𝐈 𝐛𝐞𝐯𝐨𝐫 𝐰𝐢𝐫 𝐮𝐧𝐬 𝐭𝐫𝐚𝐟𝐞𝐧
...𝐰𝐚𝐫 𝐝𝐢𝐞 𝐖𝐞𝐥𝐭 𝐧𝐨𝐜𝐡 𝐬𝐨 𝐤𝐥𝐞𝐢𝐧
Das Stimmungstagebuch lag vor mir. Es war in Leder eingebunden, mint-farben und der Schriftzug glänzte golden. Es lud zum Schreiben ein. Ich empfand es als schick und meist entscheidet das Auge, was der Mensch will, oder eben auch nicht. Für meine Patienten wollte ich nur das Beste, doch jetzt lag es vor mir.
Jeder Psychologe ist anders. Bei mir zum Beispiel stand das Wort Achtsamkeit an oberster Stelle. Auf sich selbst zu achten, sich zu kennen und zu lieben gerät zu schnell in den Hintergrund. Und so begegnen wir uns selbst, unserer Umgebung und unseren Mitmenschen mit Zweifeln.
Jedes Mal, wenn ich durch die noch leeren Seiten blätterte, fragte ich mich, was ich eintragen würde. Und hier beendete ich meine Gedanken, zumindest an jedem anderen Tag, außer an diesem. Mein ehemaliger Dozent und zukünftiger Chef beauftragte mich damit, es einmal selbst auszufüllen. Bisher stand dort nur fein säuberlich das aktuelle Datum. 𝟎𝟏.𝟎𝟓.𝟐𝟎𝟏𝟓.
Nun klemmte der Kugelschreiber so fest zwischen meinen Fingern, dass sich ein Krampf ankündigte.
"Verfluchte Scheiße!" Der Stift landete auf dem viel zu kleinen Schreibtisch, meines viel zu kleinen Zimmers. Das war es dann auch schon wieder. Meine Entschlossenheit endete dort, wo sie quasi begann.
Ich beginne Dinge. Immer. Aber bringe sie nie zu Ende. Es war ein Wunder, dass ich mein Studium zur Psychologin erfolgreich absolviert hatte.
Ein frischer Windzug streichelte über meine nackte Haut. Die Nächte im Mai mochte ich am meisten. Zu warm, um zu frieren. Zu kalt, um zu schwitzen.
Das letzte Fünkchen Motivation erlosch und ich wanderte zum geöffneten Fenster. Gleichzeitig breitete sich nur noch ein Bedürfnis in mir aus: die frische Luft mit Qualm zu verpesten.
Ich setzte mich auf die Fensterbank und eröffnete das Feuer. Der warme Rauch füllte meine Lungen und sogleich spürte ich das typische Kribbeln in meinem Kopf. Meine müden Neuronen bewegten sich wieder. Meine Mundwinkel zuckten. Diese mehr als dumme Abhängigkeit brachte mich zum Schmunzeln. Das Lungenkrebsrisiko führte mit eins zu null gegen die Entzugserscheinungen.
Das einzig gute im sechsten Stock eines Blockgebäudes zu leben ist die Aussicht. Mein Hintern pflanzte sich auf der Fensterbank nieder. Die schwarze Nacht verschluckte den weißen Rauch.
Durch den Mond erkannte ich die Umrisse des Waldes. Die Spitzen der Tannen zogen sich wie ein Kardiogramm durch die Landschaft. Mehr gab es nicht zu sehen. Zwischen zwei tiefen Zügen sog ich die kühle Luft ein. So fühlten sich drei Minuten Freiheit an. Dann schloss ich das Fenster und erfuhr die Kehrtwände. Meine zehn Quadratmeter Eigenheim.
Ich entledigte mich meiner Kleidung und lediglich ein T-Shirt gesellte sich zur Unterhose.
Zugegebenermaßen besaßen die ersten fünf Sekunden unter der Decke ja auch etwas Magisches, bis meine Gedanken sich wieder meldeten.
Mein Name ist Emiliana Sokolov, ich bin siebenundzwanzig Jahre alt und bin in Strelna, einem kleinen Ort in Russland geboren. Ich lebe seit einem Jahrzehnt in Deutschland und habe keine Ahnung, wohin mich die Zukunft bringen wird. Frankfurt hat mir noch nie gefallen, bis auf die Universität. Ganz nebenbei habe ich hier meine besten Freunde aka Mitbewohner Frieda und Theo kennengelernt.
Das wäre es dann mit meiner vier-sätzigen Autobiographie. Der erste zu erfüllende Punkt in meinem Stimmungstagebuch. Soweit, so schlecht. Der nächste Punkt fiel mir immer schwer. Nein, was dachte ich. Es war mir schlichtweg unmöglich zu beschreiben, was mir Angst machte, was mich wütend werden ließ, oder worüber ich traurig war. Dafür fiel es mir umso leichter, die Dinge aufzuzählen, die mich glücklich stimmten.
Ich wurde in eine liebende Familie hinein geboren. Beruflich standen mir alle Türen offen. Meine Freunde akzeptierten mich so wie ich bin und ich aß jeden Morgen eine Meter dicke Schicht Nutella auf meinem Brot, ohne dabei fett zu werden.
Meine Oma legte mir allerdings kurz vor ihrem Tod eine Weisheit ans Herz.
Ich lernte gerade an meinen deutschen Sprachkenntnissen, da sagte sie aus dem Nichts, während sie strickte:
"Emiliana, du wirst nie wahrhaftiges Glück erfahren, wenn du nicht einen Funken Trauer in Kauf nimmst."
Und in diesem Moment verflog die Idee vom Stimmungstagebuch. Wie gesagt, ich brachte noch nie etwas zu Ende. Mein Studium lag in der Vergangenheit und ich war noch nicht bereit dazu irgendwo meine Wurzeln zu schlagen.
Vielleicht sollte ich reisen!
Es erschien mir in diesem Augenblick genau das Richtige zu sein. Selbstreflexion hin und oder her.
Ich sehnte mich gerade nur noch nach Freiheit und um mein Gewissen zu beruhigen, oder es später meinem zukünftigen Arbeitgeber Dr. Dino zu erklären:
Man lernt sich am besten kennen, wenn man seine Komfortzone verlässt. Das wird eine kurze Reise zu mir selbst.
Zumindest legte ich mir so die Worte in meinem Kopf zurecht.
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