chapter one ✔
»Hallo, Harry«, tönte es aus ihrem Mund und bei dem Klang ihrer Stimme stellten sich die Härchen auf Harrys Armen auf. Sie war weich und er könnte ihr noch den ganzen Tag lauschen.
»Ha-Ha...Hallo...« Harry wollte sich am liebsten selber eine dafür klatschen, dass er jäh nervös war. Doch er fragte sich bloß, wie - for fuck's sake - dieses Mädchen in sein Zimmer gelangt war. Er hatte allerdings keine Angst vor ihr. Ihre Flügel, die wirklich eine gute Faschingsverkleidung waren, wirkten rein wie Seide, dünn wie Schmetterlingsflügel und verströmten einen betörenden Geruch nach Lavendel, der Harry dazu veranlasste, tief einzuatmen, um möglichst viel davon zu bekommen.
»Dieses Fenster ist echt bescheuert«, wechselte sie unvermittelt das Thema. »Ich hab mir meine Flügel fast bei der Gardine eingeklemmt und glaub mir, das ist schmerzhaft.«
»Die sind e-cht?«, stotterte Harry, seine smaragdgrünen Augen waren groß wie Untertassen.
»Klar«, meinte das Mädchen fröhlich.
»D-Darf ich sie anfassen?«, fragte Harry schüchtern. Als sie nickte, erhob Harry sich und trat mit langsamen Schritten auf sie zu. Seine Finger strichen behutsam über den linken Flügel. Er war warm und es kribbelte an Harrys Fingern bei der Berührung. Es fühlte sich an, als strich er über feine Adern, die bei zu starkem Druck platzen könnten. »Die sind schön«, sagte er fasziniert und brach den Augenkontakt nicht mehr ab.
»Danke, Harry.« Ein rötlicher Schimmer bereitete sich auf ihren hellen Wangen aus und ihre Augen schienen noch goldener zu werden.
»Woher kennst du meinen Namen?«, wollte Harry deutlich sicherer wissen.
»Woher ich deinen Namen kenne? Das müsstest du doch selber wissen, schließlich hast du dich mit mir in Kontakt gesetzt«, antwortete das Mädchen ihm mit einem seltsamen Unterton. »Durch dich bin ich nicht mehr über den Wolken, sondern nun auf der Erde, bei euch Menschen, sobald du mich brauchst.«
»Bitte?« Harry verstand kein Wort von dem eben gesagten.
»Sekunde... du kennst die Bedeutung des Wortes nicht?«
»Von welchem Wort-« Harry unterbrach sich selber im Satz, als er es verstand. Rampijodaja. Von welchem Wort sollte sie sonst reden?
»Also weißt du auch nicht, wer ich bin?«, hakte sie nach.
Harry schüttelte den Kopf.
Das Mädchen mit den dunklen Haaren sprang von seinem Bett und schüttelte munter seine Hand. »Es ist mir eine Freude, Harry, ich bin Angel«, stellte sie sich vor.
»Meinen Namen kennst du bereits«, erwiderte Harry und spürte fast, wie sich die wohltuende Wärme ihrer zarten Hände in die seinen übertrug.
»Wie soll ich es erklären, ohne dass du mich für verrückt hälst...«, murmelte sie, blickte kurz auf ihre von weißen Plüschsocken verdeckten Füße und hob dann wieder den Blick, um dem von Harry zu begegnen. »Ich bin dein Schutzengel.«
Harry öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch sie fuhr unbeirrt fort: »Du kannst mich für verrückt erklären, aber ich kann dir beweisen, dass ich kein Mensch bin - oder eher einer war...« Bei dem letzten Satz wurde Angels Ton düsterer und ihr Gesicht verdunkelte sich für eine Sekunde, was innerhalb einer Nanosekunde nicht mehr zu sehen war. Ein sanftes Lächeln umspielte ihre rosigen Lippen. Sie hob ihre Hand und wie aus dem Nichts flog ein goldener, hauchdünner Faden durch die Luft, der kein Ende zu haben schien. Der Faden nahm eine Formation an und bildete fünf Buchstaben.
