𝘼 | Alles ganz normal
››Als eine Armada aus Lichtmonstern unseren Planeten eroberte, wusste ich, dass ich die Englischhausaufgaben heute nicht mehr schaffen würde.
Der Tag begann schon wie ein schlechtes Omen. Ich manövrierte mein Fahrrad über die holprige Straße, oder wie ich sie gern nannte, Flickenteppich. Dieser Streifen hatte zweifelsohne als Müllhalde für jedes da gewesene Bauunternehmen hergehalten. Anders konnte sich das Schachbrett aus Asphalt und Schotter niemand erklären. Ich hätte schwören können, dass jedes Mal irgendwer lachte, wenn mein Vorderrad in eines der Schlaglöcher rutschte. War das bereits genug, um mich in den Wahnsinn zu treiben? Definitiv. War das alles? Nein.
Wenngleich wir Mai hatten, war das Städtchen am Missouri River seit dem Morgen mit Niesel, Nebel und ekligem Wind verhext. Fünf Grad und glitschige Straßen waren kein Trost, wenn man durch Wald und Wiesen radeln musste. In den Schlaglöchern sammelten sich himmelspiegelnde Pfützen. Viel zu oft saugten sich meine Tennissocken mit aufspritzendem Regenwasser voll, welches bergab Rinnsäle bildete.
Normalerweise würde mir Florence + The Machine jetzt zur Seite stehen, oder wenn meine Stimmung mal zu den bleigrauen Wolken passte, Birdy und Lorde. Musik und Fahrradfahren gehören für mich einfach zusammen. Es mag paradox klingen, aber es hilft mir, mich zu konzentrieren. Als ich jedoch fast über meinen Lenker geflogen wäre, weil hinter einer Kurve plötzlich ein Labrador stand, ließ ich das bleiben. Der Hund starrte mich aus liebevollen Augen an und bemerkte offenbar nicht, dass ich ihn beinahe über den Haufen gefahren hätte. Trotz meines rasenden Herzens konnte ich ihm nicht böse sein, wohl aber seinem Besitzer, der an einem Zaun lehnte und sich dort mit dem Grundstückbesitzer unterhielt. Ich versuchte, diesem seltsamen Vorfall keinen Platz in meinem Gedächtnis zu geben, tätschelte den Labrador und radelte davon. Selbst unter solchen Umständen hatten die Bewohner Hermanns keine Scheu, draußen herumzustromern und dabei ihr Haustier nicht anzuleinen. Ich lebte nun schon drei Jahre hier und manchmal konnte ich mich auch nicht entscheiden, ob die Leute in Hermann abgebrüht waren oder einfach verrückt. Aber es war diese Sorte von Verrückt, bei der man getrost sagen konnte: Alles ganz normal.
Eigentlich mochte ich die verwinkelten, kaum belebten Straßen abseits der Market Street, aber bei Nebel und Kälte sind sie wie Schreckgespenster. Ich mochte die Ziegelsteingebäude und die Wiesen und die raschelnden Baumkronen, doch bei solchen Zuständen wirkten sie, als wartete hinter jedem Ast eine Gefahr auf mich. Gut, man könnte einwerfen: Arthur, so dramatisch ist das nicht! Schlechtes Wetter erwischt jeden mal, reg dich ab. Prinzipiell stimme ich euch zu. Aber ich hatte das Problem, dass Stress meine Tics verschlimmerte.
Im Alter von Elf hat man bei mir das Tourette-Syndrom diagnostiziert. Unkontrolliertes Zucken, Geräusche oder das Wiedergeben von kompletten Wörtern- bei mir ist es verschieden. Vier Jahre später weiß ich inzwischen damit umzugehen, aber es ist nicht immer leicht.
Ich habe noch gar nicht erzählt, warum ich hier herumirrte. Ich musste jemandem die Hausaufgaben bringen, mit denen uns die Lehrer auch kurz vor den Sommerferien noch quälten, was ein weiterer Aufregungs-Faktor war. Ab diesem Punkt ist es mir ein bisschen peinlich, da sie das mit hoher Wahrscheinlichkeit lesen wird. Das ist auch in Ordnung so, immerhin hat sie mich dazu bewegt, diesen Eintrag zu verfassen, ›um das Erlebnis aufzuarbeiten.‹ Ich möchte, dass sie es liest. Aber es fällt mir schwer, auf die Zeit zurückzublicken, bevor wir uns kannten, wie ich da über sie gedacht habe- wie anders damals noch alles gewesen war. Alles ganz normal.
