Abschied

Das Hospiz war ein grauer Betonklotz. Nicht der ideale Ort zum Sterben, dachte ich bevor ich die Tür öffnete und mir der widerwärtige Geruch von Leid, Trauer und Tod ins Gesicht schoss. Auf meiner imaginären "Ich hasse"-Liste fügte ich nach Bahn- und Busfahren Hospize hinzu. Mit einem kurzen Blick hin zu den Aufzügen entschied ich mich, mich nicht auch noch hineinzuzwängen und mich dem Risiko auszusetzen ich könnte die Warnanzeige auslösen, dass das zulässige Gewicht überschritten wurde, und lief zum Treppenhaus. 1.Stock, 2.Stock,3.Stock Tür auf....und rein in den Flur, auf dem ihr Zimmer sein sollte. Nach einer kurzen Suchtour fand ich schließlich die richtige Zimmernummer und öffnete langsam und zögerlich die Tür.
Das Zimmer war nicht gerade groß und auch nicht sonderlich schön eingerichtet, aber wenigsten wurde es in einem schönen Orangeton gestrichen und wirkte nicht ganz so kahl. Auf dem Tisch stand ein großer Blumenstrauß mit Tulpen, ihren Lieblingsblumen. Dann sah ich sie. Sie sah schlecht aus, ihre Wangen waren eingefallen, große, dunkle Ringe zeichneten sich unter ihren Augen ab. "Krebs ist nicht gerade ideal, wenn man einen Schönheitswettbewerb gewinnen will" sagte sie als sie meinen Blick bemerkte. Typisch, so war sie schon immer. Schön humorvoll und immer einen Witz auf den Lippen damit auch niemand merkte, wie es ihr wirklich geht. Immer noch wortlos setzte ich mich an ihr Bett. Die Frage wie geht es dir erschien mir unpassend, war aber das Einzige was mir einfiel. Darum sagte ich nichts. "Weißt du was ich mir wünsche, wenn ich Tod bin?" fragte sie und ich schaute hinaus aus dem Fenster. Sie legte meine Hand in Ihre und ich erschrak über den Kontakt, so lange hatten wir schon keinen mehr. "Ich wünsche mir eine Himmelslaterne von den Menschen die ich liebe, die zu mir in den Himmel fliegt, damit ich sie nie vergesse." Ich schaute mich nochmal im Zimmer um. "Kommen die anderen nicht?" fragte ich schließlich. Das erste was ich zu ihr sagte, nach all den Jahren ohne Kontakt. Ich hätte mir überlegen sollen, was ich sage bevor ich rein gekommen bin. "Sie waren schon da, aber mussten dann weg." antwortete sie. Dann Stille. Keiner von uns sagte etwas, ich weiß nicht ob es daran lag, dass wir uns nichts mehr zu sagen hatten oder weil wir beide Angst hatten etwas falsches zu sagen. "Und du studierst immer noch Psychologie?" "Ja", antwortete ich. Ich stand auf. Sie lag da im Sterben und ich kam für sie extra aus Berlin nach München und sie hatte nichts Besseres zu tun als mich über meine Karriere auszufragen. Es hat sich wirklich nichts geändert. Ich ging aus dem Zimmer und suchte das Treppenhaus. Innerlich fluchte ich leise, weil ich es nicht sofort fand und beschloss dieses Hospiz nie wieder zu betreten. Ich lief die Treppen hinunter: 3.Stock, 2.Stock, 1.Stock, Tür auf, raus. 

Am nächsten Morgen ging ich nochmal zu ihr ins Hospiz, es kam mir falsch vor es nicht zu tun. Ich hatte meinen Koffer schon wieder gepackt und mich auf den Weg zur Bahn gemacht, da sah ich einen Bäcker und bat den Taxifahrer anzuhalten und mich anschließend zum Hospiz zu fahren. "Ich habe Apfelkuchen dabei". Sagte ich und stellte das Tablett auf den Tisch als ich hinein kam. "Den magst du doch so." Sie stand auf, ging zum Tisch, setzte sich und lächelte. "Das weißt du noch?". Sie deutete mir an mich zu ihr zu setzten und ich kam ihrer Bitte nach. Sie teilte das Stück Kuchen, was ich mitgebracht hatte und schob mir wortlos eine Gabel zu. Ich sagte nichts, aber ich verstand. Wir aßen zusammen Apfelkuchen, schauten aus dem Fenster, schwiegen die meiste Zeit.  Ich ging erst, als es schon dunkel war. 3.Stock, 2.Stock, 1.Stock, Tür auf, raus. Jeden Tag kam ich zu ihr, brachte ihr ein Stück Kuchen mit, das wir dann gemeinsam aßen, wir redeten immer noch wenig. Die meiste Zeit saßen wir einfach so da und schauten uns an, mehr nicht.
Eines morgens, ungefähr drei Wochen später war ihr Zimmer leer. Ein Pfleger brachte mir ihre Sachen, darunter auch ein Schal den ich ihr mal geschenkt hatte. Ich zog ihn an, zündete eine Kerze an und saß eine Zeit lang einfach nur so da. Ich weiß nicht mehr wie lange ich dort saß, vielleicht eine Stunde, vielleicht mehr, vielleicht auch weniger. Schließlich machte ich mich auf den Weg nach unten. 3.Stock, 2.Stock, 1.Stock, Tür auf, raus, und mir wurde bewusst, dass ich diesen Weg das letzte Mal gegangen war.  Dieses mal ging ich nicht sofort ins Hotel sondern lief zu einem Park. Es wurde bereits dunkel und ich konnte nicht mehr so gut sehen, doch aus meiner Kindheit wusste ich noch, dass an dieser Stelle eine Wiese voller Tulpen war, zu der wir im Sommer immer gegangen waren. Ich holte die Himmelslaterne raus, die ich schon nach meinem zweiten Besuch im Hospiz gekauft hatte, zündete die Kerze an und ließ die Laterne steigen. 
Manche Leute würden sagen, dass das was wir hatten kein richtiger Abschied war und das diese kurze Zeit in der wir nicht mal richtig miteinander gesprochen hatten, nicht ausgereicht hat um all die Jahre die wir verpasst hatten wieder aufzuholen. Aber das mussten sie auch nicht. Denn obwohl wir nicht viel miteinander geredet hatten, habe ich begriffen, das sie und ich uns ähnlicher waren als ich es vorher jemals gedacht hatte und das sie mir wichtiger war als ich es jemals geglaubt hatte. Ich schaute in den nachtschwarzen Himmel und auf die Laterne, die feuerrot in die Nacht hinaus tanzte. "Mach's gut Mama." sagte ich schließlich und schaute zu, wie die Himmelslaterne hinter dem Horizont verschwand. 

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