Irrwicht

Mit dem schöneren Wetter im Mai kam auch meine etwas bessere Laune wieder. Auch wenn unser Ziel immer noch nicht in Sicht war, wir gaben nicht auf.
Neben dem Raum der Wünsche verbrachte ich meine Freizeit viel draußen. Mit Theo oder Daphne und Pansy unten am See zu sitzen, lenkte mich ab und ich konnte einfach mal entspannen, bevor es - so wie jetzt gerade - erneut hoch zum Raum der Wünsche ging.
Inzwischen ging ich die Stufen schon automatisch hoch und musste gar nicht mehr daran denken, wo ich abbiegen und hochgehen musste.

Ich ging durch die Gänge und hielt Ausschau nach einem Gegenstand, den ich noch nicht zuvor nach London gesendet hatte.
Ich fand eine etwas ältere Teekanne aus Porzellan und nahm sie mit. Mit beiden Händen hielt ich sie fest, damit sie mir nicht ungeschickt aus den Händen flog.
Beim Verschwindekabinett angekommen, stellte ich sie zuerst auf einen Beistelltisch daneben, um fürs Öffnen des Schrankes beide Hände frei zu haben.
Sobald ich ihn geöffnet hatte, stieg mir ein ungewöhnlicher, leicht stechender, verwesender Geruch in die Nase. Erschrocken stellte ich fest, dass im Inneren des Holzkastens der Körper eines kleinen, braunen Vogels lag. Ich konnte zum Glück keine körperliche Verletzung feststellen, doch die Stellung des Tieres und dessen Geruch, sprachen eindeutig dafür, dass er tot war.
Hatte Draco den etwa gestern Abend hier reingesteckt? Obwohl ihm hätte klar sein müssen, dass es nicht richtig funktionieren würde?
Gott, das arme Tier... Ich tastete die Innenseite meines Umhangs nach meinem Zauberstab ab, auf keinen Fall wollte ich mit den Händen eine Leiche anfassen, sei es auch nur ein Vogel, und irgendwie musste ich ihn entsorgen.
Ich konnte den spiralförmigen Griff meines Zauberstabes, der für gewöhnlich aus der Innentasche schaute, nicht spüren. Nervös tastete ich den restlichen Stoff ab, doch ich konnte nichts feststellen, das sich wie das harte Holz eines Zauberstabes anfühlte.
Mist, ich hatte ihn nach der letzten Stunde VgddK im Schlafsaal liegen lassen...
Einen Moment lang schaute ich den Vogel im Verschwindekabinett an, erst mitleidig, dann mit Abscheu.
Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken bei dem Gedanken, ihn mit bloßen Händen anzufassen. Der faulige Geruch wurde immer stärker und ich war nur froh, noch nicht zu Abend gegessen zu haben.
Mit vor Mund und Nase gehaltener Hand schloss ich die Türen des Schrankes wieder und drehte mich um. Ich wollte nur schnell meinen Zauberstab holen und dann wiederkehren. Ich bahnte mir meinen gewohnten Weg durch Möbel und Sonstiges.
Ich weiß nicht mehr wie und warum, aber irgendwie war ich wohl falsch abgebogen, da ich mich plötzlich in einem Abschnitt befand, der nicht zu meiner üblichen Umgebung gehörte. Hektisch drehte ich mich um mich selbst, doch alles um mich herum sah mit einem Mal gleich aus.
Ich fluchte leise und versuchte mich zu konzentrieren, bis mir zwischen einem kleinen Kleiderschrank und einem Stapel Bücher ein großer dunkelbrauner Fleck auffiel, der einen Griff zu haben schien. Vielleicht war das ja das Verschwindekabinett?
Hoffend kletterte ich über die Sachen, die mir den Weg dorthin versperrten, sobald ich den Schrank und die Bücher passiert hatte, stand ich auf einer freien Fläche in deren Mitte der Kasten stand.
