Kapitel 20 [Jesse]
„Und du bist dir wirklich sicher, dass du es alleine machen willst?", fragte Marcus mich zum gefühlt tausendsten Mal.
„Ja, ganz sicher. Ich melde mich später." Nervös lächelnd küsste ich seine Wange.
„Pass auf dich auf, ich brauche dich noch."
Heute würde ich mich vor meinen Eltern outen, was vermutlich nicht ganz so leicht werden würde, da sie etwas homophob und nicht gerade die besten Eltern der Welt waren.
Marcus wusste, dass sie handgreiflich werden konnten, jedoch nicht, wie sehr. Sicherlich würden sie auch nicht davor zurückschrecken, ihn blöd anzumachen, was ich verhindern wollte. Deswegen musste Marcus zuhause bleiben. Ich wollte ihn beschützen. Wenn ich es abbekam, war das in Ordnung, aber ich würde es mir niemals verzeihen, wenn sie Marcus etwas antun würden.
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„Mum, Dad! Ich muss mit euch reden!", rief ich durch unsere Wohnung, während ich mich aufs Sofa setzte. Meine Hände lagen geordnet auf meinem Schoß. Mein Vater kam zuerst ins Wohnzimmer.
„Warum? Hast du mal wieder was ausgebrockt?", wollte er wissen. Er roch stark nach Alkohol und Zigaretten. Na das konnte ja ein Spaß werden...
„Nein", sagte ich förmlich und ruhig. „Ich muss euch etwas sagen."
Meine Mutter stieß jetzt ebenfalls zu uns. „Was ist los? Hast du Ärger gemacht?"
Seufzend senkte ich den Blick. Das war also alles, was sie von mir kannten...
„Ich wollte euch nur sagen, dass ich schwul bin und einen Freund habe", meinte ich und stand vom Sofa auf. Beide wirkten kurz geschockt, bis mein Vater zuerst wieder zu sich kam.
„Du Weichei! Wer steht denn schon auf Männer, hm? Du weißt ganz genau, dass wir keine Therapie bezahlen können. Das ist eklig, was du tust!" Er gab mir eine feste Backpfeife, was ich mit einem Zischen kommentierte.
„Ich will auch nicht behandelt werden, das muss ich nicht und das geht auch gar nicht. Es ist normal, homosexuell zu sein! Es ist verdammt nochmal keine Krankheit! Die einzige Krankheit ist Homophobie!"
„Hör auf so respektlos zu sein! So haben wir dich nicht erzogen!", rief meine Mutter wütend aus, was mich auch langsam wütender machte.
„Ihr habt mich gar nicht erzogen!"
Damit hatte ich deutlich eine Grenze von ihnen überschritten und das war mir bewusst. Genaus wie mir bewusst war, was nun darauf folgen würde. Umso froher war ich, dass Marcus nicht hier war.
Jetzt blickte ich ihnen entgegen. Wutentbrannt holte mein Vater aus und traf meine Wange fest mit seiner Faust, wodurch ich auf den Boden fiel. Immer und immer wieder schlug er auf mich ein und meine Mutter stand bloß daneben und ließ ihn machen.
Verzweifelt versuchte ich die Schläge abzuwehren, jedoch wurden es immer mehr. Ich hatte den Geschmack von Blut im Mund. Irgendwann richtete er sich auf, lief in mein Zimmer. Kraftlos lag ich auf dem Boden und konnte nichts tun als zu warten, bis und ob er wiederkam.
Schließlich näherten sich Schritte und ich wurde am Kragen hochgezogen. Mein Vater zerrte mich zur Tür, vor welche er mich dann stieß. Er warf mir eine Tasche mit Klamotten hinterher.
„Ich will dich hier nie wieder sehen! Du bist nicht mehr unser Sohn!" Ein letztes Mal trat er nach mir, dann fiel die Tür ins Schloss. Ich stöhnte schmerzerfüllt auf.
Ich lag regungslos im Treppenhaus, mein ganzer Körper schmerzte und ich war mir sicher, dass er mir mehrere Knochen gebrochen hatte. Zumindest spürte ich einen immensen Druck in der Brust und als ich sie abtastete, zischte ich schmerzerfüllt auf. Des Weiteren fühlte sich meine Nase taub an.
