Kapitel 17 - Sin
Was?
Nia hiess gar nicht Nia?
Das konnte doch nicht sein. Oder?
Ich konnte mich noch ganz genau an seinen ersten Tag hier erinnern und er hatte sich doch selbst vorgestellt, oder nicht?
Es musste ein Spitzname sein, aber so ganz wollte ich mir da selbst nicht glauben. Etwas in mir schien mit dem Gedanken nicht überein zu kommen, als wäre da noch etwas, das ich nicht bedacht hatte.
Ada sprach nun allerdings und das hätte der Moment sein müssen, an dem ich die beiden in Ruhe liess, aber stattdessen rutschte ich näher zur Tür und versuchte, das Gespräch mitzubekommen.
„Ich dachte du musst arbeiten?", sagte Nia.
„Ich konnte früher Schluss machen und weil es wie in Strömen regnet, wollte ich dich abholen. Hast du meine Nachrichten nicht gesehen?"
Ich bekam Nias Antwort nicht mit, aber Ada schnaubte und sagte: „Hast du eine Ahnung, wie lange ich brauchte, um einen Lehrer zu finden, der wusste, wo du bist? Dein Stundenplan sagt, dass du um diese Zeit Deutsch hast. Wieso drückst du dich hier unten rum?"
„Ich brauche viel Platz zum Schreiben", kam es trocken zurück und ich hätte fast geschmunzelt, wenn ich nicht noch sauer gewesen wäre. Ich hörte, wie der Farbroller über die Spanplatten ging und konnte mir vorstellen, dass er gerade Buchstaben malte, was mir dann doch ein Grinsen entlockte.
Mein Gott, wenn er immer so gewesen wäre wie an dem Tag, an dem wir zusammen unsere Szenen geübt oder im Gang nach meinem Sturz gewitzelt hatten, dann hätte ich mein Herz nie wieder unter Kontrolle gebracht.
Es pochte schon bei der Erinnerung daran und ich lehnte mich unwillkürlich vor, weil ich wissen wollte, wie er war, wenn man ihn besser kannte.
„Du bist unmöglich", sagte Ada. „Aber mal ehrlich, sind das Vorbereitungen für ein Schulfest? Bastelst du etwas für einen Stand?" Sie schien sich die Arbeiten anzusehen und sagte dann: „Oh mein Gott, sag mir bitte nicht, dass du in der Theater AG gelandet bist."
Ein knappes Schnauben antwortete ihr, das ganz und gar nicht amüsiert klang.
„Als ob das eine Option für mich wäre."
„Sorry", sagte Ada darauf leise, „das war unnötig. Aber das Zeug hier ist doch nicht wirklich für ein Theater, oder?" Ein Farbeimer wurde verschlossen und ich hörte das Rascheln von Papier. Ich brauchte einen Moment um zu verstehen, dass er ihr eines der Manuskripte gereicht haben musste.
„Was?!", sagte sie und ich zuckte zusammen. „Das ist doch hoffentlich nicht dein Ernst! Sin, sag mir bitte, dass du nicht in einem Musical mitsingst!" Der Schock in ihrer Stimme liess mich die Stirn runzeln.
„Nein", kam es rau zurück. „Ich singe nicht. Ich mache die Kulissen, wie du siehst."
„Oh. Das ... das ist gut", murmelte sie und ich fragte mich, was wohl passiert sein mochte, um so eine Reaktion auszulösen. Was hatte sie gegen Musicals? Hatte Nia vielleicht schon an seinen anderen Schulen in welchen mitgesungen und dabei Probleme gehabt? Macht sie sich Sorgen wegen der Panikattacken?
„Und du machst die Arbeiten ganz alleine?", fragte sie nun.
„Nein." Nia schien sich überwinden zu müssen, die nächsten Worte zu sagen. „Zusammen mit einer Mitschülerin", presste er schliesslich heraus und selbst ich konnte hören, dass er nicht über mich sprechen wollte. Ada schien das aber nicht zu kümmern.
„Mit wem genau?"
„Ada ..."
„Nichts Ada. Wieso bist du ganz alleine hier? Wo sind alle anderen? Ich schwöre, wenn dieses Mädel sich um die Arbeit drücken will und dich alleine gelassen hat-"
„So ist das nicht!"
