Teil 6 Lanark
Die nächsten Tage waren tatsächlich schon eher das, was sich Dallas von dem Job und dem Trip versprochen hatte. Sie fuhren die vorgegebenen Punkte an, erlaubten sich aber auch, interessanten Fährten nachzugehen. Nach dem Gespräch mit der Frau im roten Anorak hielt er es für eine gute Taktik, den Kontakt mit den Leuten aus der Gegend zu suchen und da sie abends immer in einem Pub waren, war es auch nicht so schwer, mit jemandem ein Gespräch anzufangen. Die Leute fanden es gut, dass er und das Team sich wirklich für die Lokalgeschichte oder besondere Ereignisse und Orte interessierten. Für gewöhnlich versprach Dallas, ihnen mitzuteilen, ob man sich bei der BBC dann wirklich für ihren Ort als Drehort entscheiden würde. Aber das würden die Locals sowieso spätestens dann realisieren, wenn sich eine Filmcrew mit Bussen oder Trucks in ihre Gegend verirrte. Das, was Dallas für sich selbst die „Janice-Situation" getauft hatte, blieb überschaubar. Ihr Missvergnügen über sein halbwegs höfliches Desinteresse hielt sich die Wage mit dem Umstand, dass Tariqs überdeutliches Interesse ihr schmeichelte. Soweit Dallas das beurteilen konnte, hatte sie ihn aber auch noch nicht 'rangelassen. Dabei war Tariq ein sportlicher Typ und alles andere als unattraktiv, fand Dallas. Robert schien darüber nicht weniger verwundert als Dallas, allerdings tauschten sie darüber nur gelegentlich vielsagende Blicke aus. Das Wetter blieb schottisch, im besten Fall, und die Gegend wurde zunehmend einsamer, je länger sie unterwegs waren. Hatten ihre Unterkünfte zunächst noch Namen wie Glenrowan House oder Ye Aulde Coaching Inn, so waren sie inzwischen bei The Boar oder The Wild Swan angekommen. Inzwischen war Dallas dreimal beim unbefugten Betreten erwischt worden, konnte jedoch immer wieder seinen Charme einsetzten und die ungehaltenen Eigentümer oder Angestellten mithilfe seiner Kamera davon überzeugen, dass er gerade etwas wirklich Wichtiges tat, indem er sich zum Fotografieren auf ihrem Grundstück oder ihrer Weide herumtrieb. Einmal wurde er von einem Hund verjagt. Was er daraus gelernt hatte war, dass es besser wäre, vorher um Erlaubnis zu fragen. So landete er schließlich an der Freisprechanlage eines ziemlich beeindruckenden gusseisernen Tores. Beim ersten Läuten kam keine Reaktion und er schaute sich genervt um. Da war ein noch beeindruckenderes Wappen an dem beeindruckenden Tor. Es zierte den Torbogen weit oben und zeigte einen Hirsch mit goldenem Geweih und einen großen Hund mit silbernen Augen, die aussahen, als würden sie gegeneinander kämpfen. Dallas läutete erneut. Diesmal kam Antwort: „Hallo, wer ist da?", fragte eine Frauenstimme.
„Guten Morgen, Ma'am, hier ist Dallas Muir. Ich komme von der BBC und würde gern die Erlaubnis bekommen, hier auf dem Anwesen Fotos machen zu dürfen. Wir suchen Filmlocations."
„Hier? Wie kommen Sie denn auf so eine Idee?" Immerhin, das war kein Nein.
„Man hat mir im Wild Swan erzählt, dass Lanark House und seine Ländereien sehr beeindruckend seien und dass es im Park ein Wildtiergehege gibt. Ich würde gern ein paar Tiere aufnehmen." Dallas wusste, dass die Frage auf etwas Anderes abzielte, aber er zog es vor, sich nicht einschüchtern zu lassen.
„Da müssen Sie den Laird fragen."
„Kein Problem, holen Sie ihn an den Apparat?!" Das war ganz schön dreist, aber vielleicht machte das ja Eindruck.
„Der Laird hat für so einen Mumpitz keine Zeit. Warten Sie, ich hole Sie ab, dann bringe ich Sie zu ihm." Sie war offenbar unsicher, ob sie ihm selbst eine Abfuhr geben sollte.
