18. Hoffnung

Harry

„Scheiße!" fluchend drehte ich mich von meinen Freunden weg. Wollte nicht, dass sie die Tränen bemerkten. Mein Herz pochte schnell und in mir zog sich alles zusammen. Ich hatte mich gerade erst beruhigt gehabt. In der Garderobe. Lou kam rein und hatte ohne zu fragen, meinen Kopf getätschelt und angefangen mein verheultes Gesicht neu zu schminken.

„Zeig Lena nicht deine Angst Harry. Zeig sie jedem, aber nicht Lena. Sie verwendet es als Waffe", hatte die Kosmetikerin gesagt, kurz bevor ich den Raum verlassen hatte. Vor fünf Minuten. Und nun stand ich hier, im Set, kurz davor in Tränen auszubrechen. Zwar war gerade keiner, außer uns, im Raum, doch konnte jeden Moment jemand reinkommen.

Eine eiskalte Hand legte sich um mein Herz und verfestigte ihren Griff. Tag um Tag. Ich ertrug das nicht mehr. Fühlte mich gefangen, in einem goldenen Käfig. Sah schön aus von außen, doch im Endeffekt war es eine Gefangenschaft.

„Hazzi", eine zierliche Hand legte sich auf meine Schulter. Louis. Seine Nähe spendete mir Trost und verschlimmerte mein leid gleichzeitig. Erschrocken stolperte ich nach vorne, weg von ihm.
Sie wollten uns auseinander reißen, weil Louis mich sah. Weil er wusste, wer ich war und diese Seite unterstützte. Das Management tat das nur, weil ich ich war. Weil meine Vorlieben zu feminin waren. Unwohl ergriff mich, engte mich weiter ein.
„Harry, es ist okay", kams plötzlich von Zayn. Alle anderen sind ruhig geworden. Jeder ist ruhig geworden. Ob sie mich jemals so schwach gesehen haben? Sie erlebten mich wütend und gereizt. Traurig, als wir bei X-Faktor fast scheiterten. Aber jetzt? Jetzt war ich zerstört, atmete hektisch und unregelmäßig – war klein.

„Harry." Plötzlich fühlte ich mich umstellt. Nicht auf die schlechte Art. Auf die umhütete Art. Als würde ich mich in einer kalten Winternacht an ein Feuer setzen, das bis in mein Innerstes wärmte. „Es ist okay. Für uns bist du okay." Meine Hände presste ich noch immer nicht aufs Gesicht. Louis umgriff meine Handgelenke leicht. Er zog sie nicht weg, ließ mich meine Tränen weiter verstecken, doch hielt er mich.
„Wir beschützen dich und Louis. Keiner reißt euch aus einander. Mach dir keine Vorwürfe Harry. Rede mit uns." Diesmal klang es wie ein zerknürchter Niall.
„Wir merken alle, dass du dich vor uns versteckst und uns Dinge verheimlichst. Wir dachten, du würdest mit uns reden, wenn du es brauchst, aber scheinbar drängst du alles in dich. Das ist nicht gut." Diesmal Liam. Ich spürte seine trötende Hand, die über meinen Rücken streichelte.

Ich war müde. So müde. Ließ mich einfach nach vorne, fallen. „Oops", kams von Louis, gegen den ich landete. Sofort ließ er meine Handgelenke los und umfasste mich, während ich mein Gesicht frei ließ und mich in sein T-Shirt krallte. Die anderen drei Jungs umarmten mit. Ich war müde und meine Batterie leer, doch im Endeffekt hatte ich die Jungs.

Xx

Zwei Stunden später – wir hatten What makes you beautiful gespielt – saßen wir mit Paul im Bandvan auf dem Weg zu Nandos. Obwohl wir schwiegen, fühlte ich mich mit meinen Freunden verbundener denn je. Ob ich es ihnen jetzt sagen konnte?
Hey Jungs, ich bin übrigens nicht hetero. Also ich denke mal schwul. Also ich fand auch schon mal Mädchen interessant, also bin ich wahrscheinlich be oder so. Also ich bin auf jeden Fall nicht hetero.
Jetzt wäre der perfekte Zeitpunkt dafür. Sie würden mir zuhören, wir hatten Zeit für uns. Okay, Paul wäre dabei, aber den interessierte sowieso nicht, was wir so quatschten.

Ich sah zu Louis, der mit meiner lackierten Hand leise Meine Mutter schneidet Speck spielte. Sein Ziel war es, den Mittelfinger zum Schluss übrig zu lassen und anschließen vor sich her zu grinsen. Er war so süß.
Während ich ihn beobachtete, vergaß ich, was ich eigentlich machen wollte. Vergas, dass ich mich outen wollte. Und vielleicht war ich auch glücklich darüber.
Die Jungs hatten mir vorhin erklärt, dass sie mich immer unterstützen würden. Doch bei den Gedanken, an andere Outings und wie danach die Situation im Freundeskreis war- Übelkeit stieg in mir hoch. Ich hörte von Fällen, in denen die Freunde anschließend kein Körperkontakt mehr wollten, in denen die Angst herrschte, der Geoutete könnte sich in einen verlieben. Ich liebte die Nähe, die Verbundenheit, die ich mit meinen Freunden hatte. Das Risiko, das sie sich unwohl in meiner Nähe fühlten, war mir ein zu hoher Preis.
Vielleicht schwieg ich deswegen. Nicht, weil meine Augen auf Louis gerichtet waren, sondern weil ich Angst hatte.

