Kapitel 37
Die Küche roch nach Zimt und Plätzchen. Mehrere Teigschüsseln standen auf der Ablage verteilt. In ihnen teilweise noch ein Löffel. Elaina saß auf der Ablage und kratzte gerade die letzten Reste aus den Teigschüsseln. Selbstverständlich nicht, um daraus noch Kekse herzustellen, sondern weil sie nun einmal gerne den Teig naschte. Welches Kind tat das nicht gerne?
In einer Ecke der riesigen Schlossküche hatten Marlene und ich die Krabbeldecke für Kira Lorraine, Marianne und Patricia Prim hingelegt. Die drei lagen dort mit Nala und Bubble. Sie waren ganz in ihr Spiel vertieft.
Im Radio hörte man Weihnachtslieder dudeln, welche Marlene, Elaina und ich durch unseren Gesang unterstützten. Durch die Fenster konnte man bis zu dem Pferdestall sehen, welcher seit unserem Einzug hier wieder in Betrieb war. Draußen fielen die Schneeflocken vom Himmel. Auf dem Boden hatten sie sich zu einer dicken, weißen Masse verbunden, welche scheinbar unberührt die Wege verdeckte.
Ich konnte kaum glauben, dass die Prophezeiung von Professor Noble nun schon ein halbes Jahr her war. Seit dem letzten Anschlag der Todesser hatte es glücklicherweise keinen weiteren auf uns Nymphen gegeben. Dafür hatte das Schloss einige neue Bewohner bekommen. Nicht nur ich war mit meiner Familie hier eingezogen, sondern auch einige andere Nymphenfamilien oder besser gesagt, was von ihnen übrig geblieben ist, lebten nun hier.
Am Anfang war es ein riesiges Durcheinander. Nicht nur, dass mehrere eigentlich Fremde nun hier lebten, dazu kamen auch noch, dass hier mehrere verschiedene Nationen lebten. Das Einige von ihnen eher in Elainas Alter waren, half auch nicht wirklich dabei, Frieden in diesem Haus zu verbreiten.
Meistens waren es eher kleine Gründe, die zu einem riesigen Streit führten, wie der Streit darüber, wer nun den Teig aus der Schüssel kratzen durfte. Doch meistens lief es relativ harmonisch ab. Elaina freute sich darüber, dass sie mit Helena, Evens Enkeltochter, spielen konnte. Moa, Helenas Großcousine und ihr neues, gesetzliches Vormund, war froh, sich nicht alleine um drei Kinder kümmern zu müssen, und ich war froh, wieder in meinem zu Hause mehr Trubel zu haben.
Der Krieg hatte mir vielleicht meine Familie genommen, eine Tatsache, die ich gerne ändern würde, doch gleichzeitig hatte dieser mir auch eine neue geschenkt. Eine noch Buntere und Wildere als ohnehin schon.
„Hier riecht es aber lecker." Moa kam zusammen mit Tobias, Evens Enkel und Nachfolger, Helena und ihrer Cousine Vilde in die Küche. Die achtjährige Helena sah mit großen Augen zu Elaina herüber, welche glücklich den Teig naschte.
„Darf ich auch was?" Sie sah bittend zu Moa herüber.
„Carolin, Elaina und Marlene haben gebacken. Es ist ihr Teig. Frag am besten die drei, ob du etwas kriegst."
„Elaina?" Das junge Mädchen sah zu der Sechsjährigen herüber, welche eine ihrer vier Schüsseln herüberschob.
„Hier sind noch Teigreste." Die Achtjährige setzte sich zu meiner Großcousine auf die Ablage. Zusammen naschten sie weiter den rohen Teig. Wenigstens gab es heute deshalb keine Streiterei.
„Wie lange brauchen noch die Kekse?" Tobias sah sehnsüchtig in den Ofen. „Noch fünf Minuten." „Dürfen wir beim Verzieren helfen?" Der Augen der jungen Nymphe glänzten voller Vorfreude. „Klar, wir haben genug, damit wir hier alle zehn Stunden arbeiten können." Tobias und Vilde klatschten sich gegenseitig ab.
