Kapitel 10 - Stock und Schirm
Wir sassen in der Mitte der Bühne auf dem Boden und hatten Mühe den Instruktionen unserer Lehrerin zu folgen.
„Ihr braucht euch nicht hinzulegen und eine Umarmung ist auch nicht nötig. Aber Hendrick und Lisbeth sind Vertraute und so soll das Gespräch auch wirken. Rückt näher zusammen. Du könntest dich bei ihm anlehnen, Nia." Sie schaute auf mich hinunter. „Vielleicht mit dem Rücken zu ihm?"
Ich sollte mich zwischen seine Beine setzen?
„Nein, d-d-das möchte ich nicht!", rutschte es mir heraus. Doch ich hätte mich gar nicht wehren müssen, denn im selben Moment sagte Nia: „Kommt nicht in Frage!"
Erstaunt musterten wir uns gegenseitig.
Im Saal war mittlerweile ein Chaos ausgebrochen und Frau Lautner stöhnte. „Findet einfach eine Haltung, die euch beiden passt und dann fangt um Gottes Willen an." Und mit den Worten: „Herrgott nochmal, Markus, komm von den Stühlen runter!", war sie verschwunden.
Nia räusperte sich. „Was hältst du von einem Kompromiss mit der Regieanweisung? Du könntest dich vielleicht hinlegen und den Kopf auf meinen–"
Der Horror musste sich auf meinem Gesicht abzeichnen, denn er verstummte. Er verschränkte die Arme und tat unbeeindruckt, aber ich konnte die Anspannung in seinen Schultern sehen. Meine Reaktion hatte ihn verunsichert.
Aber wie kam er auch auf diese Idee? Gerade hatte er noch so vernünftig gewirkt und nun das?
Machte er sich eigentlich zu irgendeiner Sache in seinem Leben einmal ein bisschen mehr Gedanken?
„Nein." Ich hatte schon lange nicht mehr so laut gesprochen, doch sein Vorschlag weckte ungeahnten Widerstand in mir. „Ich finde, wir sollten n-n-n–" Ich nahm ein paar tiefe Atemzüge. „Ich finde, wir sollten n-nebeneinander sitzen."
Sein Schweigen zog sich in die Länge, vermutlich, weil wir damit Frau Lautners Anweisung mit der vertrauten Haltung ignorierten und ich hörte mich sagen: „Ich kann mich bei dir anlehnen."
In meinem ganzen Leben hätte ich niemals gedacht, dass ich mich irgendwann darum reissen würde, mich an die Schulter eines Typen zu lehnen, der mich da nicht mal haben wollte.
Glücklicherweise zeigte er sich mit meinem Vorschlag aber einverstanden und wir einigten uns darauf, dass ich mich an seine Schulter lehnen sollte.
Doch als ich an ihn heranrutschte, wich er zurück.
„Komm auf die andere Seite."
Meine Augen verengten sich zu Schlitzen. „Warum?"
Er stiess die Luft aus und schien mit sich zu hadern. Dann murmelte er: „Ich habe ein Problem mit dieser Schulter."
Ich runzelte die Stirn. Hatte Björn ihn dort erwischt? Oder war es eine alte Verletzung, die sich nach der Auseinandersetzung meldete?
Man sah von Aussen nichts aber Nia hätte bestimmt nichts gesagt, wenn es nicht wehgetan hätte. Er wirkte wie die Sorte Jungs, die Schmerzen litt und dabei keinen Mucks von sich gab. Ob es an seinem Stolz kratzte, dass er es zugeben musste?
Es sah ganz so aus, aber ich konnte ich nicht umhin zu fragen: „Ist es sehr schlimm?"
„Ich werd's überleben."
„Ist es w-wegen Björn, oder–"
Ich glaubte etwas Dunkles in seinen Augen aufflackern zu sehen. Etwas, das hinter dem nun ganz und gar erzwungenen Lächeln lag. Und plötzlich wusste ich eines ganz genau: Es war ein schönes Lächeln, aber es war falsch.
