sich wie immer in seinem schönsten Blau.
"Weißt du, wie ich meinen Kopf frei bekomme?" Nelio lehnte sich in mein Sichtfeld. Er trug eine Kappe verkehrt herum auf seinem Kopf, was ihm ziemlich gut stand. Es unterstrich seine jugendlich wilde Seite. Langsam schüttelte ich den Kopf. "Tut mir leid, dass ich dir, oder dem Lokal solche Unannehmlichkeiten bereite", musste ich vorher loswerden. "Kein Problem. Ich übernehme morgen den ganzen Tag." Das hieß dann von zehn Uhr morgens bis zwölf Uhr in die Nacht. Jetzt tat es mir noch mehr leid. "Emi... Schau nicht so. Ich freue mich den ganzen Tag mit dir verbringen zu können. Das ist es wert." Ein schiefes Schmunzeln erschien um seine Wangen.
"Jetzt komm." Er nahm meine Hand in seine und ich folgte, zu wem, oder was auch immer er vor hatte.
Wir kamen relativ schnell vom asphaltierten Weg ab und landeten direkt auf einem Wanderweg. Meine Oberschenkel rieben aneinander und unter meinen Sandalen sammelten sich Steinchen. "Hättest du mir verraten, was du vorhast, hätte ich ein anderes Outfit gewählt", jammerte ich genervt. "Du hast mir keine Zeit gelassen", lachte er, worauf ich unter der prallen Sonne nur schnaubte.
Als die ersten Schweißtropfen meine Schläfen entlang rannen, zog er seine Kappe aus und setzte sie mir auf. Ich mochte diese Form der Aufmerksamkeit. Es schien als sei er nur darauf bedacht, mir Gutes zu tun. Er sorgte sich. "Ich habe auch Trinken dabei." Sein Blick glitt kurz zu seinem Rucksack, doch mir war nach etwas anderem. Ich fischte nach den Zigaretten in meiner Tasche und zündete eine davon zwischen meinen Zähnen an.
Die Rechnung hatte ich ohne Nelio gemacht. Er zog mir den qualmenden Stängel zwischen den Lippen hervor und drückte ihn auf den Steinen vorsichtig aus. "Erstens gefährdest du damit deine Gesundheit, das mag ich nicht, aber es geht mich auch nichts an. Andererseits machst du mich aber zum Passivraucher, was für mich hundert mal schädlicher ist. Außerdem gibt's hier keinen Aschenbecher und die Natur ist viel zu schön, um von sowas beschmutzt, oder gar in Brand gesetzt zu werden. Steck sie dir für später ein." Meine Augen zogen sich mit jedem weiteren Satz zu schmäleren Schlitzen zusammen. "Du nervst!", schnauzte ich ihn an und stampfte an ihm vorbei.
Wieso war ich nochmal ausgerechnet zu ihm geflüchtet? Ich hätte lieber meine Freunde aufsuchen sollen. Die konnten zwar auch nervig sein, aber nicht wie er gerade.
Mittlerweile schaffte ich es die Dächer von Dubrovnik zu überblicken. Je höher wir kamen, desto weniger Sträucher zierten den Wegesrand. Er bestand fast nur noch aus felsigen Wänden zu meiner linken Seite und dem tiefen Abgrund zu meiner rechten. Meine Lungenflügel schmerzten, was mich allerdings meine Sorgen vergessen ließ. Die Sonne ging langsam unter und der Wind bedeckte meine Haut mit einer feinen Gänsehaut. "Das reicht doch Emiliana, oder?"
Erst jetzt bemerkte ich seine Anwesenheit wieder. Mein ganzer Körper zitterte vor Erschöpfung. Ich setzte mich einfach auf den Boden und bewunderte die letzten Strahlen, die von den Wellen an Land gespült wurden. In mir zog eine Ruhe ein, die nur von meinen tiefen Atemzügen unterbrochen wurde.
"Geht's dir jetzt besser?" Seine Oberschenkel berührten meine. "Ich hoffe du magst Käsetoasts." Davon reichte er mir eins, indessen er sich selbst die Backen vollstopfte. Ich zwang kleine Bissen in mich hinein, doch mir ging's tatsächlich besser. "War klar, dass ein Mann wie du sowas macht, um den Kopf frei zu bekommen", scherzte ich sogar wieder beim Anblick seiner trainierten Waden. "In Sizilien ist das Fitnessstudio wirklich mein zweites Zuhause, aber da trainiere ich stumpf den Stress ab und sobald ich im Bett liege kommt schlagartig alles wieder zurück. Das hier ist wirklich Medizin."
Auch er starrte in die Ferne.
Seine perfekt getrimmten Bartstoppeln waren länger geworden. Erst jetzt sah ich von seinen so ausdrucksstarken Augen hinweg und überflog die tiefen Schatten, die sein Gesicht älter wirken ließen. Er schien erschöpft, nicht nur von dieser kleinen Wanderung. "Was verursacht den Stress?", wollte ich wissen.
"Mein Studium. Zu lernen und arbeiten ist eine Sache, aber es ohne Interesse zu tun ist die wahre Qual. Meine Mamma hat mich alleine groß gezogen und ich will sie nicht enttäuschen, deswegen mache ich weiter." Dabei schenkte er mir ein Lächeln, was mir wohl die Sorgen nehmen sollte, doch ich sah die Last die seine Mundwinkel wieder nach unten trieb.
"Jede Mutter will doch, dass ihr Kind einfach nur glücklich ist. Sag ihr, dass du ihr Geschäft nicht übernehmen kannst und lieber was Handwerkliches erlernen möchtest.", fügte ich seinen Gedanken hinzu. "Jede Mutter denkt auch, sie wüsste, was für ihr Kind am besten ist." Darauf stieß er ein unechtes Lachen aus. Noch ein Mensch mit noch mehr Problemen und ich, die sich um jeden kümmern wollte, obwohl ich es nicht schaffte.
Plötzlich blitzte es neben mir. Nelio hielt sein Handy in seiner Hand und ich zählte eins und eins zusammen. "Für die Erinnerung", erklärte er mir, bevor ich danach fragen konnte. "Mein Reise endet in wenigen Tagen und du warst wirklich eine besondere Begegnung." Sein Kiefer spannte sich an und mir verging der Appetit komplett. Zwar kannten wir uns erst seit kurzer Zeit, doch die Vorstellung schmerzte bereits ihn einfach so gehen zu lassen, so als hätte er nie eine Bedeutung gespielt.
Wir traten den Rückweg an. Die schlechte Stimmung legte sich über uns und verstummte unsere Stimmen. Er ließ es sich jedoch nicht nehmen, mir noch ein Eis zu spendieren. Nelio nannte es eine Entschädigung für den holprigen Weg, doch was mir wirklich gut tat, war meine Hand in seiner und das kalte Wasser unter meinen Füßen. Wir gingen am Ufer entlang zurück. Die größten Menschenmassen hatten sich verzogen und nur die Bars spielten ihre Musik.
"Darf ich die Nacht bei dir verbringen?" Es überraschte mich selbst, diese Worte aus meinem Mund zu hören.
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