𝐗𝐈 𝐃𝐞𝐫 𝐎𝐫𝐭

...𝐚𝐧 𝐝𝐞𝐦 𝐢𝐜𝐡 𝐮̈𝐛𝐞𝐫𝐥𝐞𝐛𝐭 𝐡𝐚̈𝐭𝐭𝐞

Mein größter Vorteil bestand darin, andere so intensiv beobachten zu können, ohne Angst davor zu haben erwischt zu werden. Genau genommen hatte ich in meiner Position auch nichts anderes zu tun.

Durch Emilianas kleine und feine Statur sah sie viel mehr aus wie eine sechszehn- jährige, anstatt der zehn Jahre älteren Realität. Ihre Klienten mussten im ersten Moment schockiert sein, wenn sie daran dachten, dass sie von einem Kind therapiert werden.

Sie machte ein Geheimnis aus ihrem Leben, aber nicht aus ihrem Körper. Der Ausschnitt ihres weißen Kleidchens reichte bis tief zwischen ihre Brüste und auch ihr gesamter Rücken war frei gelegt. Die Sonne hinterließ bereits eine seidige Bräune auf ihrer makellosen Haut. Ich verspürte das ganz dringende Bedürfnis sie zu berühren, doch schob es in die letzte Schublade meines bereits erloschenen Verlangens.

Es platschte einmal laut und mein Blick flog direkt zu ihrem Freund. Natürlich befleckte er wieder den Boden der Terrasse, diesmal mit öligem Rührei. Gott, ich mochte diesen Typen nicht. Er machte das schlimmste aus seiner Persönlichkeit, aber redete über sich als sei er Cristiano Ronaldo höchst persönlich.
"Wie sieht's aus meine kleinen süßen Schnappsdrosseln, wollen wir heute mal einen anderen Strandabschnitt erkunden, oder sind wir dann zu weit entfernt von Salvatore?", schwafelte dieser Theo, wobei er den letzten Namen besonders provokant über seine Zunge rollen ließ.

Ich wurde hellhörig. Salvatore? Frieda nippte uninteressiert an ihrem Kaffee. Der Alkohol hatte ihr zugesetzt. Ihre Hautfarbe passte sich heute den weißen Wänden an, zumindest bis zu ihren blauen Augenringen. Emiliana verdrehte die Augen, ehe sie die übrige Asche am Aschenbecher abklopfte. "Er heißt Nelio und er hat dir rein gar nichts getan!" So streng hatte ich ihr sonst eher piepsiges Stimmchen noch nie vernommen. Wenn es um diesen mysteriösen Mann ging, schnitt sich ihre Tonart wie eine Rasierklinge durch weiches Fleisch.

Emiliana war bildhübsch, kein Wunder, dass der erste Fisch bereits angebissen hatte. Ich spielte nicht in ihrer Liga, nein nichtmal annähernd in ihrer Welt. Es erinnerte mich nur wieder daran, dass ich zusehen musste, aber niemals aktiv werden könnte. Ich würde für immer in meinem Glaskäfig sitzen, wenn Emiliana keine Lösung einfiel.

"Und zu deiner Frage, ich werde heute hier bleiben. Nach gestern brummt mir noch immer der Schädel", fügte sie hinzu und zog noch einmal schwer atmend an ihrer Zigarette. "Bist du dir sicher? Ich gehe auch." Und Frieda litt offensichtlich viel mehr an ihrem Kater. "Die Meeresbrise bewirkt manchmal Wunder", versuchte sie ihre Freundin zu überreden, doch diese schüttelte entschlossen den Kopf.

"Dann lass uns gehen, Frieda. Dann kommt der hübsche Italiener wenigstens nicht auf die Idee zu uns zu kommen." Theo konnte es nicht sein lassen. Emiliana schnaubte verächtlich, aber wehrte sich nicht mehr gegen seine Kommentare. Mich interessierte immer mehr, über wen sie da eigentlich redeten.

Laut grohlend verließ der Mann das Haus und zog dabei die zermürbte Frieda mit sich, ignorierte dabei ihr von Kopfschmerzen gequältes Gesicht vollends. Wie peinlich. Meine Mutter hatte uns konservativ erzogen. Ich legte viel Wert auf ordentliche Kleidung, ein gesittetes Verhalten und Ordnung. Theo schaffte es, allem zu widersprechen.

Ruhe kehrte ein. Emiliana räumte die Terrasse auf. Meine Schritte folgten ihren, aber eine Hilfe war ich nicht. Sie legte sich anschließend auf die Hollywoodschaukel im Garten. Unter verschlossenen Lidern, dößte sie vor sich hin. Manchmal entwich ihr sogar ein Schnarchen, was mich wiederum zum schmunzeln brachte. Sie lebte ein herrlich süßes Leben und ich begann die Zeit in ihrer Nähe gleichermaßen zu leiden, wie zu genießen.

"Milan." Ich drehte mich, weil ich meinen Namen zwar leise, aber deutlich hörte. "Milan." Außer uns befand sich niemand in diesem Haus und das Flüstern schien seinen Ursprung in meinem Kopf zu haben.
Wenn mich nicht alles täuschte, erkannte ich Emilianas Stimme. Unsicher trat ich noch näher an sie heran. "Emiliana?", sprach auch ich leise. Sie träumte und sie lud mich ein. Ich schloss meine Augen und zerstörte die letzte Distanz zwischen uns.

Als ich das nächste Mal blinzelte, stand ich hier in Dubrovnik auf einem mir nur zu bekannten Berg. Vor mir, aber in der Ferne lag Lokrum, eine Insel, die ich zuletzt nur wenige Tage vor meinem Tod gesehen hatte. Nur Bäume zierten das Pünktchen im Mittelmeer. Man erzählte sich, dass dort Wunder geschahen und ich wollte diese zu Lebzeiten ergründen.

"Wo sind wir hier?" Ich zuckte zusammen. Wäre ich nicht damals gestorben, dann hätte ich jetzt einen Herzinfarkt erlitten. Emiliana saß hinter mir seelenruhig auf der alten Bank und bewunderte die Aussicht.
"Wieso träumst du meinen Traum?", stellte ich ihr eine Gegenfrage. Ihre Augenbrauen schossen in die Höhe. "Entschuldigen Sie Mister, dass ich auf ihre lizenzierten Träume zugegriffen habe", antwortete sie mir genauso schnippisch wie ich ihr zuvor. "Ich habe einfach an dich gedacht und bin hier gelandet. Sorry.", erklärte sie, während Ihre Arme sich vor ihrer Brust kreuzten.

Das sie so angesäuert vor mir saß, bescherte mir plötzlich das größte Glück. Sie gab im Schlaf ein Stück ihres Lebens auf und traf mich hier. So nah war ich dem Leben seit dem Tod noch nie. Wie selbstverständlich setzte ich mich neben sie und musterte ihre verhärteten Züge. "Danke, dass du mich das nochmal erleben lässt." Ich lächelte sie an, was zu funktionieren schien. Ihre Arme lösten sich und berührten meine. Sie berührte mich! Völlig perplex wandte ich den Blick ab. Vor Glück bildeten sich Tränen in meinen Augen, doch Männer weinten nicht.

"Hast du keine eigenen Träume?", wollte sie wissen. "Nein, ich sehe die Welt nur noch durch die Augen anderer", gab ich zu, was mich innerlich vernichtete. Ich wollte mehr hiervon, oder gänzlich verschwinden.
"Erzähl mir von diesem Ort", bat sie mich zuckersüß und ich wusste, solange wir hier wären, würde sie nicht locker lassen. "Ich war jeden Tag hier, um diese Insel dort zu sehen." Dabei deutete ich in die Ferne auf diesen kleinen Jungle vor uns. "Dort soll Magie existieren. Es gibt Ruinen, von denen keiner weiß, von wem sie erbaut wurden und Pflanzen die niemand benennen kann. Pfauen laufen dort frei herum...", ging ich in kindlicher Begeisterung auf.

Emiliana lachte ganz sanftmütig. "Du stehst auf Magie, Blumen und bunte Pfauen? Das hätte ich ja bei deiner sonst so mürrischen Art gar nicht gedacht." Ja, nur Freunde und Familie kannten den Milan, der für jeden Quatsch zu haben war. "Ach ehrlich? In mir steckt ein wahrer Peter Pan, der nachts über die Dächer fliegt."

"Ich mag dich", sagte sie schlicht als wäre nichts dabei, doch ich hätte schwören können, mein Herz wummerte wieder. Frei von allen unterirdischen Ketten, inhalierte ich die Luft als bräuchte ich sie. "Ich war so kindisch, dass ich davon geträumt habe, dass wir dort als Einsiedler hätten leben können. Diese Insel braucht keine Mauer, um sich zu schützen. Dort wären wir als Familie einfach so sicher gewesen. Wo es keine Menschen gibt, gibt es auch keinen Krieg."

Ihre Finger legten sich zwischen meine. Wärme, die ich schon längst vergaß, flutete mein Inneres. Ein Regen ergoss sich im Sommer, begleitet von Sonnenstrahlen, die sich durch die Wolken meiner Seele kämpften.

"Ohne Menschen gibt es aber auch keine Vergebung und keine Liebe."

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