Es war wie beim letzten Mal im Gang, nur dass er es diesmal nicht ganz überspielen konnte und die Botschaft dahinter war so deutlich wie ein Neonschild: Nia wollte, dass ich das Thema fallen liess.
Und so gab ich unter seinem Blick schliesslich nach und wechselte auf die andere Seite.
Eine Sache musste ich aber noch loswerden. Ich rutschte an ihn heran und suchte einen Moment nach Worten. „Danke, d-d-d-dass du etwas gegen ihn gesagt hast. Das war n-nett von dir."
Überrascht schaute er mich an und nickte dann langsam. „Nimm dir seine Worte nicht zu Herzen, okay?" Er zog sein Heft heran und sagte leise: "Menschen sind Scheisse. So ist das nunmal."
Nicht alle, wollte ich sagen, aber die Antwort blieb mir im Hals stecken, als er seinen Arm um meine Schultern legte. Er zog mich an sich und im nächsten Moment war meine Nase praktisch im Stoff seines Pullis vergraben.
Mein Herz setzte einen Schlag aus und schlug dann doppelt so schnell weiter. Seine Hand rutschte an meine Hüfte und ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen.
Ich liess mich gegen ihn sinken und tat so, als wäre nichts dabei. Aber mein Bauch machte komische Dinge und mir stieg die Hitze in die Wangen, als ich feststellte, dass Nia ganz anders roch, als ich gedacht hatte.
Nach frischer Wäsche und irgendwie nach ... Regen. Nicht der stickige Geruch nach Sommerregen und nassem Asphalt, sondern mehr wie ein kühler Morgen an einem verregneten Herbsttag.
Ich verspürte den überwältigenden Drang, mein Gesicht darin zu vergraben und einzuatmen und der Gedanke schockierte mich so sehr, dass ich hastig nach meinem Manuskript angelte, um das Hämmern meines Herzens zu übergehen.
Oh mein Gott, was dachte ich hier nur? Hatte ich den Verstand verloren?
Das hier war ein Theaterstück und ich würde mir sicher keine Blösse geben.
Selbst wenn diese Haltung bequemer war, als ich gedacht hatte und sich irgendwo in meinem Hinterkopf der Gedanke einschlich, dass ich irgendwie ... irgendwie genau in Nias Arm passte.
„Geht das so, oder möchtest du bei mir mitlesen?", sagte er und seine Stimme so dicht an meinem Ohr schickte einen warmen Schauer über meinen Rücken.
Ich schüttelte den Kopf und nuschelte etwas halb in seinen Pullover. Peinlich berührt hob ich den Kopf und wiederholte: „Alles okay. Soll ich a-anfangen?"
„Wenn du nichts dagegen hast."
Ein amüsierter Ton lag in seiner Stimme und mir wurde im selben Moment bewusst, was ich da gerade gesagt hatte. Natürlich sollte ich anfangen, Lisbeth hatte schliesslich die erste Zeile im Dialog, oh mein Gott!
Mein Gesicht glühte unterdessen und ich beeilte mich, den ersten Satz zu lesen.
Der Text selbst löste zu meinem Erstaunen kaum Nervosität in mir aus so fiel es mir ziemlich leicht in den Dialog einzusteigen.
„Wieso g-g-g-gehst du denn fort? Du ka-kannst uns doch nicht alle zurücklassen!"
Ich lauschte Nias Antwort, bevor ich erneut einsetzte und ehe ich mich versah, waren wir mitten in einem Gespräch zweier miteinander vertrauter Figuren.
Es war seltsam mich so mit Nia zu unterhalten, als hätten wir eine gemeinsame Geschichte und würden einander schon seit vielen Jahren kennen.
