𝐗𝐈𝐈𝐈 𝐕𝐞𝐫𝐟𝐨𝐥𝐠𝐞𝐫

...𝐮𝐧𝐝 𝐕𝐞𝐫𝐟𝐨𝐥𝐠𝐭𝐞

"Deine kurzen Beinchen taugen nichts, Prinzesschen", schrie Theo, während ich ärgerlicher Weise nur noch seinen rot schimmernden Hinterkopf zu sehen bekam. "Na warte!", schimpfte ich zurück und gab nochmal Gas. Wie beim Bockspringen stütze ich mich auf seine Schultern und sprang auf seinen Rücken. Unter meinem Gewicht knickte er ein, doch zu einem Sturz kam es Gott sei Dank nicht. Er lachte und fluchte zugleich. "Du verdammte Hexe!" Er rannte mit mir als menschlichen Rucksack weiter, balancierte uns zwischen den Menschen und den ganzen Wasserattraktionen hindurch.

Wir besuchten einen Aquapark, ganz gegen den Willen von Frieda. Sie hockte auf ihrem Handtuch, geschützt von einem Baum im Schatten. "Na endlich", murrte sie, als sie uns entdeckte. Sie hielt uns unsere Handtücher entgegen und ich kletterte von meinem besten Freund herunter. "Ihr habt eine Stunde für eine blöde Rutsche gebraucht und ich verdurste hier", beschwerte sie sich weiter. Gleichzeitig erhob sie sich und klopfte sich die trockenen Glashalme von den Beinen. "Wollt ihr auch was trinken? Wir haben leider nichts mitgenommen." Nebenbei suchte sie bereits im Rucksack nach ihrem Portemonnaie.

"Och sei nicht so, ich komme auch mit. Wasser macht hungrig. So eine Pommes wird jetzt nicht schaden." Theo rieb sich über seinen runden Bauch. "Könnt ihr mir einfach ein Wasser mitbringen? Ich brauche eine Pause", gab ich außer Puste zu. "Raucherlunge", hüstelte Theo belustigt, was ich gar nicht so witzig fand, weswegen er nur ein sarkastisches "haha", als Antwort erhielt.

Die beiden wandten sich ab und ich pflanzte mich auf Friedas Handtuch. Aus allen Richtungen vernahm ich wildes Geschrei und Lachen. Überall plätscherte Wasser und die Luft roch nach einer Mischung aus Imbissbude und Chlor. Herrlich. Ich legte meinen Kopf in den Nacken und genoss die Hitze, die jeden Tropfen auf meiner Haut einfach so verdunsten ließ.

Ein echter Fluch der Neuzeit war das verdammte Handy, welches sich nun dazu entschied meine Ruhe zu stören.
Blind kramte ich in dem Rucksack, bis ich aus drei Smartphones mein eigenes erwischte.

Dinos Name leuchtete stetig auf dem Bildschirm auf. Okay, das hellte mein Gemüt dann doch auf.

Wieder startete er ein Videogespräch.
Seine dunkelbraunen Haare standen strähnig in alle Richtungen. Sein entblößter Oberkörper funkelte feucht. Schade, dass Frieda das nicht sehen konnte. Er musste erst zu Luft finden, ehe ein simples "Hallo", folgte.
"Hattest du Sex, oder bist du anderweitig sportlich beschäftigt?", fragte ich ihn. Er wackelte nur anzüglich mit den Augenbrauen, bevor die Kamera seinen definierten Sixpack und letztendlich das Laufband aufnahm. Elf Kilometer zählte die Anzeige. Nicht schlecht, nickte ich beeindruckt.

"Und überhaupt Frau Sokolov verbiete ich Ihnen solch eine Ausdrucksweise. Ich bin Ihr Chef!" Ja, ja... Über dieses Getue waren wir schon längst hinüber.

Er lächelte charmant wie eh und je. "Wie geht's dir? Hast du immer noch vor zurück zu kommen?", schoss er gleich mit der Tür ins Haus. "Ja, aber ich muss hier noch was erledigen", gab ich zu und dachte sofort an Milan.
"Was denn? Noch ein Grundstück kaufen, oder gleich eine Yacht?", scherzte er.