Victoria war neu in der Highschool. Sie war vor ein paar Wochen aus der Großstadt hierhergezogen, und dass sie aus der Großstadt kam, wusste ich nur über meine Mitschüler. Von sich aus erzählte Victoria nämlich gar nichts. Wir wussten nicht einmal, welche Stadt. Wenn sie in den Pausen auf ihrem Einzelplatz saß, die Nase in ein Heft gesteckt und eine Melodie vor sich hin summend, die ich nicht zuordnen konnte, kam es mir vor, als wäre ihr Privatleben in einem Hochsicherheitsgefängnis abgeriegelt. Im Unterricht drehte sie sich nie zu jemandem um und meldete sich auch nur so selten, wie sie ein Wort mit einem Klassenkameraden wechselte.
Dabei konnte ich mich gut in sie hineinversetzen. Umzuziehen und in der neuen Schule keinen Anschluss zu finden, war hart. Mir war es vor drei Jahren ebenso ergangen. Seit mein Stiefvater in das überschaubare Leben meiner Mum und mir getreten war und wir aus der deutschen Stadt Dresden zu ihm nach Hermann zogen, hatte das einige Veränderungen mit sich gebracht. Man könnte sagen, dass es mich in das tiefe, seelenverschlingende Loch der Indierock-Playlists geworfen hatte.
Wo war ich? Ach ja. Dass Victoria zu unseren Mitschülern keinen Kontakt suchte, konnte ich ihr beim Besten nicht verübeln. Ich tat dasselbe. Wenn man sich immer verbiegen muss, damit jemand mit dir reden möchte, hemmt das mit der Zeit die Kontaktfreudigkeit. Es kommt mir vor, als würden sich die meisten Freundschaften in der Schule nur darauf stützen, andere davon auszuschließen. Doch vielleicht bin ich einfach nicht der Mensch dafür. Anders als Victoria. Es klingt sicher komisch, aber ich hatte von Anfang an so ein Gefühl, dass sie selbst nicht zufrieden mit dieser Lage war. Dass sie etwas Besseres verdiente, als sich bis zum Abschluss in ihren Magazinen zu verkriechen. Aber auch, dass ich gerne mal mit ihr gesprochen hätte.
Möglicherweise wurde mir diese Ehre heute zuteil, denn ich musste ihr die Arbeitsblätter für die Hausaufgaben bringen, welche ich selbst noch nicht angerührt hatte. Victoria fehlte seit den letzten beiden Tagen, weil sie krank sei, und da ich genauso am Rand der Klassengemeinschaft war wie sie, hatte man mir die Verantwortung aufgetischt.
Ich ließ die geflickte Straße hinter mir und bog in eine kleinere Seitengasse ein. Meine Augen suchten bereits die Hausnummern ab. Victorias Adresse lag nahe der Stone Hill Winery, für dieses Viertel war Hermann bei Touristen berühmt. Unabhängig davon kannte ich das ganze Städtchen wie meine Westentasche. Manchmal brauchte ich einfach den Wind im Gesicht und fuhr dann quer über die Felder bis hin zu den Weinhängen. Mit Tics könnte das gefährlich sein, würde so mancher mich belehren, aber irgendwie beruhigte dieses Hobby sie sogar- wenn ich fröhlich war und nicht im Nieselregen fuhr, versteht sich.
Ich bummelte ohne weitere Kollisionen mit Hunden um die Kurven und passierte die rotweiße Gartenlaube, um welche im Sommer den ganzen Tag der Geruch von Bockwurst kreiste. Jetzt war er mit dem Duft der feuchten Wiesen ausgetauscht worden. Mein eigener Atem kondensierte warm in meinem Gesicht. Meine Jacke raschelte, der Rucksack mit den Englischhaufgaben saß wie festgeschraubt auf meinem Rücken. Die Pedale surrten, ein Tic zwang mich zum Keuchen, und endlich erblickte ich zwischen sich wiegenden Baumkronen das Haus, in dem Victoria sein musste. Es war ein Backsteingebäude mit Dachgiebel und vier Balkonen, das Nummernschild mit den goldenen Ziffern war vor der Einfahrt gut sichtbar. Dahinter ragten die Weinfelder mit ihren reihenweise angeordneten Sträuchern auf wie eine Theatertribüne. Ende August hingen dort im Sonnenschein die prallen Trauben, bevor sie geerntet werden. Alles ganz normal.