Es war also kein Wunder, dass wir dabei ein bisschen hölzern klangen und es noch viel Übung brauchen würde, bis wir natürlich rüberkämen. Doch nachdem wir den Dialog ein zweites Mal durchgegangen waren, zeichnete sich immer stärker ein noch viel grösseres Problem ab.
Wir fanden nämlich einfach keinen Rhythmus.
Eigentlich hatte ich angenommen, dass ich uns ins Stocken bringen würde und die Dynamik mit meinen Wiederholungen ruinierte, weil ich ständig zum Anfang des Satzes zurückkehrte. Doch zu meinem Erstaunen hatte Nia ebenfalls Mühe mit seinem Part.
Er schien Rücksicht nehmen zu wollen, aber dadurch entstanden unnötige Pausen und als er versuchte sie zu verkürzen, fiel er mir ins Wort.
Normalerweise hätte ich mir nichts dabei gedacht und die Sache mit stoischer Miene durchgezogen, aber weil ich nun wusste, dass er nichts davon mit Absicht tat, konnte ich das nicht mehr so leicht.
Es war seltsam, aber zum ersten Mal seit vielen Jahren, wollte ich für mein Gegenüber flüssiger sprechen und nicht für mich.
Nicht, damit ich einer genervten Reaktion entgehen konnte, sondern weil ich es Nia nicht noch schwerer machen wollte.
Seine Hand war auf meinen Bauch gerutscht und das lenkte mich zusätzlich ab, denn seine Finger gruben sich immer wieder in den Stoff, wenn ich mich zu sehr verhaspelte. Am Ende des nächsten Durchgangs war ich ein nervliches Wrack und mein Stammeln wurde von Minute zu Minute schlimmer.
Meine Gedanken wanderten immer wieder zu der Wärme seiner Hand und ich verpasste am Ende sogar meinen Einsatz.
Ich holte tief Luft und versuchte mich zusammenzureissen. Das hier war Nia ... Nia, der mir auf die Nerven ging und mich durcheinander brachte. Nia, der mir immer noch keine Erklärung zu seinem Verhalten geliefert hatte.
Nia, der ... der mich gerade an sich zog und murmelte: „Das bekommen wir schon hin."
Ich schluckte. Da hatte ich so meine Zweifel.
Er gab mir einen leichten Schubs, als wollte er mich aufmuntern und blätterte eine Seite zurück, um von neuem zu beginnen. Ich tat es ihm gleich, doch kaum hatte ich das erste Wort herausgequetscht, lehnte Nia sich auf einmal vor und spähte in mein Heft.
„Was zum?", sagte er und nahm es mir aus der Hand.
Er las etwas und dann begannen seine Schultern auf einmal zu beben und ich spürte, wie ein unterdrücktes Lachen ihn schüttelte. Ich schaute mit grossen Augen zu ihm auf und als er mein verwirrtes Gesicht sah, war es um ihn geschehen. Sein Lachen hallte durch den Raum und mir entkam ein verunsichertes: „W-w-was ist?"
Neugierige Blicke wanderten in unsere Richtung, aber das kümmerte ihn gar nicht.
Er wollte etwas sagen, aber er musste zu sehr lachen und so tippte er stattdessen auf eine Stelle in meinem Text ganz oben. Und dann sah ich, was er meinte und die Scham schlug wie eine heisse Welle über mir zusammen.
Die Regieanweisung.
Die Anweisung, die ich durchgestrichen hatte.
Ich entriss ihm das Manuskript und drückte es an meine Brust, als könnte ich damit im Nachhinein verhindern, dass er es sah.
Das Lachen tanzte in seinen Augen und ich spürte, wie ich bis unter die Haarwurzeln errötete. Das hier war nicht lustig. Ganz und gar nicht.
Ein Lächeln zog an meinem Mundwinkel, als er sagte: „Ja, das hat nicht so ganz geklappt, was?"