Vorsichtig versuchte ich mich aufzurappeln, was mir erstaunlich gut gelang, dann taumelte ich raus auf die Straße.
Ich tastete nach meinem Handy und fand es in meiner Hosentasche. Erleichtert rief ich Marcus an.
„Jesse! Endlich rufst du an! Wo bist du? Wie ist es gelaufen?"
Eine vereinzelte Träne lief mir über die Wange, welche ich sofort wegstrich. Seine Stimme zu hören, machte mich augenblicklich ruhiger und gab mir Kraft. Ich brauchte meine Eltern nicht, ich brauchte niemanden, solange ich Marcus an meiner Seite hatte.
„M-Marcus...", flüsterte ich atemlos, als ich beim Park bei mir in der Nähe ankam.
„Was ist los, Jess?", wollte er panisch und besorgt wissen. „Wo bist du?"
„Ich bin im Park...k-kannst du mich abholen?"
Kurz schien er geschockt, dann stimmte er sofort zu.
„J-ja klar, gib mir fünf Minuten."
„Fahr vorsichtig, bitte...", nuschelte ich, bevor ich auflegte. Wenn er in einem normalen Tempo fahren würde, würde er um die zehn Minuten brauchen. Wenn er also nur fünf Minuten einplante, hatte er wohl nicht vor sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung zu halten.
Erschöpft schleppte ich mich zu einer Bank, wo ich mich niederließ und die Augen schloss. Ich hatte keine Familie mehr...
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„Jesse!" Ich wurde wach, als meine Schulter leicht gerüttelt wurde.
„Hmmm", brummte ich und öffnete meine Augen einen Spalt, wodurch ich Marcus anblickte. Wo waren wir?
Ein Blick durch den Raum zeigte mir, dass wir in Marcus' Zimmer waren, ich lag auf seinem Bett.
„Du musst dein Shirt ausziehen, damit ich an deinen Bauch rankomme", flüsterte er leise, mied dabei meinen Blick.
Unter Schmerzen tat ich ihm den Gefallen. Mein Freund befeuchtete einen Waschlappen und säuberte vorsichtig die Wunden. Als er an der Stelle ankam, wo ich eine gebrochene Rippe vermutete, spannte ich mich an.
„Tut das weh?", fragte Marcus besorgt und ich nickte. Er wusch den Waschlappen in dem kleinen Eimer voller Wasser aus, der neben dem Bett stand, bevor er sich meinem Gesicht widmete. Kurz schluckte er.
„Sieht es so schlimm aus?" Schwach blickte ich ihn an.
„N-Nein, alles gut." Sanft fuhr er mit dem Waschlappen über meine Wangen und meine Lippen. Bei meiner Nase war er besonders vorsichtig, trotzdem tat es höllisch weh.
„Was haben sie bloß mit dir gemacht, Jesse?", hauchte er mit zitternder Stimme. Ich wusste, dass er den Tränen nah war und natürlich konnte ich es auch verstehen. Ich jagte ihm sicherlich gerade einen Riesen Schrecken ein, aber was sollte ich schon tun?
„Mich rausgeschmissen beispielsweise", murrte ich und schloss die Augen wieder.
„Wie müssen ins Krankenhaus, Jesse. Was ist, wenn du ernsthaft verletzt bist?"
Ich seufzte schwer. „Können wir somit bitte bis morgen warten? Ich brauche gerade deine Nähe...bitte."
„Nein, Jess. Du musst ins Krankenhaus, ich könnte beim Kuscheln vielleicht alles noch schlimmer machen. Ich sag meiner Mum Bescheid, dass sie uns fahren soll." Und schon war er aus dem Raum verschwunden.
- -
„Ihre Rippe ist gebrochen, aber Sie werden es ohne Operation durchstehen können", meinte ein Arzt zu mir, nachdem ich gründlich untersucht worden war. „Das heißt aber auch, dass Sie sich erstmal schonen müssen."
Er gab mir noch genauere Angaben wie lange ich keinen Sport machen durfte und wie lange ich strenge Bettruhe hatte, während ich bloß müde nickte. Ich wollte einfach zu Marcus. Über meinem Auge war eine Platzwunde genäht worden und meine Nase war ebenfalls gebrochen, wie ich es erwartet hatte.