Die Arbeitsflächen waren mit mehreren Blechen Keksen bedeckt. Alle waren verziert. Erschöpft sah ich zur Küchenuhr, welche über der Tür hing. Siebzehn Uhr.
„Kann es sein, dass sie Küchenuhr falsch geht?" Moa sah auf ihre Armbanduhr, bevor sie den Kopf schüttelte.
„Nein, die ist richtig. Warum?"
„Sirius und Samuel haben vor einer Stunde Feierabend gehabt. Ihre Schicht geht von acht Uhr bis sechzehn Uhr. Manchmal dauert es ein wenig länger, aber dass sie beide eine Stunde zu spät zurückkommen – ich appariere ins St. Mungos und gucke nach, was da los ist."
„Carolin, das halte ich für eine sehr sehr schlechte Idee. Erinnerst du dich noch an das letzte Mal, wo ihr spät aus dem St. Mungos zurückgekommen seid? Du hattest eine Gehirnerschütterung, weil ein Todesser einen Todesfluch auf dich gefeuert hat, der die Treppe unter deinen Füßen zum Einsturz gebracht hat. Schicke Maélys eine Eule, die wird jemand aus ihrer Familie als Vorhut schicken." Ich schüttelte leicht den Kopf.
„Ich kann hier nicht einfach sitzen bleiben, Marlene."
„Dann lass uns wenigstens jemanden mitnehmen. Moa, du hast doch mit Sicherheit ein Auge auf die drei Kleinen, richtig?"
„Wir kriegen das schon hin. Deborah und Michael sind schließlich auch noch da."
Ungeduldig lief ich vor dem Eingang des Schlosses auf und ab. Wo blieb bitte Maélys Familie? Wer auch immer davon mit zum St. Mungos kommen würde, sollte endlich mal hier auftauchen. Ansonsten würde ich doch alleine dahin apparieren.
„Kannst du dich bitte beruhigen, Carolin? Du machst mich nervös." Marlene, welche auf der Treppe saß, sah genervt zu mir herüber.
„Machst du dir keine Sorgen? Dein Verlobter kommt nicht nach Hause und du bleibst, ruhig? Das –"
„Carolin, ich mache mir furchtbare Sorgen! Ok? Ich habe wirklich Panik, aber du machst es nicht besser. Hör endlich auf, hin und her zu rennen. Setz dich zu mir." Sie zog an meiner Hand.
„Ich will nicht auch noch ihn verlieren. Ich will niemanden mehr verlieren." Ich lehnte meinen Kopf gegen die Schulter meiner besten Freundin.
„Der Tod eines lieben Menschen, ist das Zurückgeben einer Kostbarkeit, welche die Götter uns geliehen haben."
„Es tut mir leid, dass ich dich gerade so angeschrien habe."
„Uns gehen beiden die Nerven auf Grundeis. Wo bleiben jetzt unsere Begleiter?"
„Wir sind schon da, ihr ungeduldigen Weiber."
„Maélys!" Ich sprang auf und fiel der Kriegsnymphe um den Hals. Diese fing an zu Lachen.
„Dann können wir jetzt endlich losgehen." Marlene sprang auf.
„Nein, werdet ihr nicht. Marlon und ich gehen. Ihr bleibt hier. Habt ihr mich verstanden?" Frédéric sah uns streng an. Die Kriegsnymphe verschränkte wütend die Arme.
„Klar, wir bleiben brav hier. Zusammen mit der Babysitter-Crew Claire, Adèle, Susanne, Azura und Jeanne. Merlin, bin ich weit gesunken. Eine Einjährige soll auf mich aufpassen. Marlon wenn Carolin mitkommt, zählt dein Argument nicht mehr, ich wäre schuld, wenn die Zwillinge zu Waisen werden. Wir kommen –"
„Maélys entweder bleibt ihr freiwillig hier oder ich knocke dich aus." Adèle hatte eine Spritze mit einem komischen violetten, dickflüssigen Pampe drinnen. Vermutlich war es irgendein ziemlich starkes Beruhigungsmittel.