Ich musste einfach mit den Augen rollen, selbst wenn ich im Boden versinken wollte, als er sich vorlehnte und mich breit angrinste. „Oder kommt das erst noch?"
„N-Nein. Und hör endlich auf zu lachen."
Es dauerte eine ganze Weile, bis er sich beruhigte und ich schlug mehrmals mit der Faust auf seinem Oberschenkel, was ihn aber nur noch mehr erheiterte. Schliesslich legte er aber wieder den Arm um meine Schultern und ich schenkte ihm einen letzten warnenden Blick.
Dieser Tag ging mir langsam ein bisschen zu sehr auf meine Kosten.
Ich biss mir auf die Unterlippe, als seine Hand wie von selbst wieder den Weg auf meinen Bauch fand und liess mich langsam gegen ihn fallen.
Schon sehr bald waren wir wieder mitten im Text. Nia sprach mit seiner gewohnten Ernsthaftigkeit und ich glaubte schon, er würde nicht mehr an die Blamage denken. Doch kaum waren wir ein paar Absätze weit gekommen, hörte ich, wie sich langsam aber sicher ein deutliches Grinsen in seine Stimme schlich.
Ich rammte ihm den Ellbogen in die Seite und er riss sich ein paar Minuten zusammen. Er kam aber nicht sehr lange dagegen an und am Ende spürte ich immer wieder, wie es ihn schüttelte.
Jedes Mal funkelte ich ihn böse von unten herauf an, worauf er Dinge sagte, wie: „Okay, okay, ich höre auf" – „Ich meine nur, wie genau wolltest du mich damit auf Abstand halten?", oder: „Hast du denn einen Stock mitgebracht?"
Schliesslich rückte ich von ihm ab. „Das ist n-n-n-nicht witzig!", beschwerte ich mich.
Er grinste. „Eigentlich schon."
„Hör auf d-d-dich über mich lustig zu machen!"
„Holst du sonst den Stock heraus?"
„Es gibt k-keinen Stock!"
„Sicher?", sagte er und hob die Augenbrauen. „Ich gehe ungern ein Risiko ein."
Als er mein Gesicht sah, hob er die Hände und fügte an: „Andererseits, wie gross ist die Chance, dass du mir damit ans Leder–"
„Steigt gerade drastisch an!"
Überrascht schaute er mich an und ich starrte nicht minder verwundert zurück.
Hatte ich ihn wirklich gerade unterbrochen und gekontert?
Normalerweise sprach ich solche Gedanken nicht laut aus und schon gar nicht so prompt. Wenn ich es mir genau überlegte, dann hatte ich das sogar in meinem ganzen Leben noch nie gemacht und dass sich nun ein amüsierter Zug um seinen Mund legte, machte mich seltsam kribbelig.
„Dann werde ich mich in Zukunft wohl vorsehen müssen", sagte er.
Ich schnaubte und überspielte damit meine Befangenheit.
Er lachte und sagte versöhnlich: „Wir sollten uns wirklich wieder aufs Üben konzentrieren. Allerdings wollte ich dich vorher noch etwas Wichtiges fragen und ich weiss nicht, wie ich es sagen soll."
Gegen Ende des Satzes war er immer leiser geworden und nun hielt ich gespannt den Atem ab. Sein Gesicht war meinem viel zu nahe und ich hatte keine Ahnung, was nun kommen würde.
„Was?" Das Wort entkam mir als ein Flüstern.
Der Schalk in seinen Augen hätte mich vorwarnen sollen, aber da war es schon zu spät. „Wie schlimm genau ist die Spitze des Stockes, von dem wir hier reden?"
„Niaaa."
„Und lang soll er auch noch sein, habe ich gehört."
„Nia!"
„Ja?"
„Du b-b-b-bist so ein Idiot." Ich schubste ihn zurück, aber ich hatte dennoch ein breites Grinsen auf den Lippen.
Zumindest bis ich Merets wütenden Augen begegnete.