Ein paar Minuten später standen wir auf dem Parkplatz zu Nandos. Paul lächelte uns aufmunternd an. Vielleicht bemerkte er, die komische Stimmung im Auto. Alle schienen entspannt und lächelten leicht vor sich hin und doch waren wir alle etwas wehmütig. So sehr wir unser Leben liebten, an Tagen wie diesen – an denen Lena uns derart behandelte – trauerten wir alle indirekt über das, was wie geopfert hatten. Freiheit, Privatsphäre und Selbstbestimmung. Sie gingen mit Lena verloren. Louis hatte mir vorhin erzählt, dass Liam mit Simon reden wollte. Über einen neue Manager oder eine neue Managerin, die für uns verantwortlich sein konnte. Modest! war nicht groß, aber groß genug, um uns jemanden anderen zur Verfügung zu stellen.

Wir stiegen aus. Offensichtlich war gerade Sturmzeit. Schüler und Schülerinnen, die nach der Schule mit ihren Freunden hier aßen. Damit bestand die Chance, dass wir in der Menge untergingen und unbemerkt bleiben würden.

„Ich habe so einen Hunger!" Niall hüpfte aufgeregt hoch und runter, während wir eintraten. Drinnen war es angenehm warm, Stimmengewirr begrüßte uns und der Geruch von fettigen Essen.
„Ich bestelle." Liam lief schon Richtung Theke, Niall lief ihm lachen hinterher und wir anderen suchten uns einen Platz. Erleichtert stellten wir fest, dass ein Tisch in der fensterlosen Ecke noch frei war. Je weniger wir Menschen die Sicht auf uns ermöglichten, desto unwahrscheinlicher ist es, entdeckt zu werden.

Louis und ich saßen gemeinsam an der Wand. Obwohl diese Seite für zwei Personen gedacht war, saßen wir immer so nah aneinander, dass ein dritter locker noch hinpasste. Aber das wollte Louis nie, weil er sich dann bedrängt fühlte. Ich legte meine Arme um ihn und drückte ihn fest an meine Brust. Louis japste erschrocken nach Luft, Zayn lachte leise.

Louis kuscheln, war Balsam für die Seele. Er war knuffig und klein, wie eine Katze. Wissenschaftler sind der Meinung, dass Katzen Menschen helfen ruhig zu bleiben. Also half mir Louis. Der Doncaster zappelte kurz in meinen Armen, ließ dann aber locker und lehnte sich sogar in meine Umarmung.
„Geht's dir gut?", fragte er vorsichtig und spielte dabei offensichtlich auf vorhin an.
„Prima." Ich vergrub meine Nase in seinen Haaren und zog sein Geruch ein. Haargel, aber eben auch Louis. Und wenn ich mir das Haargel wegdachte, dann roch es einfach gut.

„Fans auf drei Uhr." Stühle ruckelten und Liam und Niall setzten sich. Sofort schossen Louis und ich auseinander und sahen in die Richtung, in die Liam nickte.
Zwei Mädchen saßen an einem Gruppentisch und trugen unseren Merch. Sie hatten uns noch nicht bemerkt, doch für Louis und mich hieß das cool bleiben. Nicht kuscheln. Nur wegrücken tat er nicht. Unsere Seiten berührten sich nach wie vor.

Xx

Bevor wir Nandos eine Stunde später verließen, überraschten wir die beiden Mädchen. Wir stellten uns breit grinsend zu ihnen, als sie sich erhoben und Louis legte einen Arm um beide.
Das ganze endete in hyperventilierenden Fans, die uns glücklich um den Hals fielen. Die Reaktion der gesamten Gruppe rettete meinen Tag endgültig. Die Freude auf ihren Gesichtern, die Tränen in ihren Augen und das Vertrauen, das sie uns entgegen brachten, führte mir wieder das Gute an dem Job vor Augen. Ich war Sänger. Lena ist eine Furie, aber sie auszuhalten lohnte sich. Ich sang nicht nur für mich. Auch für unsere Fans, die in uns ihren Safe Space fanden, uns als Vorbilder nahmen und die wir glücklich machten. Auch dafür, stand ich mit den Jungs in der Öffentlichkeit. Vor allem dafür.