„Angeheiratete Familie. Meine Leber verarbeitete jegliche Form von Drogen schneller als deine. Deshalb trinke ich eure Ehemänner unter den Tisch. Du erinnerst dich daran, dass du es ihn an Weihnachten verboten hast?"
„Mein Gedächtnis ist sehr gut. Ich erinnere mich daran. Aber jetzt erzähle ich dir mal ein Geheimnis. Ich bin länger in der Familie. Das hier ist eine Extraanfertigung für vorlaute Kriegsnymphen. Also gib mir einen Anlass und du findest heraus, wie gut die Anfertigung funktioniert." Unwilliges Grummeln war die Antwort. Claire öffnete die Tür ins Schlossinnere.
„Wir dachten Elaina, Patricia Prim, Kira Lorraine und Marianne würden sich freuen, wenn sie mit Susanne, Azura und Arienne spielen können." Frédérics Ehefrau strich ihrer Tochter eine der wenigen dunkelbraunen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ein glückliches Quietschen kam von dem kleinen Mädchen.
„Sie werden sich mit Sicherheit freuen. Moa und Deborah passen auf sie auf." Ich folgte der jungen Frau die Stufen zum Schloss wieder herauf. Zwar ging mir der Gedanke ziemlich gegen Strich, nicht mit zum St. Mungos apparieren zu können, doch die Art wie die Spritze mit dem Beruhigungsmittel herumgefuchtelt wurde, machte mir ehrlich gesagt mehr sorgen. Wenn das Zeug Maélys aufhalten konnte, wollte ich lieber nicht erfahren, wie ich darauf reagieren würde. Auf der obersten Stufe angekommen, drehte ich mich noch einmal zu Marlon und Frédéric um.
„Ihr bringt mir meine Jungs unbeschadet nach Hause, richtig?"
„Sie werden keine weiteren Beulen kriegen, sobald wir da sind. Jetzt geh rein. Auch wenn es dir schwerfällt." Der Freund der französischen Nymphe lächelte mir aufmunternd zu.
„Und ihr beiden geht auch endlich rein." Sein Bruder schob Maélys und Marlene in meine Richtung. Während es bei meiner besten Freundin sehr leicht ging, stemmte sich die andere Frau leicht gegen den jungen Mann, damit es diesem noch schwerer gelang als ohnehin schon.
Durch das Fenster beobachtete ich Marlon und Frédéric dabei, wie sie sich immer weiter vom Schloss entfernten, um die Appariergrenze zu erreichen. Ich seufzte leise. Nur zu gerne wäre ich mitgegangen. Wenn Samuel oder Sirius etwas passieren würde – ich wusste nicht, ob ich so einen Schlag verkraften würde. Ich hatte schon einmal fast meine ganze Familie verloren. Jetzt war ich gerade dabei mir eine Neue aufzubauen, die konnte nicht schon wieder bröckeln.
„Soll ich dir einen Tee kochen?" Claire sah mich mitleidig an.
„Das wäre wirklich nett von dir. Danke, Claire." Die junge Frau tätschelte mir noch kurz die Schulter, bevor sie sich an die anderen im Wohnzimmer wandte.
„Will noch einer von euch einen Tee haben?" Sie sah sich in der Runde um.
„Ich würde noch einen nehmen", meldete sich Marlene.
„Ich mache einfach eine Kanne."
„Soll ich dir helfen?", bot ich an. Frédérics Ehefrau schüttelte den Kopf.
„Ich kriege das schon hin." Maélys beobachtete, wie die junge Frau den Raum verließ. Kaum war sie aus dem Raum heraus, sprang die Kriegsnymphe auf.
„Ab ins St. Mungos. Kommt ihr, Carolin und Marlene?"
„Ihr werdet nicht gehen." Adèle sah uns streng an.
„Glaubst du wirklich, du kannst mich alleine überrumpeln?" Sie sah zu der jungen Frau herausfordernd herüber.
„Deborah?", wandte sich Adèle hilfesuchend an die Gewitternymphe.
