34. Schlimmer

,,Hey, Astrid, du wirst es nicht glauben!"
So lauteten die Worte des treppensteigenden Drachenreiters. Seine aufgeregte und fröhliche Stimme ließ Astrid sofort gute Nachrichten ahnen. Ohne ihr sarkastisches ,,Freut mich auch, dich zu sehen" wahrzunehmen, platzten die Neuigkeiten aus seinem Mund hinaus: ,,Wir haben es endlich geschafft! Astrid, wir haben die Informationen, die wir brauchen!" Er setzte sich ans Bett und gab Astrid die Rolle Pergament von den Beschützern des Flügels. Selbst nahm er sich die Rollen von Berk und von den Berserkern, die auf dem kleinen Tisch neben seinem Bett lagen, zur Hand. Der Mann wollte nochmal sichergehen, wie viele Tage der zweite Schritte, in dem sich Astrid befand, dauerte. Da auf dem Papier von Berk nichts darüber niedergeschrieben war, las er sich das der Berserker durch. Da sie auch nichts darüber hatten, nahm er das der Beschützer des Flügels von Astrid ab. Erleichtert stellte er fest: ,,Hier steht, der zweite Schritt dauert wahrscheinlich fünf oder sechs Tage. Wir haben gerade mal den dritten." Kurz machte er eine Pause, ehe er aufgeregt verkündete: ,,Schon morgen wirst du wieder gesund sein! Ist das nicht super?" Mit etwas Anstrengung zeigte die Blonde ein Lächeln, verzog ihr Gesicht bald aber wieder. Auf Hicks' besorgten Blick erklärte sie: ,,Alles gut. Ich merke nur, dass es immer schlimmer wird." Während sie eine Pause machte, dachte Hicks an ihre Worte und stellte fest, dass es wirklich nicht mehr so wie am ersten Tag war. Es war viel schlimmer geworden. Als der Wikinger gerade seine Stimme erheben wollte, kam Astrid ihn zuvor: ,,Aber morgen wird alles ja vorbei sein. Also kein Grund zur Sorge." ,,Ich schätze, du hast recht", murmelte der Drachenreiter und sah zum Fenster hinaus. Die Sterne funkelten in vielen Zahlen hell am Himmel. Ohne wirklich zu überlegen schwärmte er: ,,Es wäre sicher jetzt wunderschön, einen gemeinsamen Flug durch den Himmel zu machen." Erst dann bemerkte er seinen Fehler und hing an seinen Satz mit einer ernsteren Stimme an: ,,Aber es geht nicht" ,,Warum nicht?" Mit diesen Worten setzte Astrid sich in Bewegung. Erschrocken beobachtete Hicks, wie die Kriegerin sich mit viel Kraft, aber auch Schmerz, hoch hievte. ,,Astrid, bleib liegen", riet - oder besser gesagt befahl - der Wikinger. ,,Ich bitte dich, Hicks. Du weißt genauso wie ich, dass ich das durchhalte.", lauteten die Worte der Blonden, als sie gerade dabei war, sich auf die Beine zu bringen. ,,Aber es bereitet dir Schmerzen", meinte der Drachenreiter und sah sie besorgt an. Nachdem die 20-Jährige begriffen hatte, dass sie ohne seine Hilfe nicht aufstehen konnte, seufzte sie und wählte ihr nächstes Argument: ,,Das wäre vielleicht das letzte Mal, dass wir das machen können. Denk dran. Und morgen würde es mir noch viel mehr wehtun." Diese Sätze ließen den Braunhaarige kurz innehalten. Es war ein grausiger Gedanke, niemals wieder gemeinsam mit seiner Freundin fliegen zu können. Würden sie es nicht schaffen, Astrid zu retten, würde Hicks es sich bestimmt niemals verzeihen können, nicht ein aller letztes Mal mit ihr etwas derartiges unternommen zu haben. Nach einem Seufzen gab er sich geschlagen: ,,Du hast recht." Nach einer kurzen Pause hing er an seinen Satz noch dran: ,,Aber nur, dass wir es verstehen, es wird kein letztes Mal sein. Morgen schon wirst du wieder gesund sein und danach können wir sooft wie wir wollen zusammen Ausflüge machen." Nach seiner Aussage trat er vor seine am Bett sitzende Freundin und reichte ihr die Hände. Mit etwas Kraft zog er sie hinauf, worauf sie in seinen Armen landete. Da sie den Schrei aus Schmerz unterdrücken wollte, kam ein leises schmerzerfülltes Stöhnen heraus. Hicks merkte ebenfalls, wie ihre Beine unter ihr nachzugeben schienen und verstärkte seinen Griff um ihren Rücken. ,,Alles okay?" ,,Hmhm", murmelte die Blondine ihre positive Antwort. ,,Na schön, dann kommt jetzt wohl die Treppe", bemerkte der junge Mann mit Zweifel in seiner Stimme. ,,Juhuu", kam die sarkastische Antwort.