„Sie stehen unter sehr starken Schmerzmitteln, weswegen Sie vermutlich bald einschlafen werden. Wenn Sie wieder aufwachen, werden Sie Schmerzen empfinden, dann drücken Sie bitte auf den Knopf hier." Er deutete auf einen roten Knopf neben meinem Bett. „Eine Krankenschwester wird Ihnen dann neues Schmerzmittel geben."
„Okay", brachte ich schwach über die Lippen. Wann konnte endlich Marcus zu mir kommen? Er war doch sicherlich noch da, oder?
„Gut, die Besuchszeiten sind in einer Stunde vorbei." Mit diesen Worten verschwand er aus dem Raum. Keine Minute später stürmte Marcus rein.
„Beans", flüsterte ich erleichtert und rückte zur Seite, um ihm neben mir im Bett Platz zu machen. Mein Freund legte sich zögerlich neben mich und bettete seinen Kopf auf meiner Brust.
„Geht das?", fragte er.
„Ja, das ist perfekt." Glücklich legte ich meine Arme um ihn und schloss die Augen.
„Ich hatte Angst um dich, Jesse", flüsterte er. Ich brummte nur als Antwort.
„Warum durfte ich nicht mit? Ich hätte dich beschützen können."
„Ich hätte es mir nie verziehen, wenn sie dir etwas angetan hätten", nuschelte ich. „Lass uns den Tag einfach vergessen, okay? Wir können uns wann anders damit beschäftigen."
„Wo wirst du jetzt wohnen?", fragte er unbeirrt weiter und ich seufzte.
„Keine Ahnung..."
„Meine Mum hat gesagt, dass du bei uns wohnen kannst, wenn du willst."
Bei meinem Freund wohnen, weil meine Familie mich verstoßen hatte? Peinlich. Aber ich hatte ja keine wirkliche Wahl. Außerdem hatte ich so immer Marcus um mich, was auch nicht schlecht war.
„Okay", flüsterte ich schließlich. „Danke."
„Ist doch selbstverständlich. Ich liebe dich, Jesse."
Sanft lächelte ich. „Ich liebe dich auch, Beans."
- -
Marcus stützte mich, während wir die Stufen zu seinem Haus hochliefen. Ich wurde endlich aus dem Krankenhaus entlassen und konnte in mein neues Zuhause einziehen. Die letzten Tage war ich nur aus dem Bett aufgestanden, um aufs Klo zu gehen oder zu duschen, was auch der Grund dafür war, dass ich noch etwas wackelig auf den Beinen war.
Als Marcus die Tür geöffnet hatte, kamen sofort seine Eltern zu uns. Seine Mutter umarmte mich vorsichtig.
„Willkommen zuhause, Jesse", meinte sie sanft, was mein Herz schneller schlagen ließ.
Ich hatte endlich ein Zuhause gefunden, in welchem ich mich wohl fühlte, in welchem ich ich selbst sein konnte.
„Danke", flüsterte ich und schenkte ihr ein dankbares Lächeln. „Für alles."
„Ist doch klar. Du gehörst doch jetzt zur Familie."
Es trieb mir Tränen in die Augen, was mein Freund mit einem Schmunzeln kommentierte.
„Seit wann so emotional?", zog er mich auf.
„Das sind bestimmt nur die Schmerzmittel. Ich stehe unter Drogen", redete ich mich raus und er küsste meine Wange kurz.
„Hmhm, ist klar."
Wir gingen langsam die Treppen hoch zu seinem Zimmer, wo ich mich ins Bett legte. Marcus setzte sich an seinen Schreibtisch und fing an irgendwelche Schulsachen zu machen. Ich betrachtete ihn dabei. Noch besser hätte das Ganze auch nicht geschehen können, mitten in unserer Prüfungsphase.
„Beans?"
„Ja?" Er drehte sich nicht zu mir, sondern schrieb weiter Sachen auf.
„Kannst du mir beim Lernen helfen?"
„Klar. Jetzt schon?"
„Ja bitte."
So verbrachten wir noch den ganzen Tag zusammen und lernten. Und mit jemandem an seiner Seite, der einem einen Kuss als Belohnung gab, wenn man etwas richtig hatte, machte das lernen auch direkt viel mehr Spaß.
Diesen Teil will ich vielleicht noch als einzelnen OneShot hochladen (mit ein paar Änderungen). Also nicht wundern, wenn ihr das nochmal lest
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