"Nichts der Gleichen." Er bemerkte scheinbar meine plötzlich angeschlagene Stimmung. "Was ist los? Deine Augenringe sprechen für sich, aber ich dachte das kommt davon, dass du dir die Nächte mit deinen Freunden um die Ohren schlägst." Jetzt, wo er es ansprach, fielen mir auch die dunklen Abgründe in meinem Gesicht auf. "Schön wär's." Meine zerknirschten Laute raubten ihm die letzte Belustigung.

"Soll ich dir alles aus dem Näschen ziehen, oder erzählst du mir, was dich so belastet?" Es bereitete mir immense Schwierigkeiten, die richtigen Worte zu finden. Ich konnte ihm ja kaum von meinem untoten Freund erzählen, der ein Trauma von seiner Ermordung erlitt. "Da ist ein Mann, der etwas wirklich Schlimmes erlebt hat, aber damit abschließen muss, weil er so nicht weiter machen kann. Das Problem ist, dass er sehr gereizt reagiert, wenn man das Thema nur anspricht und ich habe nur noch begrenzt Zeit, um ihm zu helfen."

Er zog sich seine rechteckige Brille über, um sich von Dr.Dino in Professor Dino zu verwandeln. "Herr Gott Emi, du nimmst es aber auch sehr genau mit der Schweigepflicht. Wie soll ich dir mit diesen drei Informationen helfen?" Seine Augenbrauen wanderten auf der Suche nach einer Lösung zusammen.
"Andererseits, kann ich dir dazu nur sagen, dass es nicht geht. Heilung braucht Zeit und wenn du diese nicht hast, dann lass es, bevor du es noch schlimmer machst. Außerdem hört es sich so an, als wolle dieser Mann sich nicht wirklich helfen lassen und die wichtigste Regel lautet: Der Patient muss sich aus freien Stücken für die Hilfe entscheiden. Vorher geht gar nichts, ob mit, oder ohne Zeit."

Das war mir auch alles ohne den Crashkurs in Psychologie bewusst, nur kannte er die Details nicht, die das Ganze so komplizierter gestalteten. Da mir sein Rat also nichts brachte, gab ich ihm einfach Recht.

"Man, man, man, da arbeitet sie heimlich im Urlaub. Schwarzgeld beziehst du aber nicht, oder?" Wenn ich ihn so lachen sah, da zuckte meine Wadenmuskulatur. Ich wollte losrennen und ihn in die Arme nehmen. In den Pausen hockte ich immer auf der Couch auf der sonst seine Patienten saßen und wir tranken zusammen Kaffee. Dabei tratschten wir über Kollegen und rätselten über Patienten. Hauptsächlich lachten wir aber. Von all den Menschen, die ich kannte, wuchs er zu meiner nächsten Bezugsperson heran, einem Bruder, den ich leider nie hatte. Dino würde mich niemals im Stich lassen.

Das einzige was mich von seiner hübschen Fassade ablenkte war dieser noch hübschere Rücken am Beckenrand. Da ließ jemand seine tätowierten Schultern kreisen und hätte damit Chancen auf dem Cover der Vogue zu landen. "Erde an Emi, ist Theo ins Becken gesprungen und hat einen Tsunami ausgelöst? Kletter auf den Baum im Fall der Fälle." Jemand anderem hätte ich es übel genommen, doch Theo und Dino ärgerten sich ständig gegenseitig, ohne es sich böse zu nehmen. Sie mochten sich auf eine spezielle Art, aber ehrlich, Dino böse zu sein, gestaltete sich auch sehr schwer.

Als mir der Typ am Beckenrand seine genauso ansprechende Front präsentierte, verstand ich, wieso ich so ungeniert starrte. Ich erkannte ihn. "Nelio", hauchte ich seinen Namen. "Oh oh, allein der Name ist ja schon eine Versuchung. Hat's dich erwischt, Emilein?" Dinos Augenbrauen hüpften anzüglich. "Ganz bestimmt nicht." Ich schüttelte meinen Kopf, verspürte aber den Drang, mich zu meiner neuen Bekanntschaft zu begeben. "Du, ich muss jetzt aber auflegen", kürzte ich unser Gespräch, was wir zu jeder anderen Zeit ja fortsetzen konnten.

"Da hat sie mich doch tatsächlich gegen einen anderen Sixpack ersetzt", klang er gespielt empört, während er seine Hand auf seiner linken Brust platzierte. "Verwechsel mich nicht mit deiner Exfrau." Normalerweise hätte ich sowas nicht gesagt, doch Dino war froh, dass seine Mira ein neues Opfer gefunden hatte. Das brachte die Ärmste dazu, endlich die letzte Unterschrift zur endgültigen Trennung zu setzen. Auf diesen Schlussstrich wartete Dino schon seit Jahren, nachdem seine Frau ihn das erste Mal noch mit einem ganz anderen Mann betrogen hatte. Ich konnte die verwöhnte Göre noch nie leiden.

