𝐗𝐈𝐈 𝐃𝐞𝐫 𝐓𝐚𝐠

... 𝐝𝐞𝐫 𝐳𝐮𝐫 𝐍𝐚𝐜𝐡𝐭 𝐰𝐮𝐫𝐝𝐞

Ohne sich zu verabschieden, war Emiliana aus ihrem Traum verschwunden. Sie schnappte sich einen Rucksack und murmelte noch ein "bis dann", vor der Haustür. Es endete für meinen Geschmack viel zu schnell, doch mich überkam langsam das Gefühl, diese Frau konnten keine zehn Pferde aufhalten, wenn sie sich etwas in den Kopf setzte.

Ganz zu meiner Überraschung betrat sie das Haus aber auch wieder als erste, noch lange vor ihren Freunden. Sie schmiss sich sofort in ihr Bett und fand in Windeseile in den Schlaf. Neugierig folgte ich ihr, doch diesmal konnte ich blinzeln ohne Ende, alles blieb einfach in ein tiefes Schwarz gehüllt. "Nimm ja nicht die Augenbinde ab!", warnte sie mich und jetzt ergab alles einen Sinn. "Es ist seltsam. Ich hatte noch nie luzide Träume, aber wenn du dabei bist, kann ich mir diese Welt ausmalen, wie ich will." Sie gestaltete also ein ganzes Szenarium, während ich nur blind herum stand und nervös auf meiner Unterlippe kaute.

Es wurde schlagartig wärmer, ganz so als hätte sie die Sonne direkt vor meiner Nase platziert. Ich inhalierte einen Duft, der dem Wald sehr ähnelte, nur viel süßer und fruchtiger. "So", vernahm ich es ganz nah an meinem Ohr, als sich ihre Finger an meinem Kopf zu schaffen machten.

Die Dunkelheit wich einem paradiesischen Farbspektrum. Zwischen zwei Strandkiefern direkt an den hohen Klippen lag eine weiß-rot karierte Picknickdecke.
Emiliana setzte sich bereits darauf, doch ich musste erstmal klar kommen. Ich drehte mich um meine Achse, doch realisierte es trotzdem nicht. Ein Häschen mit buschigem Fell hüpfte auf mich zu und schnupperte an meinen Beinen, während in der Ferne ein Pfau seine glänzenden Federn ausfächerte.

Ich wusste sofort, wo ich mich befand und es war noch schöner als in meiner Vorstellung. Allerlei Vögel zwitscherten durch die hohen Baumkronen. Die Sonne schimmerte wie flüssiges Gold durch die Blätter.

Immernoch auf die Gegend fixiert, setzte ich mich langsam zu der Frau, die das alles ermöglichte. Unter uns warfen sich die blauen Wellen gegen das graue Gestein und Dubrovnik wirkte so klein aus der Ferne. Es tat so unheimlich gut diese Stadt von außen zu sehen und nicht mehr in ihr gefangen zu sein. Meine Probleme ließ ich dort. Mein Glück empfing ich hier.

"Also, ich habe mir jetzt natürlich die vielen lästigen Touristen weggedacht, die hier runter gesprungen sind. Ansonsten müsste alles original getreu dargestellt sein." Sie prüfte noch einmal das Ergebnis ihrer Phantasie. "Du warst hier? Wegen mir?", wollte ich völlig überrumpelt wissen. "Ja, als du mir erzählt hast, dass du unbedingt hier her wolltest, habe ich mich daran erinnert, dass auf einer Werbetafel am Strand ein Ausflug angeboten wird." Aus ihrem Mund klang es, als würde sie mir von ihrem Einkauf schildern, so alltäglich.
Wusste sie eigentlich wie verrückt ihre Spontanität daher kam, oder wie groß ihr Herz war? Wahrscheinlich nicht. Doch ich würde ihr diese Geste niemals vergessen.

Wie eine unruhige Ameise wuselte sie von einem Ort zum nächsten und lebte damit das Maximum an Freiheit. "Ich mag dich sehr", sollte es einem Dankeschön gleich kommen. "Oh, also... ich meine, das ist toll", stotterte sie und schob sich die braunen Strähnen hinter ihre Ohren. Am liebsten hätte ich diese kleine Geste der Unsicherheit übernommen, doch Berührungen waren mir noch immer fremd. Wer wusste, ob es funktionieren würde und am Ende hätte ich mich vielleicht nur blamiert.

Emiliana lenkte ab, indem sie zwei Weingläser aus einem Pflechtkorb packte und diese mit weißem Wein versah. In Gedanken dankte ich ihr erneut, dass sie keinen Rotwein gewählt hatte. Jegliche rote Flüssigkeit, erinnerte mich an Blut.
"Ich hoffe, er schmeckt dir."

Und wie er das tat. Ich zählte nie zu den Weinliebhabern, doch nach mehr als zwanzig Jahren Geschmacksverlust zählte diese Flasche zu meinen Lieblingen. Kalt und säuerlich bahnte sich das Getränk meinen Gaumen herunter. "Eigentlich kann ich nichts mehr schmecken, aber ich sagte ja, diese Insel vollbringt Wunder." Darüber lächelte sie stolz und das durfte sie auch sein. "Das bedeutet mir sehr viel, dass du meinen letzten Wunsch noch erfüllt hast", sagte der Tote. Wie ironisch.