Blanke Missgunst zeichnete sich darin ab und ich wurde mir auf einmal der vielen Leute im Raum bewusst. Nia, dem mein langes Schweigen auffiel, folgte meinem Blick und eine steile Falte grub sich in seine Stirn.
Ich wusste nicht, ob ich etwas dazu sagen sollte, doch noch ehe ich den Mund öffnen konnte, schob Nia sich in mein Sichtfeld und Meret verschwand hinter seinem Rücken. Er winkelte ein Bein an und lehnte sich nonchalant darauf, als hätte er es sich aus purem Zufall so bequem gemacht.
Dann schlug er von unten gegen mein Manuskript und sagte: „Nochmal von vorne?"
Ich schaute ihn lange an.
Hinter Nia ging der Regen noch immer in Strömen nieder und der Himmel hatte sich zu einem bedrohlichen Schwarz verdunkelt. Meine Verlegenheit hatte sich die ganze Zeit über kaum gelegt, aber ich fühlte mich dennoch seltsam wohl mit ihm und das lag nicht nur daran, dass seine Sticheleien eine lockere Atmosphäre geschaffen hatten.
Ich schluckte und strich die verknitterte Seite in meinem Schoss glatt.
Ich fühlte mich auf merkwürdige Weise von Nia abgeschirmt. Abgeschirmt gegen die ganze Welt.
Ich hörte meine Mitschüler zwar noch, aber niemand konnte mich sehen und eine ungewohnte Ruhe setzte sich in meinem Inneren fest. Zum ersten Mal in meinem Leben sprach ich laut in einem Saal voller Menschen und sah mich keinem einzigen verurteilenden Blick gegenüber.
Langsam entspannte ich mich und griff den Gesprächsfaden wieder auf.
Alles lief von da an flüssiger.
Nia zeigte nicht die kleinste Ungeduld und als ich besonders lange hängen blieb, wanderte sein Finger sogar ganz von selbst zum Anfang des Satzes zurück.
Er lachte, als er mein Gesicht sah und zog mein Heft zu sich heran. Er schien zu denken, dass ich im Abschnitt verrutscht war.
„Wir sind hier", sagte er. „'Seit ich denken kann, warst du an meiner Seite'"
„D-danke."
Die Geräusche im Raum traten nach und nach in den Hintergrund. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie so viel gesprochen und es war nicht so schlimm, wie ich heute Morgen noch angenommen hatte.
Wenn man es genau betrachtete, dann war es sogar ganz und gar nicht unangenehm. Und am Ende schaffte ich es durch einen ganzen Abschnitt, ohne über eine einzige Silbe zu stolpern.
Als die Glocke erklang, schreckte ich zusammen.
„Also dann", rief Frau Lautner, die bereits dabei war, ihren Krempel zusammenzupacken. „Wir sehen uns nächste Woche und dann gehen wir Hendricks Stimme einmal als Ganzes durch und machen uns Gedanken zu den Liedern und dem Bühnenbild."
Sie wünschte allen ein schönes Wochenende und der Raum leerte sich so schnell, dass ich mich gerade erst aufgerappelt hatte, als schon die meisten zur Tür hinaus waren. Ich folgte Nia die Treppe hinunter, schnappte mir meine Tasche und schloss mich den anderen an. Als wir in den Gang hinaustraten, waren die meisten schon weg und ihre Stimmen waren nur noch von weitem zu hören.
Nia schien es allerdings nicht eilig zu haben, ihnen ins Freie zu folgen.
Ich wollte gerade in meine Jacke schlüpfen, als er sich an die Wand vor mir lehnte.
„Würdest du dich vielleicht mal mit mir treffen?"
Was?
Ich starrte ihn an, wie ein Reh im Scheinwerferlicht.
Er räusperte sich und rieb über die Armbänder seines linken Handgelenks.