Harry, stand dort in einer schönen Schrift.
Harry kam nicht mehr aus dem Staunen heraus. Ab dem Moment glaubte er Angel, dass sie ein Schutzengel war. Etwas derartiges unmenschliches hatte er noch nie zuvor gesehen. Noch nie. Langsam verblasste der Faden.
»Glaubst du mir -?« (Harry nickte), »- ich denke, ich fange ganz von vorne an. Der Mensch hat den Aberglauben, einen Schutzengel zu haben, und es ist auch gut so, dass es ein Aberglaube ist. Früher kommunizierten Menschen mit ihren Schutzengeln durch das Wort, doch als die Menschen einen Schutzengel verletzten, wurde das Wort, durch das die Kommunikation entstand, verboten. Schutzengel beschützen Menschen und teilen auch aus. Ihr Menschen nennt es Karma, wenn ich mich recht entsinne. Erinnerst du dich noch daran, als Gemma dich ausgelacht hat und dann gestolpert ist? Dafür war ich verantwortlich.«
»Wie viele Schutzengel gibt es?«, verlangte Harry neugierig zu wissen.
»So viele, wie es auch Menschen gibt.«
»Wie wird man ein Schutzengel?« Harry war von der Interesse gepackt. Viele Fragen brannten ihm auf der Zunge, und er bemühte sich, dass nicht alle aus ihm herausprasselten.
»Schutzengel sind Tote. Aber nicht jeder Tote wird ein Schutzengel. Nur der, wer es verdient hat, heißt es, zu wissen, was auf der Erde nach dem eigenen Tod geschieht. Wenn der, den man beschützen muss stirbt, stirbt man entweder mit oder man kriegt jemanden neuen, wenn man beschützen muss«, erzählte Angel möglichst simpel, damit er es verstand.
»Wann bist du gestorben?« An Angels Gesichtsausdruck merkte Harry sofort, dass er ihr diese Frage nicht hätte stellen sollen. Ein Ausdruck von Trauer trat auf ihre weichen Züge. »Tut mir leid, dass ich -«
»Schon in Ordnung«, unterbrach sie ihn mit belegter Stimme. »Am ersten Februar, 1994.«
»Das war ja mein -«
»Dein Geburtstag, ich weiß, Harry.« Sichtbare Tränen traten in Angels Augen. Harry fühlte sich sofort schlecht deswegen. Er hätte sie nicht nach ihrem Tod fragen dürfen. Und vielleicht war das auch der Grund, weshalb er, kaum dass er sich auf seinem Bett neben ihr niederließ, einschlief.
Harry wachte durch seinen nervtötenden Wecker auf. Er öffnete die Augen, schaltete ihn aus, schlug die Decke beiseite und setzte sich auf. Müde strich er seine Locken glatt, die in alle Himmelsrichtungen abstanden und guckte sich in seinem Zimmer um. Keine Spur von Angel. War das ein Traum gewesen? Genau, das musste es sein. Gähnend suchte er sich einen Sweater und eine Jeans aus seinem Schrank und zog sich um, da er in seinen gewöhnlichen Klamotten eingeschlafen war.
Noch immer müde tapste Harry die Treppe nach unten, frühstückte Müsli, das seine Mutter ihm bereit gestellt hatte, nahm sein Pausenbrot aus dem Kühlschrank, dazu noch eine Wasserflasche und machte sich mit seiner Schultasche auf den Weg zur Schule. Dabei kam er an mehreren Feldern vorbei, da sein Schulweg nicht der Kürzeste war. Zu Fuß ging er eine halbe Stunde, mit dem Bus fuhr er maximal zehn Minuten. Der Vorteil an dem Schulweg war bloß, dass Harry dabei an dem Haus vorbeikam, in dem sein bester Freund wohnte. Niall stand auch, wie zu erwarten, an der Tür und zog den Lockenkopf in eine feste Umarmung.