Zwischen dem Gebäude und mir lagen um die hundert Meter gerade Straße. Das entsprach einem Fußballfeld. Dreiundsechzig Mal meine eigene Körpergröße. Zwanzig Sekunden würde ich brauchen.
Eigentlich komme ich schnell auf den Punkt. Aber vor diesem Punkt habe ich Angst. Denn es hat sich so viel geändert, in so kurzer Zeit. Ein Tag. Eine halbe Stunde. Zwanzig Sekunden- vorausgesetzt, es wäre alles ganz normal geblieben.
Ich war kurz vor der Einfahrt, als ...‹‹
››Hey.‹‹
Arthur zuckte zusammen, versunken in die Schreiberei. Sein Kugelschreiber, der mit einer violetten Flüssigkeit gefüllt war wie eine Wasserwaage, hatte bereits Abdrücke in seiner Hand hinterlassen. Mit einem Klicken war die Mine im Schaft. Victoria schob ihren Kopf zu ihm herüber und trieb sich die Müdigkeit mit einem Gähnen aus.
››Auch schon wach?‹‹ Arthur schmunzelte.
Seine Sitznachbarin kämmte sich mit den Fingern durchs Haar, während sie die beschriebenen Blätter auf seinem aufklappbarem Reisetischchen überflog. ››Ich hatte das Nickerchen nötig. Und so, wie du aussiehst, hättest du das auch.‹‹ Victoria rückte ihren Gurt zurecht, der beim Schönheitsschlaf aufdringlich gewesen sein musste.
››So spät bin ich auch nicht ins Bett‹‹, erwiderte Arthur.
››Deshalb bringe ich euch zu Arthurs Stiefgroßmutter‹‹, mischte sich die sanfte Stimme auf der vorderen Reihe ein: Victorias Vater William, Fahrer des Skodas. In der Brusttasche seines Hemdes hatte er immer Stifte und Büroklammern parat. ››Nach diesem ganzen Stress wird euch eine Pause gut tun ...‹‹ Seine wahre Sorge teilte er ihnen flüsternd mit. ››Wenn es drauf ankommt, ist es dort sicherer.‹‹
››Dad, uns wird nichts passieren. Diese ... Armee ist nicht auf irgendwelche Amerikaner in Dörfern aus‹‹, sagte Victoria eindringlich, die diese Diskussion häufig führen musste.
››Das weißt du nicht. Man kann nie absehen, was sie als Nächstes tun werden. Aber Hauptsache, ihr habt eure Ruhe.‹‹
In Victorias Augen, die noch eine Stufe dunkler waren als ihre Haut, schimmerte Besorgnis. ››Du musst dich auch mal entspannen. Du bist mehr auf Achse als jeder andere.‹‹
››Nicht, dass wir dir nicht dankbar dafür wären, mal unser Zimmer verlassen zu können‹‹, kommentierte Arthur.
››Trotzdem. Die Wohnung von Arthurs Stiefgroßmutter liegt mittig in Hermann, und nicht am Missouri River, wo diese Viecher durch die Gegend streifen. Das ist mir lieber.‹‹
An der Art, wie Victoria ihre Lippen zu einem Strich verengte, erkannte Arthur, dass sie zwar Verständnis hatte, aber sich dennoch überwinden musste, ihrem Vater nicht ins Wort zu fallen.
››Ich weiß, dass kein Krieg ist, meine Maus. Aber wir müssen auf das Schlimmste vorbereitet sein‹‹, ergänzte William, als könnte er Victorias Unbehagen in seinem Nacken fühlen.
Krieg.
Auf das Schlimmste vorbereitet sein.
In Arthur begann sich etwas zu bewegen, wie ein kleines Ungeheuer, das sich durch seine Brust grub. Dasselbe Ungeheuer, welches ihm Albträume bescherte, wenn er die Rufe der mystischen Wesen an den Grenzen von Hermann vernahm. Es war ein tiefsitzender Instinkt, der ihn dazu drängte, sich zu verstecken, sobald etwas ihn daran erinnerte. An den Tag, an dem die Welt sich auf den Kopf drehte.
Ein Tag. Eine halbe Stunde. Zwanzig Sekunden.
››An welcher Stelle bist du?‹‹, fragte Victoria, als ginge es um die Deko eines Zimmers.