„Gerne. Danke." Das war gelogen. Ungerne. Dallas hatte keine allzu hohe Meinung von Leuten, die nicht mal selbst ihre Tür aufmachten. Wahrscheinlich war der Laird mit Geld zählen beschäftigt, Tontaubenschießen oder Golf. Er spähte durch das Tor, aber das ganze Anwesen war so groß und der Park auch recht verwildert, sodass man das Herrenhaus nicht sehen konnte. Dann endlich hörte man ein seltsames Geräusch, so wie das Summen von einem Autoscooter und tatsächlich kam ein Golf Caddy um eine Biegung gefahren. Am Steuer saß die Frau von eben, die so um die sechzig sein musste. Sie war nicht wirklich alt, aber ihr Haar war grau und sie trug es in einer Steckfrisur, die nicht mehr modern war. Sie betätigte eine Fernbedienung, worauf sich das Tor automatisch öffnete. Als Dallas hereintrat, hatte sie ihn erreicht.
„Und Sie sind wirklich von der BBC?"
Ja, verdammt, sah er nicht so aus? Sie war ganz schön misstrauisch. „Ja Ma'am", sagte er mit einem Lächeln. Das wirkte eigentlich immer.
„Kenne ich Sie aus dem Fernsehen?"
„Nein, Ma'am, ich bin hinter der Kamera."
„Muir heißen Sie. Woher kommt ihre Familie?"
War das wichtig? „Edinburgh."
„Hmm. Steigen Sie ein."
Dallas tat, was sie verlangte und schon setzte sich das Gefährt in Bewegung und sie fuhren eine breite Allee aus alten, riesigen Kastanienbäumen entlang. Ein paar Kaninchen grasten auf dem Rasen, der ebenfalls etwas verwildert wirkte. Sie nahm sogleich ein Walkie-Talkie zur Hand. „Master Dugan, wir kommen jetzt rein. Ich bringe den Gast zu Ihnen."
Gast?! Bisher tat sie eher so, als sei er ein Spion. Dallas entschied sich wieder für die Charme-Offensive.
„Sie sind bestimmt schon lange in den Diensten von Mr. Dugan." Dallas lächelte.
„Was haben Ihnen die Spinner im Swan erzählt? Er ist nicht Mr. Dugan. Er ist der Laird of Lanark, Dugan Roarke McLanark."
Dummer Fehler.
„Nun ja. Sie sagten, er habe diesen Wildpark. Und er sei so 'ne Art radikaler Umweltschützer. Es gibt wohl Hinweise auf den schottischen Tiger oder sogar Wölfe hier in der Gegend und er setzt sich dafür ein, dass die nicht gejagt oder vertrieben werden."
„Junger Mann, es gibt hier Wölfe. Und die gab es schon vor den Schafen. Aber diese lammfrommen Schafzüchter aus der Gegend haben Angst und wollen eine Art Abschusslizenz."
„Und Ihr Mis- äh, Master Dugan will das nicht."
„Das wäre ja noch schöner! Natürlich nicht! Das umliegende Land ist traditionell in Familienbesitz."
Das umliegende Land. Das bedeutete wohl, dass der riesige Park, durch den sie gerade fuhren nur der Anfang war. „Gibt es hier etwas Besonderes?", fuhr Dallas fort in seinem bisher erfolglosen Bemühen, ihre Laune zu verbessern.
„Was wollen Sie damit andeuten?!" Sie schaute ihn prüfend an und vergaß, auf den Weg zu schauen. Im Nu holperten sie kurz über die Wiese und Dallas griff beherzt ins Lenkrad, um den Caddy wieder in die Spur zu bringen. „Gar nichts, Überhaupt nichts. Ich dachte, sie kennen vielleicht einen besonderen Ort oder eine lokale Legende." Er setzte ein extra charmantes Lächeln auf. Ihre Miene dagegen versteinerte sich regelrecht. „Das ist alles Mumpitz. Hier gibt es keine Legende, nichts."
Dallas ließ das so gehen. Er würde schon noch dahinterkommen, wenn es hier etwas zu entdecken gab. „Sie haben hier riesigen Ginster und Rhododendron." Etwas harmlose Konversation war vielleicht angebracht. Sie antwortete jedoch nicht und endlich kamen sie nach einer kleinen Brücke an dem besagten Wildgehege an. Da war eine Hecke und gleich dahinter ein Zaun, der einen noch wilderen Teil des Parks umschloss. Davor geparkt war ein weiterer Caddy, mit dem offenbar Futter für die Tiere transportiert worden war. Die Frau ließ Dallas aussteigen und zeigte auf einen Pfad am Zaun entlang. „Wenn sie dem folgen, kommen sie irgendwann zu Master Dugan." Dann gab sie ihm noch ein Walkie-Talkie. „Hier ist sonst kein Empfang."
„Oh, danke. Und danke für die Fahrt, Mrs. ..."
