Chapter 6

Die nächsten Wochen verbrachte ich überwiegend in einem alten Farmhaus außerhalb der Stadt, während ich versuchte, all das aufzuholen, was ich in den letzten 145 Jahren verpasst hatte. Schon früher war es mir leicht gefallen, auch nach hundert Jahren abseits von allem Leben wieder den Anschluss zu finden, aber damals hatte ich auch immer Freya an meiner Seite gehabt und insbesondere in diesen Wochen fehlte sie mir mehr als je zuvor. Ich hatte es immer verstanden, warum sie damals, vor knapp 703 Jahren, dieses Gift genommen hatte, um sich und ihr ungeborenes Kind umzubringen. Sie wollte nicht, dass ihr Kind bei Dahlia genauso aufwachsen musste wie wir es getan hatten. Dennoch war der Anblick ihres toten Körpers damals der Grund gewesen, warum ich mich, mit Vampirblut im Körper, umgebracht hatte. Während meiner darauffolgenden Verwandlung und der Flucht vor Dahlia hatte ich nie richtig Zeit gehabt, meine Zwillingsschwester an meiner Seite zu vermissen, aber während ich jetzt wieder einmal versuchte, mehr als hundert Jahre Menschheitsgeschichte in wenigen Wochen aufzunehmen, fehlte sie mir immer mehr. Daher war ich mehr als dankbar, als Anna sich neben mich vor den Fernseher setzte - eine meiner Lieblingserfindungen der letzten Jahrzehnte - und mich so aus meinen Gedanken riss.

"Ich habe mich noch gar nicht richtig dafür bedankt, dass du mir 1864 das Leben gerettet hast", fing sie an. "Emily hat mir von eurem kleinen Deal erzählt. Dass du darauf verzichten wolltest, je wieder einen Zauber von ihr einzufordern, nur wenn sie mich vor den Bewohnern schützen würde."

"Es gibt keinen Grund, sich dafür bei mir zu bedanken", antwortete ich und lächelte Anna leicht an. "Immerhin hast du mich auch aus der Gruft befreit. Wir sind also quitt." Auch wenn immer mehr der Gruftvampire zu uns ins Farmhaus kamen, weil der Zauber der beiden Hexen wohl etwas langfristiger war, als sie geplant hatten. Ich hätte es also sicher auch ohne sie rausgeschafft, denn mittlerweile war keiner von uns mehr in der Gruft gefangen, aber ich rechnete es Anna trotzdem hoch an, dass sie mich nicht dort zurückgelassen hätte.

"Das ist es aber, was ich nicht verstehe." Fragend sah ich sie an, bis sie weiterredete. "Du hast mich damals gerettet. Aber warum? Warum ausgerechnet mich?"

Einige Sekunden musterte ich sie und überlegte, ob ich mir irgendeine Ausrede einfallen lassen sollte, entschied mich dann aber doch dagegen. Immerhin war das Ganze schon ewig her. "Ganz einfach: Weil ich in dich verliebt war."

"Oh." Überrascht sah Anna mich an und ich grinste leicht, als sie tatsächlich ein wenig rot wurde. "Ich wusste nicht, dass du..."

"Niemand wusste es, nur Katherine", antwortete ich gelassen und fuhr durch meine Haare.

"Weißt du, ich interessiere mich nicht für Frauen... Und da ist dieser Junge, der...", fing Anna an, aber ich unterbrach sie, bevor dieses Gespräch noch peinlicher werden konnte.

"Mach dir keine Sorgen, Anna. Ich habe gesagt, ich war in dich verliebt. Ich bin es nicht mehr. 145 Jahre lang auszutrocknen kann wirklich Wunder bewirken", meinte ich entspannt und war selbst überrascht davon, dass es die Wahrheit war. Eine Beziehung mit Anna war damals eine nette Idee für mich gewesen, aber mehr auch nicht. Sie war mir wichtig, aber schon damals wusste ich, dass sie mir nicht wichtig genug war, um ihr auch meine Gefühle zu gestehen. Das war schließlich der Grund, warum ich damals mit Damon beim Gründerball war und nicht mit ihr. Wahre Liebe fühlte sich anders an, zumindest stellte ich sie mir anders vor.

"Oh, okay. Wie auch immer, ich muss... noch mal los. Wir sehen uns", verabschiedete sie sich schnell und ich sah ihr seufzend hinterher, als sie mit Vampirgeschwindigkeit verschwand. Dieses Gespräch hätte deutlich besser laufen können, aber wahrscheinlich hätte ich nichts anderes erwarten sollen. Die meisten, denen ich bisher erzählt hatte, dass ich Frauen bevorzugte, reagierten auf ähnliche Weise. Vor allem wenn ich dabei erzählte, dass ich einmal in sie verliebt war. Die einzigen, die mir je das Gefühl gegeben hatten, dass es in Ordnung war, wie ich war, waren Freya und Katherine gewesen. Und von denen war eine tot und die andere würde ich gerne umbringen.

Nachdenklich sah ich aus dem Fenster und beobachtete den Regen draußen, bis ich zwei Gestalten sah, die vom Haus weg in den Wald rannten. Ich brauchte nicht lange, um Frederick und seine Freundin Bethanne zu erkennen. Sie hatten beide keine Tageslichtringe und hatten sich in den letzten Tagen andauernd darüber beschwert, dass sie nach draußen wollten. Pearl hatte es ihnen verboten, aber so wie es aussah, hatten die beiden beschlossen, dass regnerische Wetter zu nutzen und in die Stadt zu gehen.

