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Es war ein ganz normaler Schultag eine Woche nach dem Treffen mit Helene. Oder doch nicht?
Früh am Morgen stand ich aus meinem gemütlichen Himmelbett auf. Zu früh, um ehrlich zu sein. Doch mein Wecker wollte es ja nicht anders und nervte mich noch etwa zehn Minuten mit dem furchtbaren Piepen weiter, bevor ich mich schweren Herzens von der Wärme verabschiedete und mich erhob. Ich suchte mir einen dicken Pulli, der mich die plötzliche Kälte von draußen vergessen lassen sollte, und eine enganliegende Jeans. Grace trichterte mir den Merkspruch ein: Zu einem weitem Oberteil gehört ein enges Unterteil oder umgekehrt. Anders wird das Outfit das genaue Gegenteil eines Klassikers. Immerhielt ich mich daran, wollte eine plötzliche Umziehaktion in der Schule durch meine besten Freundinnen nun wirklich vermeiden. Ich verdrängte meine blödsinnigen Gedanken und verschwand im Badezimmer, wo ich duschte, Haare wusch und Zähne putzte. Auch trug ich ausnahmsweise mal roten Lippenstift auf, der dem Outfit und meinem selbst frisierten französischen Zopf ein wenig Aufregung einbringen sollte.
Danach schlich ich mich in die Küche, weil ich dachte, dass meine Eltern noch schliefen. Ich zuckte zusammen, als ich Mom plötzlich darin antraf. Vor Schreck hielt ich mir die Stelle, wo mein Herz pochte und zischte leise: „Bist du verrückt? Erschrecke mich doch nicht sosehr!"
„Also so hässlich bin ich ja nun auch nicht. Reg dich ab." Sie lachte leise und widmete sich dem Tisch decken. Ich ging ihr beiseite und kramte zwei Teller und Besteck aus dem Schrank. Dad war eigentlich Langschläfer und ich verstand, dass er seinen freien Tag genießen wollte. Als die frisch gebratenen Würstchen, die Spiegeleier und Brot auf dem Tisch standen, ließen wir uns nieder und gaben das Essen auf unsere Teller. Genüsslich aßen wir und schwiegen dabei. Ich konnte mir Zeit lassen, Jessica würde erst in einer halben Stunde vorbeikommen und mich abholen. Satt und zufrieden lehnte ich mich zurück und hielt mir den Bauch. Mom rückte die Teller und Pfannen beiseite und suchte Zettel und Stift. Sie bat mich zu überlegen, was wir für die Feier brauchen würden.
„Es soll ja eine Gartenparty werden, oder? Dann schlage ich Lichterketten vor, welche wir in die Büsche und Hecken hängen können. Lampignons sind auch nicht schlecht. Auf jeden Fall Limonade und eventuell auch Sekt", antwortete ich.
„Alkoholikerin!" Meine Mom lachte und spaßte.
„Ey! Du weißt genau, dass ich noch nie betrunken war. Ich hab es Grandma Meggie versprochen, es bis zum vollendeten achtzehnten Lebensjahr auch nicht zu sein. Aber gegen ein Gläschen Sekt spricht hier an dieser Feierlichkeit nichts." Ich sah beschämt auf meine Fingernägel, die Linn bunt lackierte. Sofort kreisten meine Gedanken zu ihr. Ich vermisste sie. Mein Schwesterchen musste vor einigen Tagen erneut ins Krankenhaus. Es war ein echt blödes Gefühl, sie nicht mehr um mich herum zu sehen.