»Morgen, Harry.« Der irische Akzent Nialls drang leise an Harrys Ohren und er nickte abwesend, seine Gedanken klammerten sich an Angel. Er konnte auch den ganzen Schultag von nichts anderem denken und musste wortwörtlich von Niall von Klasse zu Klasse gezogen werden.
Als dann um vierzehn Uhr Schulschluss für die elfte Klasse war, traten Harry und Niall aus dem Schulgebäude und genossen die warmen Sonnenstrahlen. Es war Anfang Oktober und der Wetterbericht versprach, dass es bald Frost geben würde. Deswegen ließen sie sich die Chance nicht entgehen, vor der Kälte noch Sonne zu tanken. Es war angenehm warm und nichts hätte den Moment zerstören können, bis auf -
»Hey, Styles!«
Harry wappnete sich für den schwarzhaarigen Halbpakistani namens Zayn Malik, der ihm jeden Moment das Leben zur Hölle bereiten würde. Kaum drehte er sich um, nahm er im Augenwinkel wahr, dass Louis Tomlinson Niall in den Schwitzkasten genommen hatte und ihm somit jegliche Bewegungsfreiheit raubte.
»Wie geht es dir so, Styles?«, fragte Zayn Malik provozierend und grinste Harry teuflisch an. »Schönes Wetter heute, huh?«
»Das geht dich nichts an«, sagte Harry und gab sein Bestes, sicher zu klingen, doch das Zittern in seiner Stimme war unüberhörbar. »Und lass Niall in Ruhe«, richtete er sich an Louis Tomlinson.
Diese eine Sekunde der Unaufmerksamkeit von Harry reichte Zayn dafür aus, den Lockenkopf an eine nahegelegene Wand zu schubsen und ihn an dieser mit seinen Händen zu fixieren. Erschrocken sog Harry tief Luft ein und verschluckte sich fast an seiner eigenen Spucke. Zayns hellbraune Augen scannten Harry ausgiebig, ehe er ausholte und ihm in den Magen schlug. Harrys Kopf knallte von der Wucht gegen die Mauer und ein vehementes Schwindelgefühl setzte ein. Allerdings waren die Schmerzen in seinem Magen grausamer.
Es fühlte sich nicht so an, wie wenn er sich selber verletzte, sondern viel schlimmer, als hätte Zayn ihm jeden einzelnen Knochen gebrochen. Er sank keuchend und um Luft ringend zu Boden. Sein Blick huschte zu einem Baum, hinter dem er einen weißen, unverwechselbaren Flügel entdeckte.
»A-Angel...«, hörte Harry sich selber flüstern.
Zayn beugte sich zu Harry und musterte sein schmerzverzerrtes Gesicht. »Und das war gerade erst der Anfang«, summte er.
Dann, ohne Vorwarnung, wurde Zayn von jemandem gepackt und von Harry gezerrt und voller Wucht gegen die Wand gedrückt. Zayn stöhnte schmerzerfüllt auf, während Harrys Retter knurrte: »Wenn du ihm auch nur noch ein Haar krümmst, bringe ich dich um, Föhnfrisur.«
Harry kannte diese Stimme nicht. Verwundert schaute er auf und sah einen braunhaarigen, muskulösen Schüler, der Zayn fester an die Wand drückte, als dieser still blieb. Der Fremde drückte noch einmal zu, sodass Zayns Wange gegen den kalten Stein der Mauer rieb.
»Okay!«, fauchte er.
Sofort ließ der Junge Zayn los und er und Louis stürmten davon. Mit einem besorgten Blick kam der Fremde zu Harry, half ihm auf, und klopfte seinen Blazer ab. »Geht's dir gut?«
»Ich d-denke schon... danke«, sagte Harry.
»Gerne. Ich bin übrigens Liam und du?«
»Harry.«
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