Eigentlich hätte mir das egal sein können, aber ich hatte das Gefühl, dass die beiden nichts Gutes im Sinne hatten. Also nahm ich mir eine Regenjacke - noch so eine sinnvolle Erfindung, die mich begeistert hatte - und folgte den beiden mit einigem Abstand. Nach nur wenigen Minuten stand ich vor einem prunkvollen Anwesen, das ich bisher noch nie in Mystic Falls gesehen hatte. Ich fragte mich, was ich eigentlich hier tat, und wollte schon wieder umdrehen, als ich Schreie aus dem Inneren des Hauses hörte. Ohne weiter nachzudenken lief ich in diese Richtung und stieß die Tür auf. Anscheinend gehörte das Anwesen keiner lebendigen Person, denn ich konnte ohne Probleme eintreten.

Innerhalb weniger Sekunden erfasste ich die Situation vor mir. Das Haus gehörte anscheinend den Salvatore-Brüdern, die gerade damit beschäftigt waren, Frederick und Bethanne abzuwehren, die wiederum beschlossen hatten, die Salvatores umbringen zu wollen. Ich verdrehte die Augen bei so viel Dummheit und riss Frederick mit einer Bewegung von Damon weg, als er auf ihn losgehen wollte.

"Was zur Hölle soll das werden?", fragte ich wütend und blickte von Frederick zu Bethanne. Die ignorierte mich aber völlig und stürzte sich auf Stefan, nur um von dem einen Pfahl ins Herz zu bekommen. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass es mich schockierte, als sie grau anlief, aber ich hatte nur wenig Mitleid mit ihr. Pearl hatte den beiden ausdrücklich gesagt, dass sie im Haus bleiben sollten, und sie haben nicht gehört. Das hatten sie jetzt davon. Frederick warf nur einen Blick auf seine tote Freundin, riss sich von mir los und stürmte aus dem Anwesen. Seufzend sah ich ihm hinterher und blickte dann zu den Salvatores, die mich beide immer noch kampfbereit ansahen, als würden sie davon ausgehen, dass ich sie jeden Moment angreifen würde.

"Entspannt euch, ich habe nicht vor, gegen euch zu kämpfen. Immerhin habe ich euch gerade noch beschützt, Frederick wird darüber nicht gerade erfreut sein", meinte ich gelassen, ging zu einem kleinen Beistelltisch mit Alkohol, der praktischerweise im Wohnzimmer stand,  und schenkte mir ein Glas ein. "Ihr habt doch nichts dagegen, oder? Kämpfe machen mich immer so durstig."

"Wieso sollten wir dir vertrauen?", fragte Stefan misstrauisch, lockerte aber zumindest ein wenig seine Schultern. "Du warst damals immer mit Katherine zusammen und hast dich nie für uns interessiert. Es macht keinen Sinn, dass du uns jetzt helfen willst."

Grinsend verdrehte ich meine Augen, während ich einen Schluck aus meinem Glas trank. "So nachtragend, Stefan? Natürlich hatte ich damals kein Interesse an euch. Erstens hat Katherine euch beiden mehr als genug Aufmerksamkeit geschenkt und zweitens wart ihr damals beide Menschen. Und Menschen sind nun einmal furchtbar langweilig, mit ihnen verschwende ich nur selten meine Zeit. Der Bourbon ist übrigens wirklich gut, ihr müsst mir unbedingt sagen, wo ihr den her habt."

Zu meiner Überraschung fing Damon an zu lachen und ging zu mir, um sich auch ein Glas einzuschenken. "Entspann dich, Stefan, wenn sie uns hätte angreifen wollen, hätte sie es schon längst getan und wir würden dieses Gespräch nicht führen."

"Da hat er recht", stimmte ich zu und zuckte leicht mit den Schultern. "Ich bin vielleicht etwas aus der Übung, aber ich bin immer noch einige Jahrhunderte älter als ihr beide zusammen. Aber ich bin nicht hier, um euch zu schaden. Pearl und die anderen Gruftvampire übrigens auch nicht."

"Ach ja? Das sah gerade aber ganz anders aus", bemerkte Stefan mit Blick auf die Leiche zwischen uns.

"Frederick und Bethanne haben hinter Pearls Rücken gehandelt. Bethanne hat ihre gerechte Strafe bekommen und Pearl wird dafür sorgen, dass Frederick nicht wieder aus der Reihe tanzt. Von unserer Seite müsst ihr keine Rache erwarten."

"Wenn so etwas nicht wieder vorkommt, werden wir euch auch in Ruhe lassen", versprach Stefan, auch wenn sein Bruder nicht gerade einverstanden damit zu sein schien.

"Ach ja? Werden wir das?"

"Ja, Damon, werden wir."

Ich lachte leise und trank den letzten Schluck von meinem Bourbon aus. "Also gut, mehr als einen wackligen Waffenstillstand werden wir wohl heute nicht erreichen. Wenn ihr irgendein Problem mit einem der Gruftvampire habt, meldet euch einfach bei Pearl oder mir. Ich habe auf dem Weg hierher ein süßes kleines Hotel gesehen, dort könnt ihr mich finden. Wir sehen uns!"

Mit diesen Worten verschwand ich mit Vampirgeschwindigkeit aus dem Anwesen und rannte direkt zu dem kleinen Hotel, das mir wirklich erst vorhin aufgefallen war. Ich hatte jetzt mehrere Wochen mit den gleichen Vampiren in einem Haus eingesperrt verbracht, mit denen ich schon die letzten anderthalb Jahrhunderte eingesperrt war. Und jetzt, wo ich zumindest eine Übersicht hatte, was das Jahr 2010 für Vorteile bot, war ich bereit, mir endlich wieder ein eigenes Leben aufzubauen.

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