„Wir werden doch eh in nächster Zeit sterben. Wenn Maélys meint, heute müsse der Tag sein, werde ich sie nicht davon abhalten."
„Deborah!" Die Empörung in den Augen von der Verwandten der Kriegsnymphe war nicht zu übersehen.
„Zum Glück sind wir zurück, bevor Maélys Adèle überrumpeln konnte." Mein Blick glitt zur Tür. Frédéric und Marlon standen mit ziemlich ernsten Blicken in der Tür. Ich sprang auf.
„Geht es Samuel und Sirius gut? Ist ihnen etwas passiert? Warum sind sie noch nicht zu Hause?"
„Samuel geht es gut."
„Und warum kommt er nicht nach Hause?"
„Setze dich erstmal wieder hin." Ich wurde zu einem der Sessel geschoben. Es wirkte nicht so, als hätten die beiden gute Nachrichten, auch wenn es meinem Großcousin gut ging.
„Was ist denn jetzt los?"
„Es gab einen Todesserangriff."
„Schon wieder das St. Mungos –"
„Nein, nicht im Krankenhaus. Sie müssen nur die Verletzten versorgen."
„Ich gehe ihnen helfen." Ich wollte aufspringen, doch Frédéric hielt mich fest.
„Du bist im Moment nicht am Arbeiten. Aus guten Grund." Ich befreite mich von dem Griff des jungen Mannes.
„Ich werde ihnen helfen gehen. Die Zwillinge kommen auch eine Stunde ohne mich aus. Hier sind genug zum Aufpassen. Wenn Samuel extra länger bleiben muss, können sie offensichtlich jeden Zauberstab gebrauchen." Ich hörte, wie Maélys, Marlon und Frédéric mir folgten.
Im St. Mungos herrschte reges Treiben. Die Eingangshalle war gefüllt mit Verletzten. Heiler rannten zwischen ihnen herum. Schreie waren zu hören. Der metallische Geruch von Blut lag in der Luft.
Noch im Laufen zog ich ein Haargummi aus meiner Hosentasche. Schließlich wollte ich nicht, dass gleich meine Haare in irgendwelchen Wunden herumhingen.
Kurz hinter mir apparierte ein Auror. Er stütze ein junges Mädchen. Sie konnte kaum älter als Elaina sein, doch ihr rechter Unterarm war voller Brandwunden, während ihr Gesicht voller blutender Wunden war. Mehrere Glassplitter steckten in ihrer Wange und auf ihrer Stirn, während ihr Blut über die Wangen liefen.
„Carolin? Bist du nicht im Mutterschutz?" Kingsley, der Auror, sah mich verwirrt an.
„Ich war eigentlich auf der Suche nach Samuel, aber ich werde wohl hier gebraucht. Genauso wie er. Also, Kleines. Zeig mir mal deine Wunden." Ich sah zu dem kleinen Mädchen herüber, welches langsam nickte. Vorsichtig besah ich mir den Unterarm. Nicht wirklich schlimm. Eine Heilsalbe würde reichen. Ich besah mir die Wange des Mädchens.
„Wie alt bist du?"
„Sechs", murmelte sie ziemlich verschüchtert.
„Wie heißt du?"
„Annabelle."
„Kennst du die Prinzessin Belle?" Kopfschütteln war die Antwort. Ich wandte mich an Marlon.
„Ich brauche eine Brandsalbe, etwas zum Desinfizieren und eine Heilsalbe. Mein Büro findest du?"
„Am besten nennst du mir Namen von dem Gewünschten."
„Bringe einfach alles in dem Schrank mit, was du finden kannst." Der Muggel nickte leicht, während er losrannte.
„Frédéric, suche dem nächsten Heiler hier und frage ihn nach den Sachen, die ich von Marlon haben wollte." Ich wurde verwirrt angesehen.
„Warum schickst du, Marlon los –"
„Damit er sich nicht nutzlos fühlt. Vermutlich hat Hippocrates alles ausgeräumt. Falls nicht, werden mir die ganzen Tränke später helfen. Maélys?"
„Ich bin kein Laufbursche."