Eines der Mädchen, sie hieß Laura, erzählte uns unter Tränen von einer sechs und davon, dass sie vor dem Test die ganze Nacht gelernt habe. Mit unserer Musik im Hintergrund, weil es ihr half ruhig zu bleiben. Doch nun habe sie Angst, ihren Eltern zu erzählen, dass sie versagt hatte und hielt den Tag schon für gelaufen. Sie meinte, unserer Auftreten, habe ihn gerettet. Wir sprachen ihr Mut zu und umarmten sie so lange, bis sie laut lachte. Ihre Freunde hatten schon lange das Handy gezückt und mit großen Augen alles aufgenommen. Auch andere Besucher von Nandos sind bereits länger auf uns aufmerksam geworden.
Erst als andere Fans, die irgendwie Wind von unserer Anwesenheit bekommen hatten, ins Lokal stürmten, verabschiedeten wir uns und machten uns mit ein paar Umarmungen und Winkern zum Bandvan.

Paul fuhr uns nach Hause, zu Louis und mir. Wir hatten beschlossen heute alle bei uns zu schlafen. Simon hatte die Angewohnheit, irgendwann nachts anzurufen. Und da er heute sehr wahrscheinlich durchklingen wird, wollten wir dann zusammen sein.

Also setzten wir uns auf das Sofa, Louis verschwand in der Küche und wir unterhielten uns. „Heute war ganz schön krass", murmelte Niall gedankenverloren.
„Stimmt, war es." Gaben Liam und ich ihm Recht.
Zayn schwieg und lauschte der Unterhaltung eher, als sich zu beteiligen.
„Denkt ihr, Lena hat wirklich so viel Macht über uns?" Der Ire klang ängstlich.
Entschieden schüttelte ich den Kopf. „Modest! trifft am Ende die Entscheidungen. Nicht Lena. Sie ist eigentlich eher die Überbringerin und Aufpasserin. Sie kann uns drohen, aber sie kann nichts ohne die anderen des Managements umsetzen. Und die werden nicht zulassen, dass man uns schlecht behandelt. Simon hat doch gesagt, dass es uns gut gehen wird."
Mit jedem Wort schwand die Sicherheit aus meiner Stimme. Simon musste Recht behalten. Im Endeffekt sah keiner wirklich überzeugt aus. Eher Hoffnungsvoll.

„Hier bin ich." Louis kam mit einer Tasse Tee ins Wohnzimmer, zielstrebig auf mich zu. Er überreichte sie mir und lächelte mich vorsichtig an, ehe er sich zwischen Niall und mich zwängte. Dabei saß er halb auf meinem Schoss und wackelte, wodurch ich den heißen Tee fast über uns kippte. „Also, worüber reden wir?", fragend sah mein bester Freund in die Runde.

„Über heute", beantwortete Zayn seine Frage.
Nach kurzem Schweigen, erklärte Louis mit ernstem Gesicht:
„Schwören wir uns hoch und heilig, niemals irgendwen zu verurteilen und einander immer zu unterstützen. Und schwören wir, dass Harry und ich – sollten wir nicht mehr zusammen wohnen dürfen irgendwann – gemeinsam bei euch unterkommen und ins Gästezimmer ziehen dürfen!" Der Doncaster hob feierlich die Hand. Grinsend nahm ich einen Schluck von meinem Tee.

Ob er es merkte? Wie er über mich redete, mich ansah und sich an mich klammerte. Andere Menschen, zogen mit ihren Partnern zusammen oder wollten zumindest nicht mehr in einem Bett mit einer anderen Person schlafen, sobald sie jemanden hatten. Louis, der dachte da nicht mal dran. Er dachte nicht daran, mich alleine in unserem Zimmer zu lassen oder nachts nicht mehr mit mir zu kuscheln. Er suchte nach wie vor meine Nähe, wenn nicht sogar extremer, als vor der ganzen Eleanorsache. Nicht, dass ich mich beschweren würde. Es fiel mir einfach auf. Und es gefiel mir.

„Wir schwören, mal davon abgesehen, dass das Zimmer sowieso für euch bestimmt war, bis ihr euch entschieden hattet, alleine wohnen zu wollen." Zayn grinste und lehnte sich auf dem Sofa zurück.
„Wir großen Jungs brauchten unsere Privatsphäre." Neckend hob Louis das Kinn.
„Du meinst der große Junge und sein kleiner Zwerg?", mischte ich mich ein.
„Ey! Du bist viel jünger als ich." Louis sah beleidigt aus und verschränkte die Arme.
Ich lächelte breit. „Und du viel kompakter."
„Du Blödian! Mit dir rede ich nicht mehr."
Ich nahm noch einen Schluck aus meiner Tasse, stellte sie dann ab, schloss meine Arme um Louis und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Stolz entbrannte in mir, als mir bewusst wurde, dass Louis nicht nur mehr meine Nähe suchte. Er suchte sie auch dann, wenn er Zeit mit Eleanor verbringen könnte. Wenn er mit ihr telefonieren könnte oder sich mit ihr treffen könnte. Plötzlich kam mir der Gedanke, dass alles was passieren soll, schon passieren wird. Und die Sache mit Louis und mir, die ist vielleicht doch nicht so unwahrscheinlich, wie ich das ganze letzte Jahr gedacht hatte.
Leise flüsterte ich in sein Ohr: „So klein wie du auch bist Louis, du hast es trotzdem geschafft mein ganzes Herz nur für dich zu beschlagnahmen."

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