Lange dauerte es, bis die Zwei mit Ohnezahn ihren Weg nach draußen schafften. Es hatte sie alle Kraft gekostet. Hicks und Ohnezahn um Astrid zu stützen und Astrid um sich selbst unter Kontrolle zu haben.
Jetzt, wo sie zusammen im Freien standen, merkten sie, dass sich diese vergangenen Minuten wie mehrere Stunden angefühlt hatten. Nachdem Astrid es mit ein paar Schwierigkeiten auf Ohnezahn geschafft hatte, stieg Hicks ebenfalls auf und setzte sich hinter sie. Dann hoben die Drei ab.

Der mit lauter funkelnden Sternen bedeckte Himmel hatte seine blaue Farbe vollkommen verloren. Man sah nur noch schwarz. Die Nacht hatte den Kampf gegen den Tag gewonnen.
Der Nachtschatten flitzte durch die Lüfte, als wäre er selbst ein Teil des dunklen Himmels. Nur den Ton seiner Flügelschläge und die leisen Geräusche des unten liegenden Meeres konnte man vernehmen. Alles schien friedlich. Die Umgebung. Die Geräusche. Die Stimmung.
Hicks spürte, wie der leichte Wind seine Haare sachte nach hinten wehen ließ. Er hatte seine Arme fest um seine vor ihm sitzende Partnerin geschlossen. Der erste Grund: Ohnezahn flug so ruhig, dass man sich nicht festhalten musste. Der zweite Grund: Astrid würde andernfalls zur Seite kippen und geradewegs auf das Meer zusteuern. Der dritte Grund: Es war eine Berührung, die sie beide genossen. Das Paar genoss sie, während sie den Himmel und seine Freunde, die Sterne, beobachteten. Diese Berührung zeigte, wie innig ihre Beziehung war. Über all die Jahre war ihre Beziehung immer so gewesen. Das einzige, was sich geändert hatte, war, dass sie immer nur besser geworden ist. Über die Jahre hatte sich zwischen ihnen Freundschaft, Vertrauen und Liebe entwickelt. Es sollte niemals aufhören.
Der Braunhaarige ließ sein Kinn auf der Schulter seiner Freundin ruhen. Diese sank weiter in seinem Griff zusammen und drückte sich an ihn. Neben ihnen erschienen die Polarlichter, ein wunderschönes Spektakel der Natur. Von Grün bis zu Violett verschmolzen die Farben ineinander und boten ein unvergessliches Farbenspiel an. Es ist nicht verwunderlich, dass dies die zwei Wikinger an ihren ersten Flug zusammen erinnerte. Fast dasselbe angenehme Gefühl von früher kam. Nur mit dem Unterschied, dass es diesmal viel stärker war.
In diesem Moment vergaßen beide ihre Sorgen. Alles, was in den letzten Tagen passiert war, ließen sie hinter sich. Nur die Gegenwart zählte nun. Nur dieser eine Moment. Wäre es möglich, würden sie ihn niemals stoppen. Niemals damit aufhören.
Hicks schob seine Hand in Astrids Haare und einzelne Strähnen bei ihrem Ohr zur Seite. Dann flüsterte er: ,,Ich liebe dich" Er sprach so leise, dass nicht einmal sein Drache ihn hören konnte. Die Erwiderung lautete: ,,Und wie ich das bei dir tue" Ihre Gefühle waren genauso stark wie immer. Die Bedeutung dieser Worte war so groß wie immer. Die Liebe zueinander war so groß wie immer. Nur Astrids raue Stimme und ihr schlechter Zustand blieb.

Zurück auf Berk landete Ohnezahn vor dem Haus der Haddocks. Ein kurzer Blick zur Großen Halle, wo noch einige Wikinger ihr Abendessen mit ihren Freunden genossen, und Hicks meinte: ,,Weißt du was? Ich glaube, es würde dir nicht schaden, wenn du wieder mit den anderen und mir isst. Was sagst du?" Auf ihre positive Antwort, machten sie sich auf den Weg zur Großen Halle.
Wieder mussten sie einen anstrengenden Weg hinter sich bringen. Als Ohnezahn die Tore aufstoß, trafen einige Blicke auf den Drachen und die zwei jungen Erwachsenen. Diese bewegten sich zu ihren Tisch, wo all ihre Freunde saßen. ,,Was macht ihr denn hier?!", rief Fischbein geschockt. Eret setzte fort: ,,Oder genauer gesagt: Was macht Astrid hier?!" Sobald die Angesprochene merkte, dass alle schwiegen, murmelte sie eine Begrüßung: ,,Freut mich genauso, euch zu sehen."