„Es muss nicht heute sein, aber vielleicht nächste Woche?" Er schaute mich erwartungsvoll an. „Oder morgen?" Eine leise Unsicherheit trat in seine dunklen Augen, als ich schwieg und er sagte leise: „Nein?"
Hastig nickte ich und schüttelte dann gleich den Kopf.
Er schien heute Abend mit der ganzen Klasse abgemacht zu haben und ich war mir ziemlich sicher, dass sich diese Pläne in den Samstag und Sonntag hinein erstreckten, aber offenbar wollte er trotzdem noch Zeit mit mir verbringen und das machte mich nervös.
War es ihm so wichtig? Wollte er vielleicht endlich die Sache zwischen uns klären?
„M-morgen geht", brachte ich heraus.
Passierte das hier wirklich gerade?
„Hast du um vier Zeit?", fragte er und ich nickte, weil ich glaubte, dass ich ganz bestimmt kein weiteres Wort mehr herausbringen würde.
„Hier bei der Schule?"
Ich nickte erneut und er stiess sich von der Wand ab, schwang sich den Rucksack über die Schulter und sagte: „Dann bis morgen, Nia."
Ich schaute ihm nach und wollte gerade ebenfalls gehen, da fiel mir wieder ein, dass ich meinem Vater versprochen hatte, ihn am Samstag zu einem Firmenanlass zu begleiten.
„Warte!", rief ich, bevor ich nachdenken konnte. „K-könnten wir uns auch am Sonntag treffen?"
Er drehte sich zu mir um, während ich damit kämpfte, das nächste Wort herauszubringen.
„V-vielleicht um d-d-d-drei Uhr? Würde dir das auch gehen?"
Ich wusste nicht, wieso ich eine frühere Zeit vorgeschlagen hatte und ich wollte auch gar nicht darüber nachdenken. Nias Blick war allerdings undeutbar geworden und ich kam mir augenblicklich wie ein Idiot vor. Glaubte ich wirklich, dass er wegen mir sein Wochenende auf den Kopf stellen würde?
Aber dann breitete sich ein langsames Lächeln auf seinen Lippen aus und er sagte: „Ja, klar. Das geht auch."
Als er die Hand hob, winkte ich automatisch zurück. Er verschwand durch die Tür und ich starrte ihm geraume Zeit hinterher. Oh Mann. Was hatte ich gerade getan? Hatte ich mich wirklich mit Nia verabredet und würde ihn am Sonntag vor der Schule treffen?
Ich liess meine Tasche auf eine der Bänke sinken und stiess die Tür zum angrenzenden Waschraum auf. Ich fühlte mich seltsam schwindelig und brauchte einen Moment, um mich zu sammeln.
Mein Gesicht nahm langsam wieder eine normale Farbe an, aber ich wartete dennoch ein paar Minuten länger, um nicht am Ende nochmals in Nia hineinzulaufen.
Oder schlimmer noch; in Meret.
Wie sich herausstellte, war ich aber nicht so alleine im Gebäude, wie ich gedacht hatte, denn als ich den Waschraum verliess, sah ich einen Typen, der sich über meine Tasche gebeugt hatte.
Als die Tür hinter mir ins Schloss fiel, fuhr er erschrocken herum und ich erkannte Oliver. Ertappt schaute er mich an und ich hob die Augenbrauen. Was sollte das bitte?
Erst da sah ich, dass auf meiner Tasche etwas lag.
„Oh", entkam es mir.
Es war ein Regenschirm. Ein quietschgelber Regenschirm.
Sofort dachte ich zurück an den Morgen, als ich durch das Tor gelaufen war.
Hatte Oliver mir gerade den Schirm hingelegt?
Die peinliche Stille zog sich in die Länge, aber schliesslich schien er sich zu fassen und sagte: „Ich wollte dir den hier geben. Ich hab dich nirgendwo gesehen und da dachte ich, ich lege ihn auf deine Tasche."
