26. Kapitel
Lu ging den Flur entlang. Überall wurden fleißig die letzten Vorbereitungen getroffen. Der Countdown für die letzten Stunden lief.
In der Küche bereiteten Aidan und Thasi fleißig Essen für alle vor. Sie ging weiter. Der nächste Raum war das Kreativzimmer. Dort besprachen Lamaya, Arun und Emine noch einige Sicherheitsmaßnahmen für heute Abend. Es würden nachher alle mit dabei sein – alle bis auf Lamaya. Sie wird hier unten die Stellung halten. Emine hatte einige dieser komischen Geräte aus Patia mitgebracht, die auch hier in Aternis funktionierten. Die drei waren gerade dabei, diese Dinger in ihre Einzelteile zu zerlegen und daraus Peilsender und Kommunikationsgeräte zu bauen.
Emine erklärte den beiden einige Sachen über die Pattische Technik. Obwohl das sowohl für Lamaya, als auch für Arun völliges Neuland war, verstanden sie beiden, worum es bei dieser Technik im Wesentlichen ging.
Lamaya und Arun waren nicht grundlos Teil von Lus Gruppe. Jeder hier hatte seinen Platz und seine Aufgabe. Und die beiden waren die schlauen Köpfe der Runde.
Lu konnte sich noch genau erinnern, wie sie Arun gefunden hatte. Sie hatte ihre Gruppe mit fünf Jahren ins Leben gerufen. Damals war es nichts weiter als eine kleine Gemeinschaft von Taschendieben, um sich über Wasser zu halten. Auch einen Namen hatten sie noch nicht. Dort, ganz am Anfang waren sie auch eigentlich nur zu zweit – nur sie und Nian - gewesen. Gelegentlich kam Nians Bruder Noan, oder ihr eigener noch mit. Aber das geschah nicht sehr oft, dafür hatte Lu gesorgt. Ein paar Jahre verstrichen und Lu wurde bewusst, dass es viel sinnvoller war, den Armen lieber zu helfen, als sie zu bestehlen. Das war, als sie etwa sieben Jahre alt war. Ab dem Zeitpunkt fing auch ihre Gruppe an, zu wachsen.
Arun fand sie eines späten Abends am Fluss. Er starrte nur ins Wasser. Damals war Nian mit Lu mitgekommen, die schon immer besser mit Menschen umgehen konnte, als sie selbst. Nian fragte Arun, wie er denn hieße, und was er hier mache. Zuerst sagte der kleine Junge, welcher er damals war, kein Wort. Er vertraute sich erst Nian an, nachdem sie eine ganze Weile von sich selbst und von Lu erzählt hatte. Schon damals hätte Lu auf Holz beißen können. Sie hatte sich gefragt, warum er denn nicht spreche, hatte sich im Stillen tierisch aufgeregt. Und sie musste auch nicht ihre damalige Lebensgeschichte nochmal hören. Sie kannte diese doch schon! Heute versteht sie, dass einigen Menschen wohl Reden hilft.
Auch Arun erzählte schließlich von sich. Er berichtete, wie seine Mutter von dem einen Tag, zum anderen verschwunden war und wie sein Vater seitdem nicht mehr der Selbe war. Das war damals vor zwei oder drei Jahren passiert. Seitdem traute er sich nicht mehr wirklich nach Hause – hatte Angst vor seinem Vater. Von da an war Arun Teil der Gruppe.
Lu wusste noch, wie sie ihm ein paar Tage darauf ein Stapel von Büchern in die Arme drückte und ihm befahl, sie zu lesen. Er protestierte, sagte, dass er nicht lesen könne, dass er im Unteren Ring wohne und deshalb niemals ein Anrecht auf Bildung habe. Doch Lu blieb hart. Sie war sich Aruns Argumente durchaus bewusst, da auch sie dort wohnte. Sie sagte zu ihm, dass er es sich dann eben beibringen solle. Wie er das anstellte, war ihr egal, meinte sie. Und wenn er sich weigern würde, könne er gleich wieder zurück zu seinem Vater gehen. Das war wohl letztendlich der Punkt, wo er einknickte.