"Autsch... Naja, dann wünsche ich dir mehr Glück mit Neeelio. Schnapp ihn dir Tiger und lass dich nicht von deinem alten Professor aufhalten", säuselte er, worauf ich wieder nur den Kopf schüttelte. Wenigstens nannte er ihn nicht Salvatore wie Theo es tat, oder Schönling, oder sonst wie. "Bis bald, alter Herr", verabschiedete ich mich und ging schnurstrak auf mein Ziel zu.

"Verfolgst du mich?", ertönte meine Stimme härter als gewollt. Nelio flog fast wieder ins Becken, doch er fing sich sofort wieder, nachdem er mich erblickte. "Das fragt die, die aus heiterem Himmel hinter mir auftaucht." Seine Mundwinkel wanderten hinauf, bis sie seine Augen erreichten. Das mochte ich an ihm, seine echte Freude, vor allem, wenn es um mich ging.

Tatsächlich zierte seine linke Brust ein altes Modell eines Sportwagens, was mich daran erinnerte, dass er Mechaniker werden wollte. Es wurde originalgetreu gestochen und an den richtigen Stellen schattiert. "Dein Traumauto?" Ich tippte auf seine Brust, worauf sich der besagte Muskel unter meinem Finger anspannte. "Nein, mein Auto." Er schmunzelte wie ein kleiner Junge, dem man ein Bonbon hin hielt. "Ich habe es vom Schrottplatz gefischt und repariert", verkündete er voller Stolz. Respekt. Mich überforderte schon der Drucker an der Arbeit.

Mich durchfuhren tausende von Stromschlägen als er nach meiner Hand griff. "Wo sind deine Grenzen?" Was genau meinte er? Er schaute von mir ab, in die Höhe. Seine andere Hand lag an seiner Stirn an, um seine Augen vor der Sonne zu schützen. In seinem Sichtfeld lag die höchste Wasserrutsche. Sie verlief so steil, dass die Leute mehr fielen als rutschten. Das hatte ich gewiss meiner großen Klappe zu verdanken. Also meine Grenzen waren definitiv bei der Hälfte der Rutsche und keinen Meter weiter.

Bevor ich ihm das auch mitteilen konnte, zog er mich bereits auf den Weg. Verdammt, ich durfte keinen Rückzieher machen und verdammt meine Zähne klapperten aufeinander. "Keine Angst, Bellezza, ich mach's dir vor und fange dich dann unten." Ich kniff die Lider zusammen, weil er mit mir redete wie mit einem Kleinkind. Jetzt musste ich mich erst Recht trauen.

Eine Stufe nach der anderen stiegen wir empor und mit jeder weiteren, verringerte sich die Luft in meiner Lunge. Mittlerweile klapperten nicht nur meine Zähne, sondern auch jeder andere Knochen in meinem Körper. Theo sagte die Wahrheit. Dieser Mann bedeutete eindeutig Ärger. Am liebsten hätte ich ihm das Grinsen aus dem Gesicht gewischt, welches mit jedem Blick auf mich noch breiter wurde.

"Nelio, ich weiß nicht, ob ich das schaffe", gab ich oben angekommen doch zu. Mein Herz würde stehen bleiben, wenn sich der Boden unter mir öffnete. Nur noch ein Mann stand vor ihm in der Schlange und wurde gerade mit den Sicherheitshinweisen belehrt.

Nelio schenkte mir in den letzten Sekunden seine gesamte Aufmerksamkeit. "Als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, dachte ich mir, dass du eine Frau bist, die alles schaffen kann. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der mehr Souveränität und Mut ausstrahlt." Seine Hände lagen beide fest um meine Wangen und beendeten kurzfristig die Vibration aus meinem tiefsten Inneren. Wenn er ein Aufreißer war, dann spielte er sein Spiel gut. Ich nahm jedes Wort direkt von seinen Lippen und schrieb es fest in eine Bibel, indessen ich zur Gläubigen mutierte.