Mit Überraschung und Enttäuschung musste ich feststellen, dass es sich dabei nicht um das Verschwindekabinett handelte. Der Schrank war älter, kleiner und viel reicher verziert. Zur Hälfte war er mit einem blauen Vorhang abgedeckt.
Jetzt erinnerte ich mich wieder, dies war der Schrank, den ich bei meinem ersten Besuch hier gefunden und der mich neugierig gemacht hatte.
Nun hatte ich mehr Zeit, die ich mir nehmen wollte, um ihn endlich besser in Augenschein zu nehmen.
Wie damals hörte ich wieder das Klopfen gegen das Holz, als bemerke der Schrank meine Anwesenheit. Diesmal zögerte ich nicht lange und zog den dünnen Vorhang weg. Eine feine Staubwolke fiel mit ihm durch die Luft und auf den Boden.
Neugierig zog ich an beiden Griffen, doch die Türen spießten etwas. Ich wandte etwas mehr Kraft an und mit einem lauten Knarren flogen die Türen auf.
Überraschenderweise war der Schrank völlig leer... bis auf eine graue Wolke, die vom Schrankboden auf den Boden glitt.
Der Nebel umschloss zur Hälfte meine Füße und schien mich mit einer eigenen Kraft wegzudrücken.
Erschrocken sprang ich einen großen Schritt zurück, als mir klar wurde, um was es sich bei dem Nebel handelte.
Vor drei Jahren hatte ich diese Wolke schon einmal gesehen, bei der Prüfung für VgddK. Mein Irrwicht war ebenfalls zuerst als grauer Nebel aus der Kiste gestiegen, bevor er die Gestalt meiner größten Angst annahm.
Hätte ich meinen Zauberstab bei mir, wäre ich nur halb so nervös wie jetzt. Ohne Zauberstab war es nicht möglich den Riddikulus Zauber auszuführen.
Es war, als hätte jemand einen Dolch geradewegs in mein Herz gestochen.
Ich hatte das Gefühl, meinen Ängsten gegenüber zu stehen, anders in Erinnerung, vielleicht lag das daran, dass zur heutigen Zeit das tatsächliche Eintreten dieser, viel wahrscheinlicher war, als damals.
Der Irrwicht hatte die Gestalt einer Person angenommen und lag mit dem Rücken zu mir reglos - nein, leblos - auf dem Boden.
Doch auch wenn ich wie damals schon das Gesicht des Jungen nicht sah, wusste ich, dass es immer noch Draco war.
Tränen stiegen mir in die Augen bei der Erinnerung an die Schulstunde mit Lupin, in der wir die Irrwichte in der Praxis durchgenommen hatten, und mir zum ersten Mal bewusst wurde, was meine größte Angst war.
Draco hatte mich damals gefragt, wer oder was mein Irrwicht sei. Doch er hat dabei gelacht, als wäre es ein Witz. Auch wenn ich nur zu gerne sein Gesicht gesehen hätte, wenn er die Wahrheit erfahren hätte, war ich froh, dass ich meinen Irrwicht nicht vor der ganzen Klasse offenbaren musste.
Die Tränen flossen meine Wangen herunter, als mir endgültig bewusst wurde, wie realistisch meine Angst war. Schließlich hing jetzt nicht nur Dracos Leben am seidenen Faden.
Ich konnte nichts anderes tun, als den Irrwicht als tränenverschwommene Gestalt anzustarren und mir ständig in Erinnerung zu rufen, dass das vor mir auf dem Boden nicht wirklich mein Bruder war, dass er irgendwo hier im Schloss herumlief, dass es noch nicht zu spät für uns war.
Irgendwann schaffte ich es mich wieder zu beruhigen und der Gestalt auf dem Boden den Rücken zuzukehren.
Was mit einem Irrwicht geschah, wenn man ihn, ohne ihn zu vertreiben, zurückließ, wusste ich nicht und in diesem Moment war mir das auch ziemlich egal.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top