„Hast du das Taschenmesser dabei, welches wir dir zum Geburtstag geschenkt haben?"
„Klar. Darf ich –"
„Es mir leihen? Ja, darfst du." Ich streckte meine Hand danach aus, während ich mich wieder an die kleine Annabelle wandte.
„Dann erzähle ich dir, das Märchen von der wunderschönen Belle. Also vor langer langer Zeit lebte einmal ein junger Prinz in einem sehr prachtvollen Schloss. Während einer kalten Winternacht erschien eine alte, arme Bettlerin an den Toren seines Palastes und bat um Schutz vor der bitteren Kälte. Als Dank dafür bot sie dem Prinzen eine Rose an. Doch der wirklich oberflächliche Prinz belächelte das Geschenk nur. Rosen hatte er zu Genüge in seinem Schlossgarten. Daher schickte er die alte Frau fort." Während ich dem kleinen Mädchen die Geschichte von Belle erzählte, begann ich die Glasscherben mit Hilfe der Pinzette aus ihrer Wange zu ziehen. Eine nach der anderen landete in einem Taschentuch, welches die Kriegsnymphe hielt. Sie betrachtete neugierig die Scherben, welche ich entfernte.
„Ich gehe mal wieder helfen. Ihr braucht mich offensichtlich nicht mehr." Kingsley drehte sich weg.
„Darf ich –"
„Maélys, heute bist du meine Assistentin. Keine Kämpfe. In Ordnung?"
„Ich wollte eh wissen, wie das Märchen ausgeht." Der Sarkasmus war nicht zu überhören.
„Es ist ein französisches Muggelmärchen. Denk an deine Eltern." Unzufriedenes Grummel war zu hören, doch die Nymphe blieb bei mir. Kingsley schüttelte verwirrt den Kopf, bevor er verschwand. Frédéric kam wieder angelaufen. Er hatte neben den gewünschten Dingen auch meinen Großcousin bei sich.
„Carolin."
„Ich weiß, ich sollte nicht arbeiten. Aber das ist wichtig."
„Du solltest wirklich nicht hier sein. Geh nach Hause zu den Zwillingen und Elaina. Ich übernehme das hier." Ich verdrehte genervt die Augen.
„Sie sind jetzt beinahe neun Monate alt. Ich schaffe das heute." Ich begann damit die Wunden der kleinen Annabelle zu desinfizieren.
„Du weißt, wo der Angriff stattgefunden hat, richtig?"
„Es ist egal. Sämtliche Auroren im Dienst werden da sein. Ich weiß, wer hier alles eingeliefert werden kann. James, Euphemia, Alice, Frank, Fleamont und ja, Sirius kann auch eingeliefert werden. Ich weiß, dass es passieren kann, und bin trotz allem Heilerin geworden. Das ist unser Berufsrisiko. Du brauchst, mich nicht davor beschützen. Ok?" Samuel nickte langsam, doch das schlechte Gewissen war ihm ins Gesicht geschrieben. Irgendetwas stimmte nicht. Irgendjemand von den Leuten, die ich gerade eben aufgezählt hatte, waren hier eingeliefert worden. Ich beendete das Verarzten von Annabelles Arm.
„Frédéric, würdest du Annabelle bitte nach oben in die Cafeteria bringen? Und sorge bitte dafür, dass sie ein Kakao kriegt."
„Klar." Ich sah dabei zu, wie die Sechsjährige mit dem Franzosen in der Menschenmenge verschwand.
„Wer ist es?", fragte ich schließlich meinen Großcousin.
„Es ist niemand direkt eingeliefert worden, allerdings sind bisher alle Auroren, die Wachdienst in der Winkelgasse hatten und hier her kamen nicht mehr am Leben. Niemand konnte mir bisher sagen, ob von ihnen überhaupt jemand überlebt hat. Sie wurden überrannt. Die Kämpfe wüten noch immer und –"
„Sirius, Euphemia und Fleamont gehören zu den Auroren, die dort dienst hatten." Mein Großcousin nickte traurig.
„Solange ihre Leichen nicht eingeliefert wurden, sind sie am Leben. Maélys?"