Sie winkte ab. "Ach was, der Ausflug hat Spaß gemacht. Am liebsten würde ich jeden Fleck dieser Welt einmal sehen." Den selben Wunsch hegte ich vor langer Zeit auch. "Du bist mir trotzdem was schuldig. Ich bin ein absoluter Nachtmensch und jetzt träume ich sogar in der Nacht vom Tag. Weißt du, alles kann schön sein wie es will, in der Nacht wird es erst mystisch", rebellierte sie gegen die helle Sonne.
Zum ersten Mal erzählte sie mir was über sich und ich hing gebannt an ihren Lippen. Ich wollte der erste sein, der ihre Geheimnisse lüftet, sie versteht bis ins kleinste Detail.

"In deinem ersten Traum, da bist du Skateboard gefahren. Was war das für ein Ort?" Der Plattenbau ging mir seither nämlich nicht mehr aus dem Kopf.

"Keine Ahnung. Ich kann mich kaum noch an den Traum erinnern." Sie log, doch an ihrer plötzlich so tiefen Stimmfarbe konnte ich erkennen, dass sie eine Grenze zog. Auch wenn Enttäuschung sich breit machte, wäre ich der letzte gewesen, der diesen Traum zerstört. Also schwieg ich.

"Ich habe lange nachgedacht und ich glaube, du musst deinen Tod verarbeiten, um loszulassen." Sie nahm eine sehr scharfe Kurve in Richtung Verderben, ganz nebenbei bemerkt, meinem eigenen. "Und wie soll das gehen?", fragte ich aus reiner Höflichkeit, da ich hier auf Lokrum nicht über den schrecklichsten Zeitpunkt meines Lebens spekulieren wollte. "Du musst dich deinen Ängsten stellen! Was ist passiert Milan? Kannst du es mir erzählen?" Also dafür, dass sie zur Psychologin ausgebildet wurde, ging sie nicht sehr feinfühlig an die Sache heran.

"Muss das jetzt sein?" Meiner Stimme schwang eine ganze Portion Trotz mit. So klang das immer, wenn meine Mutter sich dazu entschlossen hatte, Spinat zu servieren. "Wir sollten es probieren, wenn du diese Welt verlassen willst. Oder willst du es nicht? Denk nach, gibt es vielleicht etwas, dass dich hält?" Genau in diesem Augenblick war mir mehr nach bleiben, da es dem Leben sehr nahe kam. Aber ich wusste auch, dass es nicht ewig so bleiben würde. Auch eine Emiliana müsste irgendwann wieder gehen.

"Emiliana, ich wurde ermordet! Natürlich gibt es da einen Teil in mir, der das unfair findet und einfach weiter leben will. Dann wären da nur hunderte von diesen Geistern in dieser verfluchten Stadt, aber nein, da ist nur dieser eine gruselige Mann, der gekreuzigt an seiner eigenen Hauswand hängt. Zieh' so einen Scheiß niemals bei deinen Klienten ab. Die sind danach noch verstörter als vorher.", erleichterte ich mich von dem ganzen Frust, der mich mittlerweile unter sich begrub.

Zerbrechlichkeit spiegelte sich in ihren glasigen Augen wider. "Es tut mir leid", hauchte Emiliana bitter zart, als sich die erste Träne aus ihrem Augenwinkel löste. Meine Schuld verwandelte den restlichen Traubengeschmack auf meiner Zunge in Galle. Diese unglaubliche Frau verschwendete ihre Zeit an mich, gab sich Mühe und so revanchierte ich mich. Mama lehrte es mich einst anders. Sie sagte immer, wenn du ein Mädchen zum Weinen bringst, dann musst du auch den Mut aufbringen, ihr Lächeln wieder zu finden.

Es kostete mich enorme Überwindung, doch ich sprang über meinen toten Schatten und legte meine Arme schützend um ihre kleine Gestalt. Warm und fest schmiegte sich dieser Fremdkörper an mich. So neu und doch natürlich, spürte ich meine eigenen Muskeln arbeiten. "Schließ deine Augen", flüsterte ich ihr direkt vor's Ohr und hoffte inständig, dass sie meiner Bitte nachkommt. Ich malte ihr die Welt, ganz so wie sie ihr gefällt.

Sie liebte den Mondaufgang. An jenem Tag schien er exklusiv für sie, in seiner größten Form und im reinsten Weiß. Die Sterne tanzten wie seine vertrauten Kinder um ihn herum. Wobei die Diamanten des Himmels ein milchiger Schleier umhüllte. Dubrovniks Einwohner schliefen heute nicht. Aus deren Häusern, die wir aus der Ferne sahen, flutete Licht. Es spiegelte sich im Gewässer vor uns und verzauberte das Meer in seinen eigenen Sternenhimmel.

Ich schob Emiliana von meiner Brust, um ihr diesen Anblick zu ermöglichen. Hoffentlich gefiel es ihr genau so gut, wie mir ihre Bilder gefielen.

Ihr Oberkörper hob sich nur schwerfällig. Vielleicht entsprach es reinem Wunschdenken, doch mir schien, als wäre sie mir gerne nahe.
Sofort streckte der Tod wieder seine kalten Krallen nach jedem Zentimeter von mir aus, den Emiliana nicht mehr berührte. Doch für diese großen Rehaugen bezahlte ich den Preis der Qualen. Ihre Iriden sogen die Dunkelheit in sich auf, die in ihnen selbst ruhte. "Wow", krächzte sie erstickt und lehnte ihren Kopf wieder gegen meine Schulter.

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