„Miss Fitzgibbons. Pah."
Und weg war sie. Dallas holte irgendwie erleichtert tief Luft und schaute sich noch einmal um. Es war schwer zu schätzen, wie groß das ganze Anwesen war. Das Herrenhaus war auf ihrer Fahrt nirgendwo zu sehen gewesen, aber er schätze, dass es irgendwo hinter der Kastanienallee sein musste. Wahrscheinlich hatte der Rhododendron den Blick versperrt. Die Brücke aus grauem Naturstein führte über einen schnell fließenden, klaren Bach, der wahrscheinlich irgendwo in den umliegenden Bergen entsprang und in den nahegelegenen Loch Lanark floss. In einiger Entfernung hörte man den Ruf von Pfauen, was für einen schottischen Landsitz typisch war. Die würden sicher ein tolles Motiv abgeben. Neugierig, was es noch zu entdecken gäbe, schlug er jetzt den Pfad am Zaun entlang ein. Es ging ein wenig bergauf, denn das Gehege war um einen bewaldeten Hügel herum angelegt, der möglicherweise als Non-Plus-Ultra der Gartenkunst im 19. Jahrhundert künstlich angelegt war. Die Felsformationen wirkten etwas zu wild-romantisch, um in dem sonst sanften Gelände echt zu sein. Die Bäume waren ebenfalls eine Mischung aus einheimischen und teilweise exotischen Hölzern. Welche und ob Tiere darin lebten, war nicht auszumachen. Gab es hier tatsächlich Wildkatzen und Wölfe? Als er etwa fünf Minuten gegangen war, sah er von weitem ein Kissing Gate und von hinten eine große, schlanke Gestalt, die dahinter mit einem großen Sack und einem Seil hantierte. Der Mann hatte ihn noch nicht bemerkt. Er trug rote Gummistiefel, aber dunkle Arbeitshose und dicken Hoodie. Dallas konnte nicht anders als bemerken, dass in der Hose ein knackiger Hintern steckte und fragte sich gerade, wie der Mann sonst wohl gebaut sei, als der aufhorchte und sich umdrehte. Dallas hielt den Atem an. Einen Augenblick dachte er, der Mann hätte Katzenaugen, die unter der Kapuze funkelten, aber sofort strich er die Kapuze vom Kopf und ein Schopf dunkler, schwarzer Locken fiel ihm ins Gesicht. Die Augen waren tatsächlich hellgrün und mit ihnen fixierte er Dallas nur für den Bruchteil einer Sekunde, was dem einen Schauer über den Rücken jagte, der ihn daran erinnerte, dass er weiteratmen müsste, wenn er seine Faszination nicht sofort preisgeben wollte. Er riss sich zusammen. „Hallo, sind Sie der Wildhüter?" Das – war das erste, was ihm einfiel. Der Typ blinzelte kurz und zeigte ein erstauntes Lächeln. Oh, diese Lippen...
„Hallo, ja, das könnte man sagen." Jetzt strahlte er über das ganze Gesicht, er fand das zum Lachen. „Wildhüter, das ist gut!"
Oh, diese Stimme...
„Sie sind der BBC-Fotograf", sagte er dann. „Ich sollte mich vorstellen. Ich bin der, den Sie suchen. Dugan McLanark."
Wieso hatte Dallas gedacht, der Laird sei ein betagter Golfspieler? Unglaublich. Er müsste jetzt antworten. „Sehr erfreut", (und wie sehr!), "ich bin Dallas Muir. Auf der Suche nach außergewöhnlichen Motiven."
„Sie klingen, als kämen Sie aus Edinburgh." So eine sachliche Feststellung stand im krassen Gegensatz zu dem inneren Aufruhr, der Dallas gerade widerfuhr.
„Das stimmt. Hören Sie das?"
„Ich habe gute Ohren."
Er schaute Dallas an, als warte er auf eine kluge Antwort.
„Das ist offenkundig. Und was machen Sie da?" Dallas deutete auf den prall gefüllten Strohsack.
„Kommen Sie herein, dann zeige ich's Ihnen."
Dallas ging durch das Gate. McLanark kam ihm ein paar Schritte entgegen und gab ihm einen festen Händedruck.
„Sie haben gar nicht gefragt, was hinter dem Zaun lauert?", bemerkte er amüsiert.
„Nein. Sie sind hier. Ich nehme an, Sie wissen, was Sie tun."
„Kommen Sie." Er gab Dallas ein Zeichen, ihm zu einem Felsen zu folgen. Wie sich herausstellte, verbarg der Felsen den Eingang zu einem Erdloch oder einer Höhle.