„Ja, Boss?" Sie versuchte es mit einem frechen Grinsen, doch es wirkte einfach nur angespannt.
„Kannst du ihnen irgendwie helfen, ohne zu sterben?"
„Vertraue mir. Das kriegen wir hin. Wenn du mich von meinem Assistentenjob befreist. Nimm Marlon dafür. Mein Taschenmesser leihe ich dir auch weiter aus." Sie klopfte mir kurz auf die Schulter, bevor sie ebenfalls disapparierte.
Konzentriert verband ich gerade den gebrochenen Arm eines älteren Mannes. Er hatte ebenfalls eine Gehirnerschütterung und mehrere Abschürfungen, die ich allerdings schon lange verarztet hatte.
Ich war gerade dabei zu verhindern, dass sich der Verband wieder abwickeln würde, sobald ich loslassen würde, als ich hörte, wie hinter mir jemand apparierte. Ich klebte noch eben den letzten Klebestreifen auf den Verband, bevor ich mich hastig umdrehte.
Sofort bereute ich es. James starrte mich aus seinen großen, braunen Rehaugen an. Angst, Verzweiflung und Überraschung waren in ihnen zu sehen, doch mit Sicherheit nicht auf Grund seines eigenen Zustands. Er stützte Sirius. Obwohl eigentlich trug er ihn schon.
Mein Ehemann hing schlaff an seiner Seite. Aus einer Kopfwunde tropfte Blut, was auf seinem bleichen Gesicht nur noch mehr ins Auge stach. Sein Brustkorb hob und senkte sich nur leicht, so dass ich mir im ersten Moment gar nicht sicher war, dass dieser es überhaupt tat. Der Umhang des Aurors war total zerfetzt und durchlöchert. Das linke Bein hatte einen ziemlich ungewöhnlichen Winkel angenommen.
Ich merkte kaum, wie Marlon mir vorsichtig eine Hand auf die Schulter legte und darüber strich. Fabian kam angerannt. Er nahm James seinen Bruder ab und sagte irgendetwas zu Marlon. Ich wurde vorsichtig von Sirius weggeschoben, weshalb ich mich aus meiner Schockstarre löste. Ich wollte zu meinem Ehemann rennen, doch Maélys Freund hob mich einfach hoch und trug mich weg.
„Nein, ich muss zu ihm. Lass mich runter. Bitte, ich muss zu ihm!" Mein Zappeln und Treten brachte rein gar nichts. Der Muggel trug mich weitgenug weg, damit ich meinen Ehemann nicht mehr sehen konnte.
„Carolin, du musst dich beruhigen."
„Ich will zu ihm."
„Du kannst ihm jetzt nicht helfen. Ok? Du kannst dich jetzt nur beruhigen und dann anderen helfen, damit Fabian sich nicht um mehrere Verletzte gleichzeitig kümmern muss." Ich nickte leicht. Ich wusste selber, dass ich Sirius nicht behandeln sollte. Dafür war ich viel zu aufgewühlt. Die Gefahr, dass ich irgendwelche Fehler machen würde, war viel zu hoch.
„Fabian sagt, er kriegt ihn wieder hin." Ich drehte mich zu James um, welcher Marlon und mir gefolgt war. Tränen standen in seinen Augen. Ich löste mich von dem Muggel. Stattdessen fiel ich meinem Schwager um den Hals. Dieser verzog leicht das Gesicht.
„Hast du Schmerzen?"
„Mein Arm. Das wird wieder. Mach dir keine Sorgen."
„Zeig her." Ich untersuchte kurz James Arm.
„Der ist ausgekugelt. Das könnte gleich ein wenig wehtun. Ich kann dir einen Trank –"
„Kugel ihn einfach wieder ein. Ich glaube, andere haben die Tränke nötiger als ich." Diese Entscheidung würde mein Schwager mit Sicherheit gleich bereuen. Ich schwang meinen Zauberstab, weshalb der Arm sich von alleine wieder einkugelte. Mein Schwager verzog das Gesicht. Mehrere Tränen flossen über seine Wange und ein leises Wