12. Kapitel

Am nächsten Tag traf sich die Klasse nach dem Frühstück vor ihrer Unterkunft. Frau Kyriaki und Herr Orell hatten einen Reiseführer dabei, womit sie sich die Stadt heute als Klasse anschauen wollten. Dabei erwähnten die beiden Lehrer extra nochmal, dass sie sich in den kommenden Tagen die Stadt sehr genau anschauen sollten, da es daheim in Patia darauf dann mehrere Leistungen geben würde.

Damit ging es los.

Sie sahen sich viele Sehenswürdigkeiten im oberen Ring an. Sie besuchten die schönen Parks, die idyllischen Läden und kamen an einigen Denkmälern vorbei.

Immer mal stand hier oder da eine Statue von einem Mann oder einer Frau oder beidem. Karina konnte darin keinerlei System finden. Jedoch erklärte Samira es ihr. Die beiden Mädchen liefen am hinteren Ende der Gruppe, sodass sie Herr Orells langweiligem Vortrag nicht viel Beachtung schenkten. Karina fand Samiras Erklärung sowieso viel interessanter.

„Die Statuen die du hier siehst" Samira zeigte auf eine, an der sie gerade vorbeiliefen. „stellen die vergangenen Regenten Aternis' dar. Es heißt, dass ein Hauch ihres Geistes wohl noch immer darin ist."

Karina staunte. „Und warum sind sie so willkürlich, ohne jegliches System verteilt? Dort stehen noch nicht einmal Schilder wer das war."

Samira kicherte. „Sie brauchen keine Schilder. Denn wir Atten kennen unsere Geschichte und wissen, wer diese Leute waren!", erklärte sie. „Zudem hat alles hier System. Für deine Augen mag das vielleicht ziemlich willkürlich aussehen, aber die Statuen werden nach einem ganz bestimmten System ausgerichtet: Und zwar werden die Statuen genau an diesem Punkt errichtet, wohin der Schatten beim besteigen des Throns geworfen wird." Abrupt hielt Samira inne. Schlagartig fiel ihr etwas auf. „Moment mal...", keuchte sie und wand sich um. „Das war gerade Porko, das heißt ... oh nein!"

Karina brachte Samira zum Weiterlaufen, damit sie nicht den Anschluss zur Gruppe verlierten. Dabei überlegte sie. Wen meinte Samira wohl mit Porko? War das der Mann der Statue, an der sie sie gerade vorbeigelaufen sind?

Nun blieb die Klasse wieder stehen. Anscheinend waren sie an dem nächsten Punkt des Rundganges angekommen. Karina sah sich um. Es war ein kleiner Platz. Vielleich etwa sieben Meter im Durchmesser, würde Karina schätzen. Dabei stand in der Mitte ein Brunnen, auf dem eine Statue von einem freundlich aussehenden Ehepaar platziert war. Um den Platz herum standen einige Bäume und Büsche, die das Gebiet eingrenzten. Vom Platz gingen drei Wege aus, von denen sie von einem gekommen waren.

Karina sah zu ihrer Freundin. Dabei stellte sie fest, dass diese am ganzen Leib zitterte, die Augen weit aufgerissen, auf den Brunnen gerichtet. „Ist alles in Ordnung?", fragte sie Samira. Obwohl diese Frage eigentlich unnötig war. Natürlich war nicht alles in Ordnung. Doch Samira schien sie gar nicht wahrzunehmen.

Still rann Samira eine Träne über die Wange. Eine. Eine einzelne Träne nicht mehr. Doch dann setzte sie sich in Bewegung. Wie hypnotisiert steuerte sie auf den Brunnen zu. Anfangs wollte Karina sie noch aufhalten, ließ sie schließlich jedoch ihren Weg gehen, da sie sowieso nichts erreicht hatte.

Als Samira an ihrem Ziel angekommen war, sank sie mit einem lauten „Plumps" auf dem Boden. Karina hätte erwartet, dass sie selbst dies lautlos und so elegant wie eh und je schaffte. Doch anscheinend fehlte ihr gerade jegliche Energie. Es schien, als wenn jemand Samira all ihre Lebensenergie abgesaugt hatte.

Samira saß einfach nur still da. Sie betete für das verstorbene Kaiserpaar. Dabei hoffte sie einfach nur, dass sie keinen allzu großen Gefühlsausbruch hinlegte.

Sie konnte sich eigentlich sehr gut beherrschen und war geschickt darin, sich zu verstellen. Doch hier an diesem Ort würde sie wohl weder das eine, noch das andere jemals können. Vor diesem Ort hier, hatte sie sich so sehr gefürchtet, ihn besuchen zu müssen. Und nun musste sie hier sein, gleich am ersten Tag und dazu auch noch mit Publikum! Aber sie konnte es nicht ändern. Denn dieser Ort, diese Statue, verband etwas ganz Besonderes, was Samiras Gefühlen freien Lauf verliehen. Wenn sie nur hoch, in die Gesichter der beiden Statuen sah, brach gleich die nächste Welle auf sie herein. Dabei konnte Samira rein gar nichts tun.

So verharrte sie mehrere Minuten, sie wusste nicht wie lange. Danach erhob sie sich wieder. Doch bevor sie wieder zurück zu den anderen ging, warf sie noch einige Münzen in den Brunnen, um den Geistern des verstorbenen Königspaars zu ehren und noch alles Gute, auch in ihrem Leben nach dem Tod zu wünschen.

_ _ _ 

Es begann bereits zu dämmern, als Nian gerade das Wasser aufsetzte. Plötzlich er klang ein lautes Poltern vom großen Tor. Nian erschrak förmlich. Schnell huschte sie zum Eingang.

„Wer ist dort?", fragte sie über das Tor hinweg.

Von der anderen Seite erklang: „Ein Bote der schlechten Nachrichten."

Nian kannte diese Stimme! Schnell riss sie die Tür des Tores auf und warf sich ihrem Zwillingsbruder um den Hals. „Oh, Noan!", rief sie.

Er erwiderte die Umarmung.

„Aber was machst du hier?", fragte Nian ihn schließlich, als sie sich wieder gelöst hatten.

Der Junge sah seiner Schwester tief in di Augen. Danach blickte er sich kurz um. „Können wir kurz hinein?"

Nian nickte. „Aber natürlich!" Damit bat sie in herein. Zusammen gingen sie zum Haupthaus. „Du hast Glück!", sagte sie. „Ich habe gerade Wasser aufgesetzt! Magst du deinen Tee wie immer?"

Noan nickte abwesend. „Ich habe aber nicht lange Zeit.", meinte er bedauernd. Doch schnell setzte er noch hinzu: „Aber für eine Tasse Tee sollte die Zeit genügen." Damit warf er seiner Schwester sein warmes Lächeln zu, das gleiche, welches Nian auch immer hatte.

Während Nian also mit dem Tee beschäftigt war, erkundigte sie sich nochmals: „Was machst du heute schon hier? Morgen ist doch erst..." Da erkannte sie es plötzlich. Voller Enttäuschung senkte sie ihre Arme leicht. „Du kannst morgen wieder nicht kommen, nicht wahr?" Damit drehte sich das Mädchen zu ihrem Bruder um.

Dieser konnte das glitzern in ihren Augen sehen. Er hasste es, seine Schwester so am Boden zerstört zu sehen. Trotzdem musste er nicken.

Nian wandte sich wieder dem Tee zu. „Das macht Sie doch mit Absicht!" Ihre Stimme war tonlos.

Nun kam Noan zu ihr und legte behutsam einen Arm au ihre Schulter. „Ja, das tut sie.", war seine Antwort darauf. Er wusste, dass es nicht sehr beruhigend war. Aber andere zu beruhigen war nun mal eher Nians Stärke. Er verließ sich mehr auf die Wahrheit. Daraufhin wurde ihm von seiner Schwester seine Tasse Tee in die Hand gedrückt bekommen.

„Was musst du diesmal tun? Oder darfst du es wieder nicht verraten?"

Noan seufzte und fuhr sich durch seine blonden Haare. „Ich denke wohl nicht, dass dieser Auftrag geheim ist." Dabei sah er seiner Schwester in ihre Minzgrünen Augen. Man konnte auf einen Blick erkennen, dass die beiden eineiige Zwillinge waren. „Morgen soll ich so eine Touristengruppe herumführen."

Nian zog eine Augenbraue hoch.

„Du erinnerst dich, dass jedes Jahr eine Schulklasse Patias für zehn Tage hier her, nach Silvermont kommt?"

Nian nickte. „Ja" Mit einem Mal fiel ihr siedend heiß etwas ein. Das letzte Puzzleteil hatte sich zusammengefügt!

„Diesen Gesichtsausdruck kenne ich!", stellte Noan mit einem leichten Grinsen fest und holte Nian damit aus ihren Gedanken.

Diese seufzte. Sie wollte Noan so gerne alles verraten. Sie wollte ihm so gerne in alles einweihen. Aber es ging nicht!

Noan seufzte ebenfalls. „Du wirst es mir nicht erzählen, nicht wahr?" Damit war auch sein Grinsen wieder von seinen Lippen verschwunden.

Seine Schwester griff nach seinem Arm. Als sie daraufhin sprach, hielt sie engen Blickkontakt, um jedem einzelnen ihrer Worte nochmal extra Kraft zu verleihen. „Noan", sprach sie. „du kennst die Gründe für mein Schweigen. Glaube mir, es gibt nichts, was sich beschreiben lässt, wie sehr ich dir alles erzählen würde. Jedoch weißt du, warum es nicht geht."

„Ich weiß.", erwiederte Noan betrübt. „Wenn Sie von diesen Dingen irgendwie zufällig erfährt, war alles umsonst.", leierte er herunter.

Nian nickte mitleidig. Jedoch fing ihr Blick gleich darauf Feuer, als ihm nun endlich ihren genialen Plan veröffentlicht: „Hey Bruderherz, Kopf hoch! Ich habe eine unglaubliche Idee, was den morgigen Tag betrifft!" Sie zwinkerte ihm zu, der nun gespannt die Ohren spritzte und sie aufforderte weiter zu sprechen.

„Also", führ Nian fort. „Es ist doch so, dass du mit jedem der Touristenkinder Patias ein kurzes Gespräch halten musst, nicht wahr?"

Noan nickte.

„Hier also mein Vorschlag: Wie wäre es, wenn wir die Gruppe aufteilen würden? Somit hat jeder nur die Hälfte der Gespräche und sind dementsprechend auch schon bei der Hälfte der Zeit fertig und können dann doch noch Zeit zusammen verbringen!"

Noan staunte mit großen Augen. „Das wäre Großartig!"

„Lass mich erstmal ausreden!", bat Nian ihn. „Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, genau: Ich werde bereits etwas früher eintreffen, um die Gruppen schonmal aufzuteilen, damit du das nicht machen musst. Danach werde ich mit der ersten Gruppe schon vor gehen. Du kannst mit der Zweiten nach etwa fünf bis zehn Minuten hinterherkommen, damit wir uns nicht in die Quere kommen. Und? Was sagst du?"

Noan war sprachlos. Ungläubig schüttelte er den Kopf. „Was würde ich bloß ohne dich tun?", brachte er schließlich mit einem brieten Lächeln auf dem Gesicht hervor.

Nian musste nun ebenfalls lachen. „Deine Familie nicht mehr sehen?"

Er nickte. „Ganz genau." Damit erhob er sich und bewegte sich Richtung Tür zu. Seine Zeit war um.

Nian begleitete ihn noch bis nach draußen, zum Tor.

Allerdings wollte sie ihren Bruder nicht wieder gehen lassen. „Kannst du Ihr nicht irgendwie kündigen?"

Noan lachte leise. „Das fragst du jedes Mal, wenn ich gehen muss. Und jedes Mal antworte ich dir das gleiche: Kaylin würde mich niemals einfach so gehen lassen. Zwar vertraut sie mir nicht, da meine Freunde, Familie und Verbündeten ihre größten Feinde sind, aber ich kenne zu viele ihrer Geheimnisse. Wenn ich in ihrem Dienst stehe, bin ich zum Schweigen verpflichtet, was ich als freier Bürger nicht wäre. Die einzige Chance, dort durchzukommen, ist einfach Tag für Tag durchzuleben und zu hoffen, dass uns irgendwann ein besseres Leben erlösen wird."

Noan wollte immer sein ganzes Leben wie sein Großvater und wie er eine Pallastwache werden. Vor etwa anderthalb Jahren war es dann endlich soweit und er durfte ab sechzehn Jahren im Kaiserpalast arbeiten. Sein größter Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Allerdings hielt dieser nicht lange an. Denn schon nach einem halben Jahr wurde sein Traum zu einem Albtraum, als Kaylin den Thron bestieg. Sie verordnete, dass er nur noch einmal im Mond seine Familie besuchen dürfe, wenn er dazu Zeit habe. Jedoch häufte Kaylin in manchmal so mit Aufgaben voll, dass er noch nicht einmal dies schaffte.

Nian griff in der Dunkelheit der Nacht blind nach der Hand ihres Bruders. „Einige, so habe ich gehört, sind überzeugt davon, dass sich unser Leben bald verändern wird! Vielleich schon in wenigen Tagen!", munterte sie ihn auf. Dabei setzte sie etwas leiser noch hinzu: „Du darfst davon nur niemandem etwas verraten."

Ihr Bruder musste Lachen. „Tut mir leid, Nian, aber, von wem auch immer du das auch hast, erzählt Stuss. Sowas würde mehr an ein Wunder grenzen, als an die Wirklichkeit." Damit umarmte er seine Schwester nochmal zum Abschied. „Almnaa!", rief er ihr noch zu, als er sich schließlich auf den Weg machte. Bis dann!

„Almnaa!", wünschte Nian ihm ebenfalls. Zudem setzte sie noch hinzu: „Njarr Nararr!" Gute Nacht!

Gute Nacht, Bruderherz! Träume Süß! Bis Morgen!, wünschte Nian ihm in Gedanken, als er schon nicht mehr zu hören war. Dabei klammerte sie sich besonders an den letzten Satz! Bis Morgen! Wann hatten sie diesen Satz das letzte Mal verwendet? Es war eine Ewigkeit her!

Wie im Traume kehrte Nian wieder in Haus. Dort angekommen schickte sie gleich einen Brief an ihre Eltern. Die beiden waren für heute etwas erledigen, da sie morgen da sein wollten, falls Noan kommen sollte. Nian gab ihnen Bescheid, dass Noan definitiv kommen würde, jedoch vermutlich erst gegen Mittag oder frühen Nachmittag.

Währenddessen sie diese Zeilen schrieb, musste Nian noch einmal darüber nachdenken, was Noan bei ihrem Abschied gesagt hatte. Er mochte vielleicht nicht daran glauben, dass die nahe Zukunft besser wurde. Jedoch wusste Nian, dass es besser werden würde. Sie war sich sicher! Denn schlechter konnte es wohl kaum werden. Zudem würde sie morgen die Person treffen, die alles wieder in Ordnung bringen konnte.

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