𝐏𝐫𝐨𝐥𝐨𝐠 - 𝐳𝐮𝐫 𝐟𝐚𝐥𝐬𝐜𝐡𝐞𝐧 𝐙𝐞𝐢𝐭

...𝐚𝐦 𝐫𝐢𝐜𝐡𝐭𝐢𝐠𝐞𝐧 𝐎𝐫𝐭

𝐃𝐮𝐛𝐫𝐨𝐯𝐧𝐢𝐤'𝟏𝟗𝟗𝟏

Der Boden knarzte unter meinen Schritten, ein knisterndes Echo in der Stille des Hauses.
Das war jedoch das Einzige, woran ich mich noch gewöhnen musste. Ansonsten hatten wir uns gut eingelebt. Wir, das waren Mama, Tata, Ivo und ich. Eine Familie, die in den Wirren des Krieges eine neue Normalität suchte. 

Ich spazierte gerade an dem Schlafzimmer meiner Eltern vorbei und erstarrte. Meine Mundwinkel, gepeinigt von den Sorgen der letzten Tage, wanderten unaufhaltsam nach oben. Mama hatte das Bild aufgestellt. Es war das letzte, welches wir in unserer Heimatstadt Zagreb hatten machen lassen.
Man konnte es zwar nicht sehen, doch ich wusste, meine Mutter hatte auf die Rückseite "mein wertvollster Besitz" geschrieben. Sie hielt ihre Jungs in den Armen. Ivo und mich.

Tata nannte ich eigentlich nur noch Vater. In meinen Gedanken distanzierte ich mit "mein Erzeuger" noch weiter. Eine Mauer des Schweigens und der Entfremdung hatte sich zwischen uns aufgebaut. In Zagreb pflegte er dutzende Beziehungen zu fremden Frauen und auch in Dubrovnik verbrachte er nach nur wenigen Tagen kaum eine Stunde Zuhause. 

Er angelte angeblich, aber wir glaubten ihm sowieso nicht. Seine Ausreden waren mittlerweile so fadenscheinig wie ein billiger Vorhang. Ich wusste nicht, wie es um meine Mutter stand, doch mir war es mittlerweile sogar egal, wo und mit wem er sich herumtrieb. Er hatte uns verletzt und gegen Huren eingetauscht. Bei diesen sollte er nun bleiben.

„Gib mir jetzt das Brot, sofort! Mama!" Ivo zeigte sich wieder von seiner besten Seite. Ich kam der Geräuschkulisse näher. Meine Mutter hetzte durch die Küche, um es ihrem kleinsten Prinzen recht zu machen. Der Bub sollte Manieren lernen. Sobald das belegte Brot auf seinem Teller landete, schnappte ich es mir. Nur um ihm eins reinzuwürgen, schlang ich es mit drei Bissen hinunter.

Sofort setzte das Geschrei ein.
„Milo musste das sein?", klagte Mama. „Ich will einen anderen Bruder! Mama, schmeiß ihn raus", bat er ernsthaft. „Und ich will, dass du deine Klappe hältst!", konterte ich gegen dieses kleine, dicke und vor allem unausstehliche Kind. „Schluss jetzt, alle beide!", schrie Mama, die schon längst dabei war, das nächste Brot zu schmieren. Sie tat alles für uns und ich wollte ihr Held sein, der Mann im Haus.

Ich gab nach, weil die Klügeren es so machten. Meinem Bruder schenkte ich nur noch einen letzten mörderischen Blick. „Mamaaa, Milo guckt mich an." Diese kleine Kröte! Mir blieb nur noch der Rückzug, ehe ich mich doch noch dazu entschloss, ihn durch das Haus zu jagen.

Die warme Brise lockte mich hinaus.
Das mochte ich am meisten an Dubrovnik. Das Meer von unserem Haus aus zu sehen. Für Sekunden schenkte mir der Anblick die Zuversicht, alles erreichen zu können. So als wäre die Erde grenzenlos schön. Dabei wurden nur wenige Kilometer von hier, genau zu dieser Stunde, massenweise Menschen verhaftet, gefoltert und ermordet.

Das war der Grund, weshalb wir unsere Heimat verließen. Dubrovnik war unabhängig und sozusagen die weiße Fahne in einem brennenden Land. Sie schworen, dieses heilige Stück Erde nicht anzurühren und wir vertrauten darauf. Wir vertrauten darauf, dass das Rauschen des Meeres die Schüsse verschlucken würde. Wir vertrauten darauf, dass die Kinder, die hier ihr Lachen wieder fanden, die bösen Menschen fernhielten.

Es wunderte mich nicht, dass sie Dubrovnik verschonen wollten. Der Ort schluckte meine Zweifel und Ängste. Egal, wie es in ein paar Jahren in Zagreb aussehen würde, ich konnte mir vorstellen, hier zu bleiben.

Ich vergaß die Zeit. Die Sonne hatte nicht mehr die Kraft, mich zu blenden.
Ein Stern leuchtete am Himmel auf. Er steuerte auf das Land zu. Und dann wusste ich, dass es keine Sternschnuppe war. Dennoch wünschte ich mir etwas. Ich bat Gott höchstpersönlich, dass es sich nur um eine Einbildung handeln möge. Gott hatte uns allerdings schon verlassen. Der Rauch kletterte die Berge hinauf, wie das reinste Gift.

Wenn Tata wirklich angelte, dann könnte er eben von einer Explosion getroffen worden sein. Der Hass verflog und übrig blieben nur Sorgen. Ich musste ihn holen. Wir hatten uns. Er war alleine.

Die Sirenen ertönten. Sie schafften keine Warnung, sondern viel mehr die Einleitung des Untergangs. Viel zu spät erwachte ich aus meiner Starre. Mein Atem ging stoßweise, als ich das Haus nach Mama und Ivo absuchte.
Sie kauerten zwischen Bett und Wand auf dem Boden. Beide schluchzten und hielten sich die Ohren zu.
„Ich suche Tata und wir ziehen weiter!", schrie ich, aber sie hörten mich wahrscheinlich nicht.

Ich musste schnell handeln und gehen. Wenn ich rannte, dann würde ich in zehn Minuten wieder hier sein.
Kaum erreichte ich die Tür, hielt der Zwerg mich am Bein fest.
„Milo geh nicht. Ich habe das nicht so gemeint. Du sollst bleiben. Bitte geh nicht. Ich habe Angst ohne dich", plapperte er nervös, indessen sich eine Träne nach der anderen über seine Lider ergoss.

Auch wenn er mich zur Weißglut trieb, gab es keinen Tag, den ich ohne meinen Bruder verbringen wollte.
Ich schluckte die Angst herunter und unterdrückte das Beben meines Körpers. Mein Knie berührte den Boden und ich begegnete Ivo von Angesicht zu Angesicht.
„Tata ist alleine. Das ist ungerecht. Du musst jetzt stark sein, Ivo und auf Mama aufpassen. Nimm sie ganz fest in deine Arme und öffnet keinem die Tür."

Ivo nickte. Er glaubte mir, auch wenn ich log. Mein Herz blutete aus Angst, es könnte das letzte Mal gewesen sein, dass ich in diese braunen Augen schaute. Augen, die meinen so ähnelten. Ich drückte ihm einen Kuss auf die Stirn und rannte.

Die Luft schmeckte nach Feuer. Sie brannte in der Lunge. Nach dem ersten Schritt nach draußen wusste ich bereits, dass ich meinen Vater nie wieder sehen würde. Ich würde ihn niemals erreichen. Der Rauch stieg weiter von der Küste auf unseren Berg und mit ihm rannten all die unschuldigen Menschen. Mütter quetschten sich schreiend durch die schmalen Gassen. Väter trugen Taschen und Säuglinge. Es ging nur noch aufwärts, aber nicht mehr abwärts.

Unter ihnen rannten Polizisten, die sie schlugen. Sie sollten das Volk beschützen, doch stattdessen verteidigten sie ein einheitliches Jugoslawien. Menschen, die sich Kroaten nannten, waren keine Menschen mehr und durften eliminiert werden.

In dem Durcheinander war es schwer, Gut von Böse zu unterscheiden. Wir mussten einfach fliehen.

Eine weitere Explosion erklang in der Nähe. Ich stolperte geistesabwesend zurück in unser Haus.

Ich packte meine traumatisierte Mutter an einem Arm und meinen Bruder an dem anderen.
„Wir müssen gehen. Tata kommt nach." Daran glaubte ich nicht, doch Ivo durfte seine kostbare Hoffnung nicht verlieren.

Erneut öffnete ich das Tor zur Hölle.
Wir rannten nur wenige Meter, da hatte es ein Polizist auf uns abgesehen. Er hob seinen Schlagstock und packte nach Ivos Arm. Mir blieb das Herz stehen und mir fiel in der Eile nichts Besseres ein, als den Mann mit meiner flachen Hand ins Gesicht zu schlagen. Sein schwarzer Hut verrutschte und irritiert ließ er von meinem Bruder ab. Dann lag sein Fokus auf mir.

Ich war erleichtert, denn ich hätte es nicht ertragen können, wenn jemand dem Zwerg geschadet hätte.

„Mama lauf. Du musst ihn retten!", schrie ich bereits auf dem Rücktritt.

Meine Mutter verweilte kurz, doch sie entschied sich richtig. Wir wandten unsere Gesichter voneinander ab. Sie rannte mit Ivo hoch, ich runter. Der Ordnungshüter rannte mir nach. Ich lenkte ihn ab und das wusste sie. Wir hätten alle sterben können, oder sie überlebte mit Ivo. Ihre Entscheidung war richtig. Meine Entscheidung war richtig. Auch wenn es uns trennte.
Ich war der Superheld, der ich für meine Familie immer sein wollte.

Es trieb mich zurück in unser kurzes Glück von Haus, wo ich die Türen verriegelte und mir gleich das längste Messer aus der Küche schnappte.

Der Polizist machte sich vergeblich an der Tür zu schaffen.

Mich verließen alle Kräfte und meine Hände zitterten als ich mir den Schweiß gemischt mit Dreck aus dem Gesicht wischte. Ich sackte zusammen und hechelte wie ein sterbender Hund auf dem kalten Boden. Alles, was ich bisher erfolgreich unterdrückt hatte, schlug nun zurück. Die Angst und Verzweiflung trieben mich regelrecht in den Wahnsinn.
Mein Herz hämmerte sich aus der Brust und um meinem Schicksal zu entkommen, wäre ich bereit gewesen, mir das Messer selbst in die Brust zu rammen.

Die große Fensterfront vor mir splitterte in Abertausende von Teilen. Einzelne Scherben flogen mir bis zu den Fußspitzen. Das einzige, was ich darauf realisierte, waren weit mehr als zwei Lederstiefel, die ihr Ziel fast erreichten. Ich wischte mir eine Träne von der Wange, denn diese Genugtuung gönnte ich diesen Mistkerlen nicht.

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