Meine Augen weiteten sich, als er ihr ins Wort fiel. Ich hatte nicht erwartet, dass er mich verteidigte und auch Ada schien das aus dem Takt zu bringen, denn sie gab ein erschrockenes: „Sin ..." von sich.
„Niemand drückt sich hier um irgendeine Arbeit, okay?", sagte er. „Die Stunde ist um und die anderen sind nach Hause gegangen. Ich bin nur geblieben, um einen Fehler wieder gut zu machen."
„Einen Fehler?"
Einen Moment lang herrschte Stille. Dann sagte er: „Ich dachte, die Wände müssten Blau gestrichen werden. Sie müssen aber Grau sein."
„Oh." Sie schien sich die Stellwände zu besehen. „Alle?"
„Alle."
„Und das hast du erst am Ende der Stunde bemerkt, oder was?"
„Sie hat es mir gesagt."
„Das Mädchen?"
„Nia.", sagte er.
Ein ungläubiges Lachen erklang. „Du machst das mit Nia? Das gibt's doch nicht."
Ich schluckte, denn ich hatte angenommen, dass mein Name sie aus der Bahn werfen würde und nicht die Tatsache, dass er ausgerechnet mit mir zusammen Kulissendienst hatte.
Wusste sie, dass ich eine seiner Mitschülerinnen war? Sprach Nia ... Sin ... oder wer auch immer zu Hause über mich?
Ich befürchtete, dass sie nicht besonders viel Gutes von mir gehört hatte, denn ihre nächsten Worte waren frostig. „Und deshalb bist du noch hier? Sie sagt dir also am Ende, dass die Wände Grau sein müssten und geht dann seelenruhig Hause, oder was?"
„Das stimmt so nicht", sagte Nia mit Nachdruck, aber Ada überging seinen Protest.
„Ach, wirklich?", sagte sie. „Und wo war sie dann, während du die Wände angemalt hast? Wenn sie doch so genau wusste, dass sie nicht Grau sein müssen, wieso sagt sie dann nichts? Es kann doch nicht sein, dass sie das erst am Ende bemerkt hat! Ich meine, das sind riesige Stellwände ... ist sie blind, oder was?"
Meine Kinnlade ging nach unten und ich wäre am liebsten in den Nebenraum gerannt, um ihr die Meinung zu geigen, aber Nia kam mir zuvor: „Jetzt reg dich doch mal ab. Sie war nicht dabei, als ich die Wände gestrichen habe und sie weiss nicht, dass ich noch hier bin."
„Sie weiss nicht, dass du noch hier bist? Was soll das heissen?"
„Ich ..." Einen Moment lang war es still, dann sagte er: „Wir hatten einen Streit und ich bin abgehauen. Als ich zurückkam, war sie schon weg."
„Ihr habt euch gestritten? Wegen der Farbe, oder was? Also glaubst du selbst, dass sie es dir früher hätte sagen können!"
„Es ging nicht darum, okay? Ich meine ... ich war wütend ..." Nias grobe Art war rauen, fast schon zögerlichen Worten gewichen.
„Sin", sagte Ada forschend. „Was ist passiert?"
Er schwieg so lange, dass ich glaubte, ich hätte seine Antwort nicht mitbekommen. Aber dann murmelte er: „Ich dachte, sie hatte es absichtlich getan. Das mit der Farbe, meine ich. Ich dachte, sie hätte Blau gesagt, um mir eins auszuwischen."
Mein Magen zog zusammen. War das sein Ernst? Weil ich provokativ behauptete, dass ich vielleicht doch Blau gesagt hatte? Er musste den sarkastischen Ton doch gehört haben! Er war es doch gewesen, der mir unterstellt hatte, ich würde mich selbst für unfehlbar halten.
„Und?", sagte Ada in die Stille hinein.
„Was und?"
„Hat sie?"
Die Sekunden, die folgten, schienen mich erdrücken zu wollen. Sag etwas, dachte ich. Sag, dass es nicht so war; dass es ein Missverständnis gewesen sein musste.
Wag es nicht, mit diesen leisen Worten mehr in mir anzurichten, als mit deinen lauten Anschuldigungen von vorhin.
Aber dann sagte er: „Ja, ich glaube schon."
***
Ich lehnte mich gegen den Korpus des Schreibtisches. Das meinte er doch nicht wirklich so? Das konnte doch nicht sein, oder?
Ich bekam nicht mit, was Ada erwiderte, weil das Blut in meinen Ohren rauschte und vielleicht hätte ich auch gar nicht mehr zuhören sollen, aber Adas nächste Worte fachten meine Neugierde wieder an.
„Das ist schon seltsam. Normalerweise ist keiner deiner Mitschüler so zu dir, solange sie es nicht wissen. Du glaubst doch nicht, dass sie etwas ahnt?"
„Nein", sagte Nia und der Frust in seiner Stimme löste ein seltsames Gefühl in mir aus, das meinen Puls nicht unbedingt beruhigte. Es wirkte gerade so, als würde es ihm nichts ausmachen, wenn ich wüsste, was hier vor sich ging.
„Um ehrlich zu sein, kann ich sie nicht einschätzen. Sie schaut sehr genau hin, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie es nicht weiss."
Ich ballte die Fäuste und wünschte mir, ich hätte ihn dazu bewegen können, mehr zu sagen, aber nun trat wieder Stille ein, als würden beide ihren Gedanken nachhängen und schliesslich sagte er: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie so sein würde."
„Oh wow", kam es von Ada. „Sag mal, nimmst du sie etwa in Schutz?"
„Ich nehme niemanden in Schutz."
„Doch, das tust du. Du nimmst diese Nia in Schutz, als ob, oh!"
„Was?"
„Oh mein Gott. Du magst sie!"
Ihre Worte liessen mein Herz stocken und ich hielt den Atem an, um Nias Antwort nicht zu verpassen.
„Was? Nein", sagte er und ein Schnauben folgte.
„Sin!"
Wieder war es still und diesmal war ich mir sicher, dass sie sich ein Blickduell lieferten, denn Nia sagte plötzlich: „Was? Nur weil ich sie nicht verurteilen will? Weil ich glaube, dass sie nicht so wäre?"
„Sag mal, hörst du dir selbst beim Reden zu?", sagte Ada. „Nicht verurteilen? Ausgerechnet du willst mir weismachen, dass diese Nia anders sein soll?"
„Ich weiss nicht, was es ist, okay?" Unter seiner harschen Entgegnung schien sie einen weiteren Wortschwall hinunterzuschlucken. „Ich habe keine Ahnung", sagte er. „Ich weiss nur, dass sie mich verwirrt und dass ich nicht das Schlechteste von ihr annehmen will."
„Okay", sagte Ada und ich wusste nicht, ob ich es mir einbildete, dass ihre Stimme belegt klang, aber dann sagte sie: „Das ist schön", und diesmal war ich mir sicher, dass sie gerade versuchte, gegen Tränen anzukommen.
Ich schob mich etwas weiter vor und versuchte, durch den Spalt in der Tür zu blicken, aber ich konnte nur einen Teil der Fenster sehen.
„Jetzt werd' bloss nicht sentimental", sagte Nia und Ada lachte so, als versuchte sie sich wieder zu fangen. „Sorry. Ich weiss zwar nicht, was ich davon halten soll, dass du ausgerechnet sie in Schutz nimmst, wenn du sonst in keinem etwas Gutes sehen kannst, aber du weisst, wie sehr ich mir wünsche, du könntest dich wieder öffnen."
„Bitte, Ada ..."
„Nichts Ada! Ich finde es schade, dass du niemanden an dich heranlässt und mir erzählst du auch nichts mehr. Ich habe das Gefühl, dass ich gar nicht mehr mitbekomme, was in deinem Leben passiert und ich machte mir wirklich Sorgen."
Nia sagte nichts dazu und sie fuhr fort: „Ich meine, wie soll das denn weitergehen? Du kannst dich nicht ewig so abschotten und alle aus deinem Leben streichen. Wie willst du neue Freundschaften knüpfen? Oder eine Freundin finden?"
„Das ist das Letzte, was ich will."