Viele hielten Lu sicherlich für kalt und herzlos - da war sie sich sicher – ein Monster, das von den Anderen schier unzubewältigende Aufgaben verlangte. Aber Lu sah das anders. Denn das stimmte nicht. Und das wussten auch diejenigen, die diese Aufgaben von ihr jemals bekommen hatten. Denn Lu konnte schon immer die Stärken und Schwächen der Menschen um sie herum schnell entdecken und machte sie zu ihrem Vorteil. So sah sie, dass Arun sehr schnell lernte. Deshalb hatte sie ihn damals zu dieser Aufgabe verdonnert, was ihn in keinsterweise geschadet, sondern für immer gestärkt hat.
Damals waren Aidan und Noan natürlich auch schon fester Bestandteil des Teams, genauso, wie Nian.
Seitdem kamen immer mehr hinzu. Das hieß aber nicht, dass Lu jeden von ihnen leiden konnte – im Gegenteil! Viele von ihnen verachtete sie.
Ein Beispiel dafür ist Silja. Sie und Lamaya kamen vor sechs Jahren hinzu.
Lu war damals elf Jahre und gerade im Oberen Ring. Zwar beklaute sie keine Armen mehr, aus dem Unteren Ring, dafür aber die Reichen von hier oben!
Ihr Ziel hatte sie im Visier: zwei nichtsahnende, schwache, kleine Mädchen. Das Eine saß im Rollstuhl. Die Andere war wohl blind. Lu verfolgte die zwei schon seit Stunden. Und jetzt war endlich der Zeitpunkt gekommen, wo sie zuschlagen konnte! Sie befanden sich in einer sehr ruhigen Ecke eines Parks. Niemand war außer den beiden Mädchen hier.
Lu ließ sich leise von dem Baum gleiten, von dem aus sie alles beobachtet hatte und schlich sich wie ein Raubtier an ihre Beute heran.
Doch bevor sich Lu irgendetwas Wertvolles schnappen konnte, wich Silja ihr aus und schwang ihren Stab nach ihr. Doch Lu war eine geschickte Kämpferin und wand sich, damit sie nicht getroffen wird. Auf leisen Sohlen schlich sie um das blinde Mädchen herum. Doch diese holte wieder aus und verfehlte nur um wenige Millimeter.
„Wer immer du auch sein magst", hatte Silja gesagt, „komme uns nicht näher! Du magst denken, dass ich schwach sei. Aber das bin ich nicht. Im Kampf werde ich dir überlegen sein. Und da werde ich keine Gnade zeigen! Also verzieh dich und komm nie wieder!"
Diese Worte hatten Lu damals zum Nachdenken gebracht. Nicht, weil sie vor dem kleinen Mädchen Angst hatte, oder so. Nein, ganz gewiss nicht! Niemand konnte Lu besiegen! Schon damals nicht. Aber das blinde Mädchen, von vorhin, war – trotz ihrer Einschränkung – wirklich gut! Lu konnte sie von Anfang an nicht leiden. Aber das spielte keine Rolle. Sie überlegte nur, ob sie dieses Mädchen tatsächlich mit zu ihnen ins Team holen sollte, oder nicht. Immerhin war sie aus dem Oberen Ring! Alle anderen bisher waren nur von Unterhalb der Mauer. Zudem stellte sich die Gruppe auch gegen die Obrigkeit und dessen Reichtümern. Aber vielleicht bringt das Mädchen ja auch ein neues Licht, einen neuen Blickwinkel in die Runde.
Schlussendlich entschied Lu sich dafür, sie mit aufzunehmen. Sie war stark, stolz und kannte keine Hemmungen. Lu hatte schon immer das Gefühl gehabt, als wenn ihre Gruppe zu irgendetwas Großem, etwas Bedeutungsvollen und Weltveränderndem werden würde. Heute wusste Lu, dass es ihre Aufgabe war, Kaylin zu stürzen und Samira wieder auf den Thron zu bringen.
Silja hatte damals schließlich, wenn auch etwas widerwillig, eingewilligt, unter der Bedingung, dass ihre Schwester auch aufgenommen wurde. Lu wollte schon erwiedern, dass der Deal damit geplatzt sei. Immerhin konnte sie keinen mit einer Gehbehinderung in einer Gruppe von Kriegern gebrauchen. Jedoch fiel ihr dann doch noch eine andere Lösung ein. Sie gab Lamaya eine Aufnahmeprüfung. Arun sollte seine schwerste Kopfaufgabe ihr geben, welche Lamaya zu bewältigen hatte. Diese hatte Lamaya bestanden, womit sie auch aufgenommen wurde.