Er schaute auf seine Füsse hinunter und ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
Oliver hatte mich in all den Jahren nach dem Vorfall mit dem Vortrag nicht mehr angesprochen und auch sonst gab es zwischen uns keine Verbindung. Niemand aus meiner Klasse hatte etwas mit ihm zu tun und ich wusste auch nicht, mit wem er in seinem Jahrgang so herumhing. Seine Geste überraschte mich daher umso mehr und löste Unbehagen in mir aus.
War er zufällig hier durch gekommen und hatte mich ohne Schirm gesehen? Oder wusste er etwa, wie meine Tasche aussah und hatte seine Schlüsse gezogen? Seine Ohren glühten förmlich und es war offensichtlich, dass er einen günstigen Moment abgepasst und gehofft hatte, dass ich nicht so schnell wiederkommen würde.
„W-wieso?", brachte ich heraus und über sein krebsrotes Gesicht wanderte ein komischer Ausdruck.
„Ich, äh ..."
War das eine Art Entschuldigung für damals? Das war schon ein bisschen seltsam.
Ich nahm den Schirm und drehte ihn unschlüssig in der Hand herum. Draussen schüttete es immer noch wie aus Eimern und es war mir unangenehm ihn zu behalten.
Ich streckte ihm den Schirm entgegen, aber er hob nur die Hände und sagte: „Nein, ich möchte ihn dir wirklich geben" Und dann, als wäre ihm ein plötzlicher Einfall gekommen: „Eigentlich kannst du den Schirm sogar behalten. Ich brauchte ihn nicht und ich wohne hier gleich um die Ecke."
Seine Augen zuckten von mir zur Tür und wieder zurück. Er wollte sich offenbar aus dem Staub machen und so entschloss ich mich, seine Freundlichkeit anzunehmen. Ich nickte und mehr schien er gar nicht zu wollen, denn er drehte sich schon um und ging so schnell davon, als wäre der Teufel hinter ihm her.
Okaaay, dachte ich und packte meine Tasche, um mich auf den Heimweg zu machen. Ich hoffte, dass Oliver tatsächlich in der Nähte wohnte und ich am Ende nicht Gewissensbisse haben musste.
Als ich hinaustrat und den Schirm aufspannte, segelte aber plötzlich ein Stück Papier auf den Boden.
Ich wäre fast in den Regen hinausgelaufen, ohne es zu bemerken und bückte mich verwundert danach. Ich war mir ziemlich sicher, dass es in den Falten des Schirms gesteckt hatte.
Eine Nachricht?
Es war schon durchweicht und ich wollte es ganz vorsichtig auseinanderfalten, aber bevor ich die Ecken zu fassen bekam, surrte plötzlich mein Handy in der Tasche und ein Anruf erschien auf dem Display.
Ich schob den Zettel in die Gesässtasche meiner Jeans.
Der Regen prasselte auf das fröhliche Sonnengelb des Regenschirms nieder, als ich den Pausenplatz überquerte und nach meinem Handy kramte.
Ich fühlte mich beschwingt und seltsam leicht ums Herz. War es möglich, dass ich in diesem Schuljahr tatsächlich einmal Freunde finden würde? Oder zumindest Menschen, die ab und zu ein Wort mit mir wechseln würden?
Und konnte es sein, dass es ausgerechnet die beiden Typen waren, die mir dabei als letztes in den Sinn gekommen wären?
Ich entsperrte mein Handy und blieb abrupt stehen.
Meine Schultern sanken nach unten.
17 Anrufe in Abwesenheit stand auf dem Display.
Und jeder einzelne davon war von meiner Mutter.
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Nun hat es doch bis zum Sonntag gedauert, aber das Kapitel ist dafür extra lang.
Vielen Dank für eure lieben Kommentare! Ich freue mich immer sehr darüber und wünsche euch morgen einen super Start in die Woche!
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