››Ich habe noch zwei Sätze zu dem Text von gestern hinzugefügt. Jetzt, äh, komme ich zum Prekären.‹‹ Der Zynismus konnte seine Nervosität nicht überdecken. Arthur hatte auf das Aufgeschreibsel keine Lust, aber er hatte es nötig. Und er war bereit dafür.
››Viel Erfolg. Kann ich dir helfen?‹‹
Arthur schüttelte den Kopf. ››Das musst du auch nicht. Wenn du es nachher liest, genügt mir das.‹‹
››Das ist mir nur recht‹‹, meinte Victoria und ließ sich zurück in ihren Sitz kippen. ››Dann penne ich mal weiter.‹‹
››So lange fahren wir nicht mehr, aber nur zu‹‹, sagte William.
Arthur sah aus dem Fenster, wo sich die vorbeiziehende Stadt stetig zu wiederholen schien. Die Ausnahme bildeten die hinter dem grünen Blätterwerk gebauten Häuschen, von denen keines dem anderen glich. Viele hier arbeiteten in Bed and Breakfasts wie Arthurs Eltern, in Shops oder vermieteten Ferienwohnungen. Dabei gab es keine Standardformatierungen, Hermann könnte man als bunten Haufen an Häusern bezeichnen- alt und modisch, flach und schräg, dicht an dicht.
Die Witterung jedoch war dieselbe wie an dem Tag, als es begann. Regen und Nebel legten bleiche Schlieren um die Grundstücke. Grauer Dunst sammelte sich um die Baumkronen und Schornsteine wie ein Schal. Die engeren Straßen sowie breitere Alleen waren eine einzige Spur aus Pfützen. Der Scheibenwischer ging ununterbrochen. Es kam ihm vor, als spiegelte Hermann gerade die Verfassung der Menschheit, wie der Nabel der Welt, der Ursprung der Katastrophe. Für Arthur war es das auch.
Er zupfte die Ärmel seines Wollpullovers zurecht, beruhigte diesen Instinkt in sich. Mit einem Klicken machte er die Mine einsatzbereit. Und als Arthurs Kugelschreiber das Papier berührte, war er wieder mittendrin.
››Meine Socken bekamen gerade eine erneute Ladung Regenwasser ab, als ein Donner grollte. Schon die Lautstärke war eine Bedrohung für sich, und ein Gewitter brauchte ich nicht auch noch. Doch als ich einen Blick hinauf zum verdeckten Himmel warf, bremste ich so scharf ab, dass ich mich knapp selbst vom Fahrrad geschleudert hätte. Oben, im endlosen Grau der Wolken, entflammte ein blasses Schimmern. Es breitete sich aus wie eine umgekippte Chemikalie, bis es ungefähr über mir angekommen war. Ich glotzte wie erstarrt nach oben, sodass mein Gesicht vom Niesel nass wurde, blinzelte und rieb mir die Augen. Hätte ich es nicht selbst gesehen, hätte ich es nicht geglaubt.
Inzwischen bildete das Flimmern eine gezackte Linie, die viele Kilometer lang sein musste. Die Helligkeit intensivierte sich, als würde dort oben jemand einen LED-Stab halten und näher auf die Erde zutreten.
›Was in aller ...‹ Ich krallte mich an den Lenker, als wäre er ein Schwert. Die rasante Entwicklung des Leuchtens ließ mich schwindeln. Waren das Polarlichter? Gab es in den USA Polarlichter?
Diesen Gedanken verwarf ich sofort, als die Linie zu donnern und zu grollen begann. Plötzlich pflanzte sich durch den flimmernden Zickzack ein Riss. Wie ein Canyon, der in die Luft gemeißelt wurde. Ich glaube, erschüttert würde das, was ich fühlte, beschönigen. Ich schrie einfach los.
Bläuliches Licht floss aus der Himmelsnarbe und kurz war es das Schönste, das ich je gesehen hatte. Das geheimnisvolle Schimmern entfaltete sich über der Welt, der Spalt wuchs und wuchs, bis ich nicht mehr sein Ende ausmachen konnte. In der schwebenden Schlucht ließ sich nichts erkennen bis auf das grelle Blau. Ich konnte dennoch nicht das Gesicht abwenden. Dieser strahlende Fluss mit seinen vielen Abzweigungen musste sich über Tausende Kilometer erstrecken.