Wieder ein paar Jahre später, hatte sich Lu endlich einen Namen für ihre Gruppe einfallen lassen. Und zwar sollten sie ab sofort Nymesia heißen. Der Begriff entstammte aus der alten Atrischen Sprache Atschunka und hatte die Bedeutung des Kampfgeistes, sowie die Freiheit. Allerdings wurde dieser Begriff seit Kaylins Herrschaft strikt verboten.
Aber jetzt war es sowieso egal.
Lu kam in die große Trainingshalle, wo Nian, Silja, Taran, Malio und Emines Mitbringsel zusammen trainierten.
Während Lu ihnen beim Kämpfen zusah, dachte nach. Früher hatte sie sich immer gewünscht, wie ihr Vater zu sein und ihn stolz zu machen. Dabei war ihr mit jeder Tat, die sie machte, klar gewesen, dass sie ihn nur bitter enttäuschte. Ganz im Gegensatz zu Aidan, welcher immer der perfekte Sohn war. Als Lu eines Abends nach Hause kam, damals war sie acht Jahre alt, fand sie ihren Bruder zuhause auf, der sich um ihre tottraurige Mutter kümmerte. Wie Lu erfuhr, ist ihr Vater an jenem Tag bei einem Attentat ums Leben gekommen. Koron war damals die persönliche Leibwache des Kaisers gewesen. Er starb bei einem Attentat, wo er den Kaiser beschützt hat.
Natürlich war Aidan auch traurig gewesen, über diese Nachrichten. Aber er kümmerte sich tapfer um seine Mutter und seine kleine Schwester.
Vor ein paar Wochen, als Lu dieses geheime Versteck entdeckt hatte, fand sie zudem außerdem auch noch andere Hinterlassenschaften ihres Vaters. Denn jener Raum, welcher nun Lus Büro ist, war damals das Büro ihres Vaters. Als Lu dieses Büro zum ersten Mal betrat, lagen überall auf dem Schreibtisch Papiere und Pergamente. Alle waren an sie, oder ein paar auch an Aidan gerichtet.
Er schrieb dass es ihm leidtäte, dass er nicht mehr bei ihnen sein könne. Er schrieb, wie sstolz er auf sie war. Er schrieb von seiner Kindheit. Wie sich herausstellte, hatte er als Kind ebenso eine Gruppe. Damals war er der Anführer gewesen. Er schrieb, dass er mit den meisten noch bis zum Schluss Kontakt hatte. Wie es schien, waren einige seiner Mitglieder Emines Vater, oder auch der Kaiser höchstpersönlich gewesen. Damals war er natürlich noch ein Prinz. Deshalb wurde Koron auch die Leibwache von ihm. Weil Kaiser Dalton ihm vertrauen konnte.
Aber eine Sache ging Lu, seitdem sie die Briefe gelesen hatte, nicht mehr aus dem Kopf. Und zwar sah es, wie Koron die Briefe geschrieben hat, so aus, als wüsste er, dass es dieses Attentat geben würde und auch, dass er dabei draufgehen würde. Aber warum?
Lu wusste, dass einige der damaligen Gruppe um den Tod des Kaisers recherchiert hatten. Diese Notizen hatten sie dann hier in ihrem alten Versteck hinterlegt. Und auch ein Bild von ihrem treuen Anführer haben sie von ihm und seiner Familie gemalt, das er sich früher zu seinem vierzigsten Geburtstag gewünscht hat. Koron konnte diesen Geburtstag zwar nie feiern, aber das Bild bekam er trotzdem.
Lu kam aus dem Trainingsraum, in das Gemeinschaftszimmer. Dort kamen gerade Karina und Samira die Strickleiser heruntergeklettert.
Lu verschränkte die Arme ineinander und baute sich vor den beiden Mädchen auf. „Ihr seid zu spät!"
„Ich weiß", nickte Samira bestätigend. „Aber uns ist etwas", dabei warf sie Karina einen Blick zu, „dazwischengekommen. Aber nun sind wir ja da." Samira lächelte Lu an. „Na dann, legen wir los!"
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