Nach mehreren Erklärungen und Fragen der Drachenreiter ließen Hicks und Astrid sich ebenfalls nieder. Fischbein hatte sich freundlicherweise bereiterklärt, etwas für Astrid zum Essen zu holen. Zurück kam er mit einem geräucherten Fisch, dazu Brot und Wasser. Hicks, der sich ebenfalls etwas geholt hatte, verspeiste sein Essen genauso wie die anderen ihres. Es war ein gutes Gefühl für Astrid, wieder neben ihren Freunden am Tisch zu essen und mit ihnen zu reden. Auch wenn ihr das Reden und das Essen wehtat. Auch wenn sie nicht viel und vor allem nicht schnell essen konnte. Auch wenn sie oftmals fast von Tisch kippte und Hicks sie davon abhalten musste.
Auch wenn alle fertig waren, das Plaudern hörte nicht auf - So wie immer. Es war genau so wie früher. Genau so ist das Abendessen schon vorher abgelaufen. Es war ein vertrautes Gefühl. Ein tolles Gefühl. Aber trotzdem ließ sich nicht leugnen, dass Astrid durchgängig Schmerzen hatte. So ganz war doch nicht alles wie früher.
Irgendwann kam es zu dem Punkt, wo Hicks seine Aufmerksamkeit wieder seiner Partnerin schenkte. Gerade wollte er fragen, ob alles okay war, doch diese Frage konnte er sich ersparen. Astrid war blass. Zu blass. Natürlich war sie in letzter Zeit wegen der Seuche der Götter generell immer blass gewesen. Aber diesmal war es schlimmer. Das Weiß ging schon in einen Grünton über. Sie nahm nach wie vor tiefe Atemzüge, ihre Haltung war steif und sie starrte auf die Tischplatte. Aber irgendetwas war anders. ,,Astrid, was ist los?“, flüsterte Hicks, bedacht darauf, dass die Anwesenden diesem Gespräch keine Beachtung schenkten und bei ihrem blieben. Die Angesprochene schluckte und schloss ihre Augen. Stammelnd versuchte sie einen Satz zu formen: ,,Ich...“ Mehr als dies brachte sie nicht heraus. Der Braunhaarige merkte sofort, dass ihr Zustand zu schlecht war, um sie noch länger hier zu behalten. ,,Wir sollten dich nach Hause bringen. Du siehst gar nicht gut aus. Also ,,gar nicht“ gut im Prinzip von ,,noch schlechter als sonst schon“.“ Die junge Frau wollte gerade etwas antworten, als sie einen Teil ihrer Kraft verlor und - auch wenn es ihr viel Schmerz bereitete - einen Arm ruckartig auf dem Tisch ablegen musste, um sich zu stützen. Schon hatte sie die Aufmerksamkeit all ihrer Freund gewonnen. Jeder wirkte erschrocken und wollte etwas sagen, doch Hicks kam ihnen dazwischen: ,,Astrid, wir müssen sofort nach Hause“ Und ab diesem Moment war alles vorbei. Zu spät.
Astrid verlor ihre Haltung und mit einem erstickten Keuchen fiel sie von ihrem Sitzplatz. Der Boden begrüßte sie auf eine ,,harte“ Art und Weise. Mit Panik ergriffen stand jeder vom Tisch wie auf Knopfdruck auf und eilte an Astrids Seite. Sie zuckte. Keuchte. Stöhnte. Wälzte sich und versuchte, die starken Schmerzen zu unterdrücken. Es klappte nicht. Die Große Halle wurde nach und nach leiser. Jeder fühlte die angespannte Stimmung. Eine einzige Drehung und man bekam das schreckliche Bild von der in Schmerzen am Boden liegenden Astrid in die Sicht. Hicks stürzte sich sofort neben ihr in die Knie und rüttelte sie nervös an der Schulter. Verzweifelt rief er ihren Namen. Denn das was sich vor ihm abspielte, wollte er nicht glauben. Es war keine Schmerzphase. Es konnte keine sein. So wie sich Astrid benahm, wie ihre Schrei und die anderen Geräusche klangen, wie der Schmerz sie zucken und leiden ließ, war es ganz sicher keine Schmerzphase. Es war schlimmer. Viel schlimmer. Bestimmt um das zehnfache unerträglicher und schmerzhafter als zuvor. Es war das, was Hicks niemals wahrhaben wollte.
Astrid befand sich im dritten Schritt der Krankheit - Eine Stunde voller überaus intensiven Schmerzen. Nach diesen war alles vorbei. Nach diesen wünscht du dir, du hättest dich besser vom Leben verabschiedet. Denn nach dem dritten Schritt wirst du zu einem Teil des Totenreichs.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top