„Erde an Hails! Jessica hupt wie eine Irre und weckt Dad. Mach, dass du wegkommst und viel Spaß in der Schule." Ich bekam gar nichts mit, weshalb es ein paar Augenblicke dauerte, bevor ich ein Autohupen wahrnahm. Rasch verabschiedete ich mich, nahm meine Schultasche und eine Jacke und rutschte in meine Schuhe. Ich rannte in den kühlen Regen,der wie verrückt den Himmel hinuntertropfte. Ich ließ mich auf den Sitz plumpsen und umarmte Jessi aus Strafe für das viele Aufmerksam machen mit meinem nassen Pulli, worauf sie kreischte, dass ich doch blöd sei. Ich klärte die Situation und sie murmelte: „'Tschuldigung. Konnte ich ja nicht wissen. Grace hat angerufen, es gibt Alarmstufe Rot! Brad versucht die ganze Zeit, mit ihr in Kontak tzu treten. Er hat sie am Spind angesprochen und als sie abblockte, es nocheinmal in der Klasse probiert. Sie wird ihm nie verzeihen. Der Blödmann wird es nicht schaffen! Weil wir angedüst kommen und ihr zur Seite stehen. Hab ich recht?" Die Frage war rhetorisch gemeint, doch kurz darauf drückte sie aufs Gas und wir rasten die nassen Straßen zur Schule hinunter.
***
Da stand er also, der Vollpfosten der Schule. Und wie er so cool tat und lässig am Spind stand, seine Hände in den Hosentaschen vergraben. Er sah zu mir rüber, oh Gott! Ich versteckte mich hinter meiner rotlackierten, blechernen Schließfachtür und hoffte inständig, dass Brad damit aufhörte. Aufhörte, zu mir rüber zu gucken und aufhörte ein Idiot zu sein. Vor allem sollte er aber meine beste Freundin in Ruhe lassen. Als ich mich langsam beruhigte, wollte ich mich zum Gehen wenden und schlug die Tür zu. Als ich mich herumdrehte musste ich aber feststellen, dass Grace' Ex-Freund nicht locker ließ und prallte beinahe gegen seinen muskelbepackten Oberkörper.
„Hailey", flüsterte er mit einem traurigen Unterton. Er wollte mich täuschen, niemals würde er auch nur einmal jemandem zeigen, wie armselig und schwach er doch eigentlich war.
„Was willst du, Brad?", entgegnete ich unfreundlich und stieß ihn leicht beiseite. Er stellte sich jedoch wieder genau vor mich.
„Also ich habe eine kleine Bitte an dich", kam er gleich zur Sache.
„Nein, lass Grace und mich in Ruhe. Ich hab andere Dinge vor, als deine unehrlichen Ansprachen anzuhören. Und jetzt geh, ich muss in die Cafeteria." Unsanfter als vorher schubste ich ihn zur Seite, damit ich freien Durchgang bekam. Doch packte Brad grob mein Handgelenk und hielt es sehr fest.
„Hör zu, ich habe Gefühle für Gracie und will sie..." „Hails, was machst du da?!", hörte ich jemanden rufen. Ich blickte von dem kantigen Gesicht zu einer erschrockenen Grace, die mit weit aufgerissenen Augen angerannt kam. „...zurück", beendete dieFlasche den Satz.
„Brad jetzt lass Hailey in Ruhe, oder du bekommst es wahrhaftig mit mir zutun!", drohte meine Freundin mit einem Auge, dass bei jedem Wutanfall anfängt zu zucken. Zusätzlich verdeutlichte der rechte Zeigefinger, der auf seine Brust hämmerte, wie ernst sie es meinte.
„Lass uns reden, okay? Ich liebe dich Grace, Emily war der größte Fehler meines Lebens! Niemals habe ich auch nur annähernd das gefühlt, was ich bei dir fühle. Nämlich einen Fallschirmsprung von Schmetterlingen in meinem Bauch. Verzeih mir. Es war nie meine Absicht gewesen, dich zu verletzen." Man konnte es ja beinahe als herzzerreißend bezeichnen, was er da von sich gab, aber sprach erdie Wahrheit oder lernte er irgendwelche Sätze auswendig? Sein durchdringender Blick wanderte immer wieder von Gracie zu mir, obwohl es ihm doch klar sein musste, dass es alleine eine Sache von den beiden war. Spiegelte das etwa die Unsicherheit wider, die auch seine Stimme belegte?
Mir wurde etwas ganz schnell bewusst. Und wie sicher ich mir in dieser Sache war!