Seine harschen Worte liessen mich zusammenzucken, aber ich lauschte nur umso gespannter, als Ada die Stimme senkte und etwas murmelte. Ich verstand es nicht, aber sie schien damit einen Nerv getroffen zu haben, denn Nia sagte: „Was?! Sag es mir gefälligst ins Gesicht, wenn du etwas zu sagen hast!"
„Sorry, ich hätte das Thema mit der Freundin nicht anschneiden sollen", sagte sie und aus ihren Worten sprach echte Reue, „aber glaubst du nicht, dass es an der Zeit ist, deinen Mitmenschen eine Chance zu geben? Juna hat es nicht verdient, dass du dein Leben alleine verbringst. Sie alle haben es nicht verdient."
Ich schluckte, als ich den Namen hörte. War das seine Ex?
„Du musst doch einsehen, dass du dich damit nur selbst kaputt machst", fügte Ada hinzu. „Kannst du wirklich keinem von uns vertrauen?"
„Ich vertraue dir."
„Ja, aber ich bin deine Schwester."
„Stimmt. Dann sollte das doppelt zählen."
Sie stöhnte, und ich versuchte ein weiteres Mal, ein Grinsen zu unterdrücken.
Sie war also tatsächlich seine Schwester. Das hätte ich eigentlich wissen sollen. Sie schien zwar um einiges älter zu sein, aber so wie die beiden miteinander redeten, konnte es sich nur um Geschwister handeln.
„Kannst du das mal lassen?", beschwerte sie sich. „Ich will doch nur, dass du glücklich bist und ich weiss genau, wie schwierig das alles für dich ist und wie sehr es dich belastet."
„Du weisst gar nichts."
„Sin, bitte. Weisst du, wie weh es mir tut, dich leiden zu sehen? Könntest du nicht wenigstens versuchen ein paar Freunde zu finden?"
„Das tue ich doch. Ich gebe mir Mühe, okay?", sagte er mit einer solch rauen Stimme, dass ich am liebsten in den Raum gegangen wäre, um seine Schwester zum Schweigen zu bringen.
Ich hatte zwar keine Ahnung, was sie damit meinte, dass er anderen Menschen gegenüber misstrauisch sei - okay gut, ich hatte schon eine Ahnung - aber er kapselte sich nun wirklich nicht ein.
Die ganze Schule wollte entweder mit Nia zu tun haben, oder Nia sein.
Wusste seine Schwester nichts davon?
„Ich weiss", sagte sie nun aber leise. „Es tut mir nur so leid für dich und ich wünschte, ich könnte alles ungeschehen machen. Ich wünschte, du wärst nicht krank."
„Nun sei doch nicht so", sagte er beschwichtigend. „Es gibt Leute, die wesentlich schlimmer dran sind. Du tust, als müsste ich sterben."
„Du vielleicht nicht, aber deine Zukunft, deine Träume und all deine Beziehungen."
„Du bist echt so melodramatisch."
„Und du spielst es herunter, damit keiner sich um dich zu kümmern braucht!"
„Es ist mein Leben", sagte Nia und seine kalte Stimme schickte mir einen Schauder über den Rücken. Ich hörte, wie er den Farbeimer verschloss und sich daran machte, die Sachen wegzuräumen.
Insgeheim hoffte ich, dass Ada mehr über seine Panikattacken sagen würde, aber die beiden hatten wahrscheinlich schon zu oft darüber gesprochen.
Meine Mutter nannte mein Stottern auch nur noch „dein Problem", weil eh alle wussten, was sie meinte und nach einer Weile hatte man das Thema gründlich zerredet.
Ausserdem meldete sich langsam mein schlechtes Gewissen, weil ich längst hätte gehen sollen, doch gerade als ich mich dazu entschloss, hinauszuschleichen, sagte Ada mit einem Mal: „Ich habe dich gehört, Sin."
Drüben wurde es mucksmäuschenstill und ich hielt den Atem an.
„Was?"
„Gestern Abend, als du hast Gitarre gespielt hast", sagte sie. „Du hast geweint."
„Lass das, Ada", sagte Nia warnend und ich lauschte angespannt.
„Ich weiss, was ich gesehen habe, Sin! Du weinst, wenn du glaubst, dass keiner dich hört und-"
„Verdammte Scheisse!", brüllte Nia. „Schrei es doch noch lauter durch die Schule! Ich glaube in irgendeiner Ecke hat man dich noch nicht gehört!"
„Sin, ich-"
„Nein, Ada, lass es! Und misch dich nicht in mein Schulleben ein, okay? Das ist alles, was ich will." Er schien sein Zeug zusammenzupacken und ich duckte mich hastig unter die Tischplatte, als er in den Requisitenraum kam. Seine Schwester folgte ihm und versuchte sich zu entschuldigen.
„Ich denke doch nur, dass dein Plan nach hinten losgehen könnte und-"
„Nein!", sagte er und fuhr zu ihr herum. „Du hast es versprochen!" Und dann senkte er die Stimme und sagte: „Bis Weihnachten kann ich sein, wer immer ich will."
Ein schleichendes Unbehagen machte sich in mir breit.
„Das weiss ich doch", sagte Ada. „Und ich werde nichts verraten, aber ist es nicht unglaublich anstrengend der ganzen Welt etwas vorzuspielen? Bist du nicht müde?"
„Natürlich bin ich müde!", sagte er harsch und seine Stimme brach. „Ich bin müde", wiederholte er leise und nun konnte man es geradezu in seinen Worten spüren. „Aber solange ich es noch kann, möchte ich ganz normal leben."
„Und du denkst, es ist die Sache wert?"
Nia nickte. „Es ist beschissen. Und ich hasse es, anderen Leuten die Wahrheit zu verschweigen, aber wenigstens lüge ich nicht. Und du weisst nicht, wie schön es ist, okay? Zum ersten Mal in meinem Leben kann ich sein, wer immer ich will. Hier bin ich Nia und niemand sonst, verstehst du das nicht?"
Ich konnte all die Informationen nicht einordnen und die Rädchen in meinem Gehirn ratterten auf Hochtouren.
Was meinte er damit, dass er hier an der Schule Nia sein konnte? Und was genau spielte er uns vor?
Das Wort Zwillinge schob sich unvermittelt in meine Gedanken, aber ich schüttelte es gleich wieder ab. Nein, das war absurd. Ich hatte doch nicht mit zwei unterschiedlichen Menschen zu tun gehabt. Das hätte ich doch bemerkt!
Ich liess meinen Blick über seine Züge wandern, seine gerade Nase und die ausdrucksvollen Augen, die Ada ins Visier nahmen.
„Am Ende kommt es sowieso raus", gab sie zu bedenken.
„Mag sein, aber bis dahin hältst du die Klappe."
„Das werde ich, keine Sorge", sagte sie. „Aber Sin?"
„Hm?"
„Eines Tages findest du einen Menschen, dem du dich anvertrauen kannst."
Er schnaubte, als hielte er das für ausgeschlossen, aber sie war noch nicht fertig: „War da nicht sogar letztes Wochenende was? Hattest du da nicht ein Date?"
„Das hat sich erledigt."
„Wieso?"
„Sie ist nicht gekommen."
Seine Worte drehten mir richtiggehend den Magen um. Nicht nur, weil er nicht abgestritten hatte, dass es ein „Date" gewesen sei, sondern auch, weil ich nicht glauben konnte, dass er die Tatsachen so verdrehte.
Die unterschiedlichsten Empfindungen machten sich in mir breit, aber die Empörung gewann die Oberhand.
Wollte er Mitleid ernten?
Was war der Zweck einer solchen Behauptung?
Okay, ich hatte ihn angelogen, aber er war doch selbst nicht gekommen.
„Sie hat dich versetzt?", sagte Ada ungläubig und lachte dann. „Wie ist das denn passiert?"
„Lass mich in Ruhe", knurrte Nia und etwas an der Art, wie er es sagte, minderte das schlechte Gefühl in mir ein bisschen und liess nur noch das Kribbeln zurück, das sich zuerst hatte breitmachen wollen.
Er klang, als ob ihm meine Zurückweisung noch immer an die Nieren ginge.
