Bahnfahren

Der Anruf kam als ich 20 war. Man sagte mir, dass ich sofort kommen müsse und das ihr nicht mehr viel Zeit bliebe. Jetzt weiß ich, dass das wahr war und wünsche mir ich hätte all meine Zeit mit ihr verbracht und nicht in meiner kleinen Studentenbude in Berlin.
Kurz darauf saß ich in der Bahn nach München, wo wir früher gelebt hatten. Früher, als alles noch gut war und ich mich noch nicht mit den Sorgen dieser Welt abgeben musste. Ich höre noch ihre Stimme im Ohr, wie sie mir gesagt hat, ich solle mir nicht immer solche Sorgen um alles machen und das Psychologie sicher nicht das richtige Studium für mich wäre, denn das würde doch über kurz oder lang dahin führen, dass ich mir in einem Ohrensessel sitzend die Probleme anderer anhören würde. Schon damals hatte sie keine Ahnung von meinen Plänen und noch weniger von meinen Träumen. Vielleicht bin ich deshalb so früh nach Berlin gegangen um dort mein eigenes Leben in die Hand zu nehmen und mich um mich zu kümmern und nicht immer nur um sie. Eine alte Frau rempelte mich mit ihrer überdimensionalen Reisetasche an, die sie wohl von ihrer Großmutter geerbt hatte, denn sie sah zumindest so alt aus, dass ich mir Sorgen machte sie würde jeden Augenblick auseinander fallen und die Frau würde sich in der peinlichen Lage wiederfinden vor den Augen aller anderen Reisenden den Inhalt ihrer Tasche wieder einsammeln zu müssen. Ich weiß noch, als uns das passierte, auf dem Weg an die Nordsee vor ziemlich genau zehn Jahren. Meine Schwester Maya und ich hatten den ganzen Weg zum Bahnsteig hin gemault, weil wir schon wieder an die Nordsee fuhren während alle anderen sich auf den Weg zu einem dieser tollen Reiseziele machten und ich mir ziemlich sicher nach den Ferien wieder die tollsten Urlaubsgeschichten von meinen Freunden anhören musste. In der Bahn war uns dann die Reisetasche, die wir vom Second-Hand Shop hatten, runtergefallen und da die Qualität dieser Tasche erwartungsgemäß nicht gerade gut war sind die Schnallen beim Aufprall aufgesprungen und der gesamte Inhalt hat sich auf dem Boden der Bahn entleert. Die anderen Menschen in der Bahn haben uns mit ihren Blicken durchlöchert während wir alles wieder eingepackt haben, seitdem hasse ich Bahnfahren. Ich hasse Bahnfahren, hörte ich die alte Dame mit der noch älteren Reisetasche sagen, die sich jetzt zwischen zwei Sitzen verklemmt hatte. Die Tasche natürlich, nicht die Dame. Nein, die Dame zerrte jetzt an ihrer Reisetasche um sie zwischen den Sitzen zu befreien, wobei sie die anderen Fahrgäste schon ganz gierig beobachteten, immer nach einem neuen Skandal aus, über den sie sich lustig machen können. Dabei fiel mir auf, dass die alte Dame nicht mehr die fitteste war und sich ohnehin schon kaum auf den Beinen halten konnte. Der Ruck mit dem sie die Tasche jetzt zwischen den Sitzen hervorzog und die Tatsache, dass die Bahn nun mit einem ohrenbetäubenden Quietschen anhielt, führte eins und eins zusammen und die Dame landete (ihre Reisetasche fest umklammernd) auf dem Schoss eines Mannes, den ich auf Mitte zwanzig schätzte. Leider öffneten sich genau in dem Moment, als die Dame ihren Mund öffnete, um vermutlich eine Entschuldigung auszusprechen, die Türen der Bahn und der Münchener Hauptbahnhof erstreckte sich hinter den dicken, milchigen Fensterscheiben der Bahn. Ich schnappte mir meinen Koffer,aus dem Laden aus der Innenstadt und extrem sicher damit mir so etwas wie auf dem Weg zur Nordsee nicht nochmal passiert, und verließ die Bahn und damit auch das peinliche Schweigen was sich dort mit dem Sturz der Dame breitgemacht hatte. 

Nachdem ich mich durch die Massen an Reisenden im Münchener Bahnhof zu einem Taxi durchgekämpft hatte und mir mein Taxi vor der Nase weggeschnappt wurde, ließ ich mich auf einen Sitz im Bus fallen und lehnte meinen Kopf an die kalte Fensterscheibe. Öffentliche Verkehrsmittel sind einfach nicht mein Ding, bemerkte ich, als sich ein Mann mittleren Alters, der eindeutig zu viel Fast Food gegessen hatte, neben mich auf den Sitz quetschte und dabei die Hälfte meines Sitzes für sich beanspruchte. Nach etwa zehn Minuten sah ich mein Ziel vor mir auf der Straße, zwängte mich an dem Fast-Food Typen neben mir vorbei und stolperte auf die Straße.

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