„Er lügt! Grace, er sagt nicht die Wahrheit!", schrie ich wie am Spieß und erntete dafür ein paar blöde Blicke von Schülern. Doch das war mir egal. Ich hatte soeben Brad Harris als Lügner enttarnt und es auch ganz klar in die Welt herausgerufen. Tja, sein guter Ruf als Schönling der Oberstufe wird mit Sicherheit jetzt dem Abgrund entgegentreten.
Der Idiot ließ mich gehen, drehte sich herum und seine Mine zeigte Kälte. Er sagte zum Abschied: „Ich kann nicht glauben, dass du ihr mehr traust als mir." Danach verschwand er.
Ich beobachtete die Reaktion meiner besten Freundin. Grace starrte ihm ungläubig hinterher. Tränen hingen an ihren Augenwinkeln. Dann ging sie einen Schritt nach vorne, auf mich zu und fiel in meine Arme. Gerade so konnte ich sie noch halten, bevor sie in sich zusammensank und losheulte. Das letzte Mal, als sie so verletzlichauftrat, war vor zwei Jahren und da starb ihr Schäferhund Spikey. Mit ihm wuchs sie auf und er war so etwas wie ihr bester Freund. Dass sie nun einem Typen hinterher trauerte galt also als sehr ungewöhnlich. Grace musste an ihm gehangen haben, sie hatte ihn sehr geliebt. Für ihn war sie nur eine Puppe und er schmiss sie in eine Mülltonne, nur weil sein Interesse verschwand und um mit der nächsten zu spielen. Brad sah ein, dass das Wegschmeißen ein großer Fehler war und musste nun mit den Konsequenzen rechnen. Die Puppe war nicht mehr für ihn da und wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. Irgendwann wird sie einen neuen „Besitzer" bekommen. Mir tat sie leid. Ich konnte aber leider nicht viel machen für sie, höchstens in meinen Armen wiegen, sodass sie sich beruhigte. Grace musste da selbst durch. Ihren Herzschmerz unterdrücken, oder aber, wie gerade, freien Lauf lassen. Auch wenn es blöd klang, ich musste auch den Zusammenbruch nach Linns zweiter Diagnose alleine durchstehen. Damals versuchte meine Freundin, mich zu trösten, doch half mir das Schreiben von Gedichten und zeichnen, das Leiden zu unterdrücken. Gracie würde eine Shoppingtour besser ablenken, dachte ich mir.
Es klingelte zum Unterricht, die Mittagspause kam mir zu kurz vor. Es geschah soeben einiges, da verlor man nun mal die Zeit aus den Augen. Das Problem war nur, dass ich Hunger hatte und für mehrere Stunden diesen noch aushalten musste. Jedoch war das nicht das Schlimmste. Grace musste ich irgendwie zum Mädchenklo bringen, sodass sie sich frisch machen konnte. Sie ähnelte im Make up einem Clown und so konnte sie nicht vor die Klasse treten. Gleich würden wir zu spät zur Mathematikstunde kommen und unsere Knalltüte von Lehrer stinksauer werden.
Zum Glück gab es jedoch keine weiteren besonderen Vorfälle mehr, wie zum Beispiel ein Treffen mit der Flasche des Tages oder neue Heulattacken. Grace probierte, sich auf den Lernstoff zu konzentrieren und ich gleich mit. Nur schienen unsere Gedanken sich nicht um quadratische Funktionen und die Fotosynthese der Pflanzen zu kreisen, wir träumten und versuchten, es so aussehen zu lassen, als ob wir geistig anwesend wären. Heute wollte ich meiner Schwester nämlich einen Besuch abstatten und sie von ihren Sorgen wenigstensein bisschen ablenken. Linn, Avery und ich konnten vielleicht Karten spielen oder auf dem Gang die Leute beobachten. Öfters erschien auch ein Mann mit dem Mickey Mouse Kostüm, der jüngere Kinder aufmunterte. Mit ihm könnten wir auch ein Gespräch beginnen. DieHauptsache war, dass meine Schwester nicht zu schwach war, um zu gehen. Bestrahlung und Chemotherapien machten ja so einiges kaputt,warum metzelten sie nicht auch Linns Stärken ab? Ich musste daran zurückdenken, wie gerne sie rannte. Über Stock und Stein lief sie, auch Wettrennen bis zum Ende einer Straße fanden statt. In ihrer Klasse war sie immer die Schnellste und deswegen gab Sky ihrliebevoll den Spitznamen „Turboschnecke". Ich musste grinsen, es waren tolle Erinnerungen.