„Ich meine doch nur", sagte Ada in meine Gedanken hinein. „Ich habe noch nie erlebt, dass ein Mädchen nichts mit dir zu tun haben will und nun gleich zwei in ein paar Wochen?" Sie lachte, aber als ihr Bruder nichts entgegnete, erstarben ihre amüsierten Kommentare langsam.
„Warte Mal", sagte sie gedehnt und als er die Malersachen verstaute und an ihr vorbei wollte hielt sie ihn fest. „Das ist doch nicht etwa auch Nia gewesen?"
Er schüttelte sie ab und sie gab einen überraschten Laut von sich.
„Oh mein Gott!"
„Halt die Fresse", sagte Nia und das erwischte mich ebenso unvorbereitet, wie Adas lautes Lachen und ihre amüsierten Worte. „Komm schon, Sindre, ich weiss dass ich Recht habe!", sagte sie.
Sie rannte ihm hinterher, als er zur Tür hinausging und ich hörte sie im Gang miteinander streiten. „Oh, so leicht kommst du mir nicht davon! Ich weiss ganz genau, dass wir hier von ein und demselben Mädchen reden!"
Ich starrte ihnen ungläubig hinterher. Hatte Ada nicht Minuten zuvor noch so getan, als wüsste sie nicht, wie beliebt ihr Bruder war? Wie passte das denn nun wieder zusammen?
Und er hiess Sindre? Ich spürte ein eigenartiges Ziehen im Bauch.
„Es war Nia, gib es zu!", tönte es aus dem Flur. „Es waren ganz bestimmt nicht zwei Mädchen!"
„Du hast doch einen Schaden."
„Einen Schaden? Muss ich dich etwa an Sabine erinnern? Sie hat mich noch Monate wegen deiner Nummer belästigt! Und Daria?! Glaubst du, die wollte wegen mir immer bei uns zu Hause rumhängen? Und was war bitte mit Ewa?"
„Oh Gott", entkam es ihm, aber seine Schwester war noch nicht fertig. „Oder Rosa-Maria, die dich wochenlang gestalkt hat? Oder die alte Dame, die in der Nr. 5. wohnte?"
„Nicht die alte Dame", stöhnte er und Ada lachte, wie nur Geschwister das können. „Sie wollte dich immer zu Tee und Kuchen einladen. Du wärst fett geworden, wenn sie dich mal erwischt hätte!"
Die beiden gingen streitend den Gang hinunter und Nia brüllte: „Åh, håll käften!"
„Håll käften själv!"
Ich sank langsam an der Wand hinunter, als die beiden schliesslich ausser Hörweite waren und versuchte zu verdauen, was ich da gerade alles gehört hatte.
Erst Minuten später rappelte ich mich wieder hoch, schaute kurz in den leeren Flur und ging dann in den Nebenraum, um mein Handy zu holen.
Doch die Grau gestrichenen Platten liessen mich innehalten und ich verspürte einen leichten Stich im Herzen.
Er hätte es auch beim nächsten Mal machen können. Ich hätte Frau Lautner ablenken können und es war doch logisch, dass ich ihm zur Hand gegangen wäre, oder nicht?
Ich liess die Schultern hängen. Wahrscheinlich nicht.
Er dachte wohl, ich würde nach meinen Intrigen mit der Farbe versuchen, ihn bei unserer Lehrerin anzuschwärzen, die ohnehin keine Geduld mehr mit ihm hatte.
War das das Misstrauen, von dem seine Schwester gesprochen hatte? Ich hoffte nicht, denn ich hatte keine Ahnung, wie ich mit sowas umgehen sollte.
Ich suchte die Werkbank nach meinem Handy ab und hob die Skizzen an, aber ich konnte es nicht finden.
Hatte ich es etwa doch nicht hier vergessen?
Ich kramte noch einmal durch meine Tasche und schaute schliesslich sogar in den Requisitenraum, doch es blieb verschwunden.
Stirnrunzelnd schaute ich zur Tür und eine unangenehme Ahnung stieg in mir hoch.
Ein Stöhnen entkam mir.
Nein, oder?
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Lieben Dank für eure Sternchen und Kommentare! ♥
xoxo
Kuralie
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