„Was ist das?"
„Sehen sie nach."
Dallas ging in die Hocke und schaute vorsichtig hinein. Er sah zunächst gar nichts, erst als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, erkannte er, dass dort auf Stroh zwei Wolfsjunge lagen und schliefen. Du liebe Güte! Wo war denn ihre Mutter? Und woher wusste er, dass es Wölfe und keine Hunde waren? Einer von ihnen gähnte im Schlaf und Dallas erkannte das Raubtiergebiss. Dallas unterdrückte den Wunsch seine Hand auszustrecken und einen von ihnen zu streicheln. Wäre das in Ordnung? Plötzlich legte sich die Hand von McLanark mit sanftem Druck auf seine Schulter. Er drehte sich zu ihm. Es war das Zeichen, zurückzukommen. „Sie schlafen jetzt", erklärte er ruhig und sachlich. „Ich füttere sie, die Wölfin ist tot. Wenn sie in der Nacht herauskommen, zerfetzen sie gerne Strohsäcke. Die erwachsenen Wölfe schlafen tagsüber auch, weiter hinten im Gehege."
„Das ist... beeindruckend." Das war das beste Wort, das Dallas einfiel. Gern wäre er rechtzeitig für die Fütterung gekommen. „Sie kümmern sich hier um diese Wildtiere, das hat man mir im Pub erzählt", setzte er hinzu, um den anderen Mann wieder zum Reden zu bringen.
„Die Leute erzählen sich alle möglichen Geschichten. Aber ja. Wir haben hier noch fünf weitere Wölfe. Opfer von Verkehrsunfällen, Wolfsfallen oder Jagden."
Fuck. „Ich dachte, es wäre ein gutes Zeichen für erfolgreichen Naturschutz, wenn diese Tiere hier leben. Wer stellt denn da Fallen auf oder schießt auf sie?"
McLanark hatte zunächst genug gesagt und schwieg und fuhr damit fort, den Strohsack an einem starken Ast zu befestigen. „Idioten, nehme ich an", flüsterte Dallas zu sich selbst und ertappte sich dabei, wie er jede Bewegung des anderen Mannes genau beobachtete. Seine Handgriffe, seine Schritte, das alles wirkte selbst in Gummistiefeln beim Aufhängen eines Strohsacks anziehend wie die Hölle. Dass er sich an Dallas' beobachtenden Blicken überhaupt nicht störte, war allerdings kein gutes Zeichen. Es konnte auch nicht jeder attraktive Mann in Schottland auf Männer stehen, versuchte Dallas diese Schieflage des Universums zu erklären. Als McLanark fertig war, nickte er Dallas nur zu und so gingen sie beide durch das Gate zum Caddy. Neben dem jungen Mann auf dem Beifahrersitz, fasste Dallas neuen Mut zur Konversation.
„Wenn Sie mir erlauben, hier Fotos zu machen, dann wäre das eine Gelegenheit zu zeigen, wie schön diese Tiere sind. Und dass sie ihren Platz hier in den Highlands haben..."
McLanark schaute ihn mit seinen seltsamen Augen prüfend von der Seite an, dann kam wieder dieser Anflug eines Lächelns auf sein Gesicht und er blickte nach vorn, auf die kleine Brücke. „Erstens: Wenn du mir schon die ganze Zeit auf den Hintern starrst, können wir auch du sagen. Ich heiße Dugan. Und zweitens: Eine Antwort kriegst du frühestens heute Abend beim Dinner. Bring deine Leute mit. Ich sorge dafür, dass Fitzgibbons nicht völlig aus der Übung kommt."
„Woher wissen Sie... weißt du das?"
„Ich bin nicht blind. Und by the way: Mir gefällt, was ich sehe."
Dallas war wie vom Donner gerührt und ausnahmsweise wirklich sprachlos. Er konnte nur zurücklächeln und hoffte, dass er sich das alles gerade nicht eingebildet hatte.
„Du bist echt, oder?"
„Was willst du damit andeuten?" Die Frage schien McLanark wirklich ein wenig zu beunruhigen.
„Nichts, gar nichts. Ich bin nur beeindruckt, erstaunt, baff."
„Gut. Dann bleib so. Wir sind übrigens am Tor." Er lächelte wieder. Was für ein Typ. Launenhaft, interessant, zum Niederknien. Dallas musste sich losreißen, denn Dugan hatte den Toröffner schon betätigt.
„Behalt das Walkie-Talkie."
„Dann bis heute Abend."
„Bis dann."
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