Als Jessica und ich uns nach dem anstrengenden Schultag zum Auto bewegten, stellte ich einen verpassten Anruf auf meinem Smartphone fest. Ich sah nach und der Name meines im Koma liegenden Freundes verwirrte mich für einige lange Augenblicke. Jessi blickte mit gerunzelter Miene zu mir hinter, denn ich blieb stehen, ohne es selbst zu bemerken.
Schnell erklärte ich ihr die Situation und sie trieb mich an, Aiden zurückzurufen. Ich hatte echte Bedenken, dass er es wirklich war. Aber wer hätte mich denn sonst von seinem Handy aus angerufen? Die Neugier packte mich und ich drückte auf den grünen Telefonknopf und wartete, dass jemand heranging.
„Hails?", hörte ich endlich wieder seine Stimme.
Ich stotterte vor Aufregung: „Hey...ähm...Aiden...du bist wach! Seit...äh...seit wann?"
Er berichtete mir, dass er am frühen Morgen vor etwa drei Tagen munter wurde, weil die Ärzte die Aufwachphase am Abend zuvor eingeleitet hatten. Vorher klärte Dr. Thomas das Ganze mit Helene ab, er meinte, die Zeiten des Schönheitsschlafes wären vorbei. Natürlich scherzte er nur, diese ernsten Stunden des Lebens sollten mit Lockerheit übergossen werden.
Aiden fragte etwas leiser und irgendwie vorsichtiger: „Kannst du kommen? Ich habe dich eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr gesehen."Daraufhin lachte ich kurz, denn es gab nichts Schöneres, was ich tun könnte. Ich wusste nicht, was es war, aber seit ich in Kenntnis gebracht wurde, dass Aiden wach war, spürte ich ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch und sehnte mich nach ihm. Unsere Freundschaft war also dicker als das Band zwischen Leben und Tod, und einer Langzeitnarkose. Dabei lernte ich ihn erst vor dreieinhalb Wochen kennen und doch zeigte diese heftige Verbindung, dass ich ihn besser kannte als jeder andere.
„Es waren nur 13 Tage, keine ganze Ewigkeit." Ein Grinsen sprang auf meine Lippen, doch Aiden konnte es nicht sehen. Das war auch der Grund, warum er nur enttäuscht „Mh" murmelte. Es tat mir echt leid, denn es war weder meine Absicht noch etwas anderes, ihn traurig zu machen.
„Soll ich dir etwas mitbringen? Brauchst du was?", beendete ich meine Ansprache fröhlich mit der Frage und verdeutlichte, dass ich eine gute Freundin für ihn sei wollte und bei ihm sein würde. Ich hörte ihn praktisch strahlen.
***
Der typische Geruch des Krankenhauses. Der Geruch nach Verletzung, nach Krankheit, aber auch nach Medizin und Hilfe.
"Zimmer A 09 im zweiten Obergeschoss", murmelte Helene und ich folgte ihr im Schlepptau zum Fahrstuhl. Wir trugen beide einen Stoffbeutel voll Kleidung und neuen Kosmetikartikeln, die Aiden mir durch das Telefon durchleitete. Angeblich fühlte er sich besser und er lag nun zum Glück nicht mehr auf der Intensivstation. Seltsamerweise ordnete Dr. Thomas eine Verlegung auf eine andere Station an, bestimmt gab es bereits neue Nachrichten über sein Blutbild. Und hoffentlich würden uns diese eine große Freude bereiten.
Jetzt stand ich also, mit einer dicken Tasche und einem bunten Blumenstrauß im viel zu kleinen Fahrstuhl, eingequetscht zwischen Helene und einem schwergewichtigen Mann im Morgenmantel, eine Halterung für den Tropf umklammernd. Schließlich auf der Station angekommen, suchten wir die Zimmernummer. Helene und ich blieben einen Moment vor seiner Tür stehen, atmeten noch einmal tief durch und lächelten uns an, bevor wir freudestrahlend die Tür aufrissen.