Der Moment endete schlagartig als Nelio sich rückwerts von mir entfernte. Er zwinkerte mir ein letztes Mal zu, bevor er in die geschlossene Kuppel stieg. Er fiel wie ein Engel auf die Erde, ohne auch nur eine Grimasse zu ziehen. Und da nannte er mich souverän. Mich, die hier gleich wegen eines Nervenzusammenbruchs von einem Helikopter abgeholt werden musste. "Madame, kommen Sie", wieß mich der Angestellte auf die Stelle des Grauens und ich tat es einfach. Durch die enge Schlange ging es sowieso nicht mehr zurück. 'Nur ein Sturz, eine Sekunde, dann ist es vorbei', machte ich mir Hoffnungen.

Mein Körper fühlte sich taub auf den letzten Metern an. Ich hörte niemanden und beachtete auch nichts. Da gab es nur meinen Körper, der gleich wie ein lebloser Sack durch dieses Loch stürzen würde.

Und dann war es so weit. Der Boden öffnete sich und ich flog. Die Angst verschwand und nahm alles irdische mit sich. Für eine Zeit, welche eine Uhr nicht zu messen schaffte, glitt ich ins Unwirkliche, fernab von menschlichen Emotionen. Noch nie konnte ich mich so distanziert von Beschwerden und gleichzeitig so nah an mir selbst fühlen. Aber wie gesagt, dieses Gefühl brach ab, nachdem die Schwerkraft mich auf das harte Metall der Rutsche quetschte. Das kalte Wasser katapultierte mich wieder ins Hier und Jetzt und ich lachte. Noch unten im sicheren Becken angekommen, schrie ich vor Vergnügen. Adrenalin flutete meinen Körper wie die beste Droge aller Zeiten.

Nelio wartete tatsächlich mit einem dicken Grinsen im Gesicht. Seine Arme streckte er links und rechts von sich, um sich am Rand zu stützen.
Mein rauschendes Blut sackte komplett in untere Regionen ab. Selbst die Schmetterlinge hatten das Adrenalin getankt. Angetrieben von ihnen schwamm ich auf den Italiener zu, dessen Lächeln langsam ertstarb. Er fokussierte mich so gierig an wie ein Wolf seine Beute. Kaum kam ich bei ihm an, berührten wir uns, als hätten wir beide eine Ewigkeit darauf gewartet. Seine Hände tasteten sanft nach meinen Hüften, während meine Halt auf seiner straffen Brust fanden.

Mir wurde heiß und kalt zur selben Zeit. Ich war süchtig danach, mich diesen eisblauen Augen auszuliefern. Sein Gesicht näherte sich meinem, bis unsere Nasenspitzen einander trafen. Flüssige Lawa floss durch meine Adern und erreichte selbst meine schwebenden Zehen.

"Ahhhhhhh!" Ein Schrei riss uns auseinander und kurz darauf tränkte uns eine Welle in kaltes Wasser. Nelio wischte sich übers Gesicht und übrig blieb ein enttäuschtes Lächeln. Ehrlich gesagt, wurde auch mir etwas flau im Magen. Die andere Person verschwand, als auch er sich über dem Beckenrand erhob. Er reichte mir beide Hände, zog mich mühelos hinauf und behielt meine Hand fest in seiner. So liefen wir stumm zurück zu unserem Plätzchen unter der Kiefer.

Ich musste nicht Lippen lese können, um zu erkennen, dass Theo ein "na toll", abließ, kurz nachdem er uns entdeckte. Frieda schlug ihm gegen die Schulter und ermahnte ihn.

"Hey Kumpel, tut mir noch mal leid, wegen diesem Missverständnis", entschuldigte Nelio sich erneut, sobald wir vor meinen Freunden stehen blieben. Diesmal merkte ich ihm die Verzweiflung wirklich an, doch wenn Theo sich erstmal dazu entschied, jemanden nicht zu mögen, dann war er nur schwer umzustimmen. Er nickte nur, antwortete aber nicht, was mich diesmal doch ernsthaft wütend stimmte. "Emi, ich würde dich morgen gerne zum Abendessen ausführen, wenn es für euch alle okay ist." Mehr als okay, flatterten die bunten Flieger in meinem Bauch fleißig weiter. Mein Kopf wackelte energisch auf und ab.

"Ich lass euch dann Mal in Ruhe. Danke für die schöne Zeit, Bellezza." Dabei drückte er mir einen warmen Kuss auf die Wange. Sein Bart kitzelte angenehm, während sein warmer Atem meinen Hals hinab streifte.

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