Ich war zu überwältigt, um Genaues benennen zu können, doch bei einer Sache war ich mir sicher: Dass ich nicht nur schiere Angst fühlte, als sich die Schlucht zwischen den Wolken krachend auseinanderschob- sondern auch etwas, als hätte man mir ein Bild einer früheren Wohnung gezeigt, an die ich mich nur noch düster erinnerte.
Aus dem blauen Strom lösten sich Punkte, zuerst ein paar Vorreiter, dann flutete eine ganze Masse heraus. Mein Schrei wurde zu einem Keuchen. Das mussten Millionen sein, aber wovon? Von hier aus sahen sie wie glühende Staubpartikel aus, die die Kluft zuerst ausfüllten und dann nach unten trudelten. Manche von ihnen glitten schnurstracks in Richtung Erde, andere kreisten und drifteten zur Seite ab. Man hätte es für einen organisierten Bienenschwarm halten können.
Ich erkannte früh, dass vier dieser Partikel auf Hermann zustrebten, da die meisten ins Weite ausstoben. Sie wirkten harmlos im Vergleich zu dem Meer an ihresgleichen, das in die entgegengesetzte Richtung aufbrach, doch ich ging nicht davon aus, dass sie das auch waren. Als sie näherkamen, realisierte ich die erste Einzelheit an diesen hellblauen, strahlenden Klumpen: Flügel.
Aus den weit entfernten Punkten wurden Wesen von der Größe eines Busses. Wesen mit Schnäbeln, eigenartigen Körpern, Krallen und den Schwingen eines Kondors. Ich hatte von ihnen bereits in Büchern gelesen und war in Fantasyfilmen von ihnen beeindruckt gewesen, aber sie unterschieden sich von denen aus meiner Vorstellung: Sie bestanden nicht aus Flammen, sondern ineinander verflochtenen Blitzen. Phönixe.
Damit verlor ich endgültig den Glauben, woran auch immer. Ich überließ mein Fahrrad sich selbst und rannte nach links. Die vernebelten Bäume, die die Straße umzäunten, kamen mir plötzlich nicht mehr vor wie eine undurchdringliche Mauer. Ich drückte mich an einen der Bäume, zog den Kopf ein und fühlte mich dennoch wie ein Huhn in der Schießbude. Mit Sicherheit bemerkten die Vögel mich, als sie nahe über mir entlangzogen, aber es kümmerte sie nicht. Sie flogen auf den Missouri River zu.
Mein Blick schwenkte hinauf zu ihren unzähligen Artgenossen. Noch immer stiegen sie aus der donnernden Schlucht. Sie schwärmten aus, senkten sich auf den Boden hinab, so weit ich blicken konnte, wie ein Sturm aus Sternen, der den Globus umfasste. Der gesamte Himmel erstrahlte.
Meine Knie gaben nach. Nur der raue Stamm in meinem Rücken schenkte mir noch Halt.
Die vier Tiere über Hermann drehten nun um und kehrten zurück. Sie verständigten sich über einen schnatternden Singsang, bei dem ich ein wenig an tropische Vögel dachte. Aber das war nur ein schwacher Vergleich, ich hatte so etwas noch nie gehört. Ich hatte auch noch nie Vögel gesehen, die aus gebündelten, blauen Blitzen bestanden. Sie verstreuten sich über dem Städtchen, als wollten sie es einnehmen. Okay, sie wollten es einnehmen, was sonst.
Man hätte es sowieso vermuten können, aber es gab noch etwas anderes, das mir das sagte. Ihr Zwitschern hallte in meinem Kopf wider, als wäre er eine Tropfsteinhöhle voller quiekender Kinder. Es waren keine Worte, die erzeugt wurden, eher Bilder- ich spürte ihr Vorhaben, als hätte ich einen Traum davon. Das musste es alles sein, ein Traum. Ein ganz normaler Traum.
Ich versuchte, meine Schnappatmung zu kontrollieren, als die monströsen Kreaturen über mir durch die Luft segelten. Ihre Flügel sprühten Funken, die Blitze in ihnen zuckten lautlos. Der Gesang der Phönixe schien sich tausendfach in meinem Ohr zu brechen und wirbelte meine Gedanken durcheinander. Warum verstand ich sie? War das beabsichtigt?
Ihr Zwitschern wurde von flappenden Rotorblättern durchkreuzt. Ein Trio sandfarbener Militärhubschrauber flog herbei, ihr Brummen übertraf sogar das dröhnende Portal. Die Phönixe rotteten sich über mir wieder zusammen und bildeten einen Ring. Ich presste mich an meinen Baum und machte mich auf eine Schießerei gefasst. Doch die zwei Parteien verharrten auf Abstand voreinander in der Luft. Anscheinend sollten die Helikopter nur die Lage auskundschaften und die Stadt nicht verteidigen. Oder nicht einmal sie wussten, wie sie damit umgehen sollten.
Die Phönixe waren nicht so perplex. Ein geschlossenes Gurren erhob sich in der Meute. In meinem Geist liefen Bilder ab, wie einer von ihnen sich auf den Feind stürzte, um dessen Grenzen zu testen, bevor genau das geschah.
Ein Vogel schraubte sich nach vorne und grub von unten seine Krallen in den Hubschrauber. Sie schnitten durch das Aluminium, als wäre es Pappe. Die drei übrigen tauchten sofort ab, um keinem Gegenangriff ausgesetzt zu sein. Und ich biss mir in die Hand, um nicht zu kreischen. Der Helikopter schleuderte umher wie ein strampelndes Baby und seine Kameraden mussten ihm ausweichen, doch er konnte sich nicht von dem Phönix befreien. Dieser ließ gerade noch los, als der Hubschrauber auf die Bäume der gegenüberliegenden Straßenseite traf. Die Rotorblätter fegten durch das Grün und sägten Äste ab. Der Koloss von Helikopter verhakte sich in den Armen der Bäume, wurde auf den Kopf gestellt und sackte dann weiter durch. Er kam scheppernd auf dem Dach auf, gerade so neben meinem Fahrrad. Die zersplitterten Rotorblätter schleiften über den Asphalt, bis der Antrieb versagte und die Maschine tot in einem Bett aus abgebrochenen Ästen lag. Ich konnte froh sein, dass ich nicht verletzt worden war. Auf dem Bauch des Helikopters saß der Phönix, als wäre er enttäuscht, dass das lustige brummende Gerät nicht mehr auf dem Kasten hatte. Dann sah er mich.
Seine Augen brannten in einem Azurblau, in denen die schwarze Pupille hervorstach wie Eigelb. Der Scheinwerfer-Blick war gruseliger als alles andere an ihm. Erstarrt beobachtete ich, wie er sich in Gang setzte. Aus dieser Nähe wirkte das Himmelswesen noch viel heller und voluminöser als von unten. Von den flackernden Blitzen in ihm wurde mir schwummrig, seine Bewegungen waren zu graziös für ein Tier dieser Welt. Er humpelte nicht schwerfällig, eher, als würde die Erde seine Kraft spüren und sich ihm unterwerfen. Würdevoll schritt er auf mich zu und benutzte seine Schwingen dabei wie Krücken. Er hatte ein metallenes Band an seinem Hals, auf dem ein Wappen eingestanzt war.
Ich entriss mich meiner Starre, stolperte zurück und überschlug mich, als es unter meinen Füßen auf einmal nichts mehr gab.
Ich fand ich mich in einem schlammigen Straßengraben wieder und steckte bis zur Brust im Dreck. Die Kälte des angesammelten Regenwassers kletterte sofort unter meine Kleidung, doch Priorität hatte der Phönix, der neugierig auf mich zulief. Keuchend robbte ich von ihm weg durch den schlürfenden Morast. Ich erwartete, dass er jeden Moment nach mir schnappen würde und schaute mich hektisch nach einem Versteck um. Als wäre ich ein Mal mit Glück gesegnet gewesen, ging in zwei Metern der Graben in ein Abwasserrohr über, in das ich sitzend passen müsste.
Ich streifte meinen Rucksack ab und rettete mich mit einem Hechtsprung in den dunklen Schacht, der Schlamm spritzte mir überall hin. Die Landung auf dem Zement war keinesfalls angenehm. Der Phönix zwitscherte überrascht und als ich mich umdrehte, spähte sein leuchtendes Auge zu mir hinein.
Ich unterstand mir, nach ihm zu treten. Das musste ich auch nicht, denn sogleich wurde er abgelenkt. Aus dem umgelegten Helikopter schallten Stimmen. Auch der Phönix begriff, dass die Insassen überlebt hatten. Das mächtige Tier wandte sich von mir ab und erhob sich wie seine Begleiter mit schlagenden Flügeln. Eine Tür wurde geöffnet und ein Kommando gerufen, dessen Temperament nur auf eins schließen ließ: Die Offensive.
Sie kämpften und ich betete, dass es nicht das Letzte war, was ich hörte.‹‹
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