Ein bekanntes Gesicht. Aidens Gesicht. Und dieses mit einem schiefen Grinsen auf den schönen Lippen. Endlich durfte ich ihn wieder sehen, endlich war es soweit! „Aiden!", schrie ich beinahe und rannte zu ihm hin. Ich war dabei ungestört, das nur mit einer Folie abgedeckte Nachbarbett schien verlassen. Ich stellte die Sachen rasch ab und umarmte ihn vorsichtig. Aiden hielt mich überraschend lange und fest in seinen Armen. „Wie ich dich Nervensäge doch vermisst habe!" Er lachte wieder dieses helle Lachen, doch verschluckte sich und es endete in einem schrecklichen Hustenanfall. Seine Mom strich ihm fürsorglich den Rücken auf und ab und blickte mich besorgt an. Dann sah ich, wie sich Aidens Arme um Helenes zierlichen Körper schlangen und betrachtete das Bild des kranken kleinen Jungen, der seine Mutter brauchte. Man könnte meinen, die Tat wäre peinlich, doch dies käme einer Lüge gleich. Es war verständlich und irgendwie süß.
„Wir haben dir ein paar Sachen mitgebracht, die du brauchst. Ich räume sie jetzt aus."Helene klemmte eine lose, braune Haarsträhne hinter ihr linkes Ohr und wischte eine Träne von ihrer Wange. Ein weicher Ausdruck umfasste die Gesichter der Johnsons. Und auch mir blieb ein Kloß im Hals stecken. Aiden bat seine Mutter, sich erst einmal zu ihm zu setzen, da Klamotten warten konnten, er jedoch nicht. Dann kam ich zuWort. Ich wollte wissen, wie es ihm ging und verlangte eine ehrliche Antwort.
„Hails, ich muss sagen, dass ich zwar müde bin, aber ich fühle mich nicht mehr so schlapp. Meine Stimme ist noch nicht in Ordnung, das hörst du ja, doch steht meine Brust dafür nicht mehr in Flammen. Im Moment tut mir nichts weh, aber das kann auch am Schmerzmittel liegen, das gerade in meine Adern gepumpt wird. Siehst du?" Er zeigte auf die Kanüle im Arm. Ich nickte verständlich und sagte: „Und falls das nicht an dem Zeug liegt? Was ist, wenn das Tumorwachstum still steht? War Dr. Thomas bereits da?"
Helene schwieg, hörte aber innigst und konzentriert ihrem Sohn zu.
„Genau darüber will ich erzählen. Die Ärzte kamen sofort, als sie hörten, dass ich putzmunter im Bettchen lag. Okay, putzmunter mag übertrieben sein, aber trotzdem. Sie nahmen mir Blut ab und wollten es gleich ins Labor schicken. Die Auswertung ist noch nicht da, wenn wir jedoch Glück haben, kommen die heute noch. Dann werden wir wissen, ob der Tumor gewachsen ist und gestreut hat. Also drückt die Daumen, Leute! Jedenfalls meinte Dr. Thomas gestern so: 'Warum geht deine Klappe schon?' Und ich erwiderte: 'Keine Ahnung, Doktor, das müssten Sie mir eigentlich sagen. Sie sind hier der Studierte.' Er runzelte die Stirn und erklärte, dass es ein echtes Wunder ist, dass ich schon nach 48 Stunden reden kann. Die Schmerzen wegen dem Tubus im Hals müssten fürchterlich sein und ich sollte eigentlich kein Wort rauskriegen. Wie ihr sehen könnt", er bedeutete auf seinen Hals„ist da nichts mehr, sie haben den Tubus am Abend des Aufwachens herausgezogen oder was auch immer. Auf jeden Fall hat der mir während meines tiefen Schlafes beim Atmen geholfen. Jetzt ist jeder froh, dass es beim quatschen kaum schmerzt und ich mich mit euch beinahe ganz normal unterhalten kann. Ein bisschen ist das aber bestimmt auch dem Tropf zu verdanken."
Es herrschte Stille, Aiden stattete einen sehr informativen Bericht ab, der verarbeitet werden musste.
„Versprich uns, dass du vollkommen fit wirst, okay? In ein paar Wochen soll doch deine Geburtstagsparty stattfinden und ich möchte diese auf keinsten hier feiern", sagte Helene und blickte ihm tief in die Augen. Aiden warf ihr einen kurzen mörderischen Blick zu, den ich eigentlich nicht wahrnehmen sollte, nachdem er seine Lippen zu einem dünnen Strich verwandelte.
„Wartet, Geburtstag? Wieso sagst du denn nichts?", frage ich ihn beleidigt.
„Oh nein, der Schmollmund! Hails, sei nicht böse. Ich hatte nicht vor, eine Party zu veranstalten. Ich meine, wer soll schon groß kommen? Mason, James und Liam. Das war's. Die Leute aus meiner Klasse lade ich mit Sicherheit nicht ein, sie kennen mich doch gar nicht mehr! Haben mich vergessen..." Er schnaubte verächtlich.
Seine Mutter nahm seine Hand in ihre und erklärte: „Aber Schatz, es ist dein Achtzehnter! Du wirst nur einmal erwachsen und diesen Tag solltest du dir nicht entgehen lassen."
Ich stimmte Helene zu und versprach, dass wir einen tollen Tag haben werden.
Um das Thema zu wechseln fragte er: „Wieso bist du nicht bei Linn?" Meine Schwester berichtete am gestrigen Tag von der heutigen Behandlung und dass sie nicht vor abends auf dem Zimmer sein würde. Es war schwer für uns, sie nicht sehen zu können, zumal sie ihre Familie brauchte und auf ihre Unterstützung zählte. Ich würde später einmal schauen, ob sie bereits fix und alle in ihrem Bettchen lag, doch bis dahin war noch ein bisschen Zeit.
Ich schlug vor, eine Vase für den Blumenstrauß von einer Krankenschwester abzuholen und verließ das Zimmer. Solange konnten die Johnsons über all die Dinge reden, die mich nichts angingen. Auf dem Krankenhausflur herrschte ohrenbetäubende Stille, kein Patient schien besonders aktiv zu sein. Vielleicht lag es an dem drüben Tag, der alle zu erdrücken versuchte. Ich ging in Richtung Schwesternzimmer, als mir Dr. Thomas über den Weg lief. Er erkannte mich und blieb vor mir stehen.
„Hallo Hailey, du suchst bestimmt deine Schwester. Sie liegt im dritten Obergeschoss,auf der Kind..." Ich unterbrach ihn noch bevor er sich die Seele aus dem Leib quasselte: „Nein, Doktor! Ich besuche einen Freund von mir, Aiden Johnson und suche, wenn ich ehrlich bin, nur eine Blumenvase. Hätten Sie eine für mich da?" Der Arzt schien verblüfft und überrascht und bedeutete ihm mitzukommen. Also tat ich wie verlangt und erfuhr während des langsamen Gehens, dass er gerade auf dem Weg zu dem jungen Mann sei. Es gäbe gute Neuigkeiten, denn die Blutergebnisse wären da. Mein Herz klopfte bereits bis zum Hals und mir schossen etwa tausend Fragen durch den Kopf. Ist der Tumor gewachsen? Gibt es mehr Metastasen? Und wird Aiden jemals die Chance auf ein normales Leben bekommen?
Dr. Thomas öffnete einen Schrank im hinteren Teil der Station und präsentierte mir gefühlte zwanzig Blumenvasen verschiedener Größe und Form. Ichschnappte mir die in meinen Augen schönste und hielt ein paar andere rechtzeitig fest, bevor sie herunterfallen konnten. Ich schloss die Türen. Danach bewegten wir uns schweigsam in Richtung Zimmer.
„Seht mal, wen ich auf dem Gang getroffen habe!", rief ich begeistert und machte dem Arzt Platz. Ein Lächeln war ihm ins Gesicht geschrieben und er begrüßte meinen Freund mit einem Händeschütteln.
„Nun, Mr. Johnson. Wie geht es Ihnen?"
„Ganz gut."
„Geht das etwas genauer, bitte?", forderte der Doktor.
Und Aiden gab wieder, was ihm schmerzte und was sich obendrein besserte. Der Arzt nickte zufrieden und notierte sich die Beschwerden.
„Ich habe hier etwas in der Hand, was Sie sehr erfreuen wird und mich mit." Er machte eine kurze Pause und blickte in unsere drei hoffnungsvollen Gesichter.
„Es geht um deinen Tumor. Er ist weder gewachsen, noch hat er gestreut. Im Gegenteil! Er ist geschrumpft, keine Metastasen mehr zu sehen. Und du wirst zukünftig geheilt! Aiden, du hast genau jetzt die Möglichkeit sprachlos zu sein." Dr. Thomas freute sich, seine Augen bildeten kleine Fältchen und Helene konnte ein Lachen nicht unterdrücken. Ich rüttelte vor Begeisterung an der Schulter des Jungen, schloss ihn in die Arme. Er konnte es nicht glauben. Niemand war dazu in der Lage! Eine Menge Euphorie umströmte diesen Raum und Aiden schien glücklicher als je zuvor.
„Das ist doch ein Witz! Sagen Sie mir, dass das ein schlechter Scherz ist!" Er lachte und kriegte sich nicht mehr ein, steckte uns alle an. Seine Hand umgriff die meine und Helenes, und wir hörten dem Arzt erneut zu.
Er setzte an zum Reden: „Dein Krebs ist leider trotzdem noch nicht ganz weg und deswegen bitte ich dich um Mithilfe. Du wirst dich ganz retten können, wenn du noch etwa zwei Zyklen Chemotherapie durchstehst und die ganzen Tabletten nimmst. Nur noch das, dann wirst du es hoffentlich geschafft haben! 100 Prozentig wissen wir dir noch nicht, wie rapide das gehen wird, aber wir drücken die Daumen, das gesamte Ärztepersonal und die Schwesternschaft, dass du auf schnellstem Wege geheilt wirst!"
„Nur so zur Information: wenn ich nicht mitmache, sterbe ich?" Wir hielten inne, ein wenig schockiert von Aidens Fähigkeit, alle sprachlos zumachen.
„So drastisch würde ich das jetzt zwar nicht formulieren, aber es würde wenig Sinn ergeben, an dieser Stelle aufzuhören. Ohne weitere Behandlungen könnte sich dein Zustand wieder verschlechtern und das wollen wir doch nicht, oder?"
Aiden schüttelte den Kopf und strich sich über seine braunen zerzausten Haare. Er schien nachzudenken, hob dann aber gleich den Kopf, als ob er sich entschieden hätte.
Er meinte, während er Daumen und Zeigefinger nachdenklich auf sein Kinn legte: „Nun, da haben Sie wohl recht." Er machte eine kleine Pause. „Ich werde tun, was sie von mir verlangen. Aber nur, wenn Sie mir eines versprechen! Bringen Sie mich auf die Beine und machen Sie mein Leben wieder lebenswert!" Der nette Arzt stimmte zu und verschwand auch bald wieder, um zur nächsten Visite zu huschen. Was würden wir nur ohne ihn tun?
***
Der Nachmittag ging schnell vorüber, denn wir spielten zu dritt das Kartenspiel Mau Mau, lachten dabei über Aidens vergebliche Mogelversuche und planten seine Party. Wir klärten, wo wir feiern wollten, wer kommen sollte und was es für Essen geben konnte. Ich war bereits voller Vorfreude, denn er würde ein ganz besonderes Geschenk erhalten. Trotzdem dauerte es noch viele Tage, bis der Moment gekommen war und sein Wunsch nicht nur irgendein dummer Traum blieb.
Als ich ahnte, dass Linn endlich auf ihr Zimmer zurückgekehrt war, verabschiedete ich mich schweren Herzens von meinem besten Freund und seiner herzzerreißenden Mutter. Ich suchte auf der Kinderstation, wie Dr. Thomas es erwähnen wollte, nach ihrem Zimmer und fand es sofort. Mein Schwesterchen war da und lag in ihrem Bett. Erst dachte ich, sie schlief, bis ich bemerkte, dass der Fernseher lief und sich eine Schnulze abspielte. Linn liebte Liebesfilme, sie weinte oft beim Ansehen. Manchmal vor Freude, manchmal aber, weil ein Protagonist starb. Ich begrüßte meine Schwester mit der Erinnerung und einem Kuss auf die Stirn, nachdem ich bemerkte, dass Avery nicht im Zimmer war. Linn entdeckte die Verwirrung in meinem Blick und meinte: „Oh, Avery hat Besuch. Sie wollten zur Sitzecke." Ich wusste nicht, wer „Sie" waren, aber Linn wusste sicherlich bescheid. Sie sagte nichts, starrte stumm auf den grauen Kasten an der Wand. Ich musterte sie nachdenklich. Meine Schwester sah müde aus, was ich an ihren gläsernen Augen erkannte. Aschfahl war sie, wie Kreide. Und auch so zerbrechlich. Linn musste in den wenigenTagen wahnsinnig abgenommen haben, und das mag nicht an der widerlichen Krankenhauskost liegen. Ich bekam Angst, ein Zittern überkam mich. Was war, wenn sie den Kampf verlieren würde? Wenn der Gegner viel mächtiger war, als wir dachten?
„Nein, Hails! Daran darfst du gar nicht erst denken!", ermahnte mich meine innere Stimme, die vollkommen Recht hatte. Ich konnte jetzt nicht verzweifeln. Linn würde denken, ich stünde nicht hinter ihr. Als ob ich nie an sie glaubte.
Ich schnappte mir eine von vielen Schokoladentafeln auf dem Nachtschränkchen, welche Mom und Dad immer mitbrachten. „So viel konnte doch keiner essen!", sagte ich immer, doch niemand hörte mir zu. Weder ein gesunder Mensch noch jemand krebskrankes war dazu in der Lage, diese Anzahl von Kalorien zu verschlingen. Also half ich meiner lieben Schwester und brach die Hälfte für mich ab. Schokolade als Nervennahrung war in den letzten Wochen mein Lebenselixier geworden. Ich fragte alles, was ich wissen wollte, bis Linn genervt stöhnte und den Film weiterschaute.
„Was war das heute für eine Behandlung?", war der Anfang.
„Bestrahlung."
„In dieser Röhre, in der ich Platzangst kriegen würde, läge ich darin?"
„Jap genau. Nur, dass ich es aushalten MUSS, auch wenn ich Panik kriege."
„Tut mir leid."
„Mir auch."
Ich stimmte ihr zu. Niemand konnte wissen, wie es ihr damit wirklich erging. Was sie wirklich durchmachte, soviel Angst sie auch erfüllte. Linn durfte nicht aufgeben und das war ihr bewusst. Nur ahnte niemand, wie schlimm diese Tortour war. Wie viele Schmerzen mein sanftes Schwesterchen leiden sehen wollten. Und ich hielt es nicht mehr aus. Ich konnte nicht einmal im selben Raum bleiben, ohne zu weinen. Linn war voll und ganz die stärkste Person, die ich bisher kennenlernte. Sagte keinen Ton, auch wenn sie zerbrach in der körperlichen Explosion mit Medikamenten.
„Darling, ich muss jetzt nach Hause. Ruhe dich aus und schlafe. Schlaf tut dir gut und gibt dir Kraft. Ach ja und, Aiden ist wieder wach! Ihm geht es gut." Während man meine Schwester in der Robustheit mit einem Löwen vergleichen konnte, schien ich so feige wie eine kleine, piepsendeMaus. Später würde es mich zerfressen, nicht bei ihr geblieben zu sein, doch machten mich die negativen Gedanken in diesem Moment fertig. Ich erhob mich vom Krankenbett, gab ihr erneut einen Kuss und lächelte ihr ein letztes Mal zu, bevor ich die Tür öffnete.
„Das sind ja tolle Nachrichten! Sag ihm schöne Grüße", rief sie mir zu. Ich nickte rasch und verschwand mit einer Kälte, die ich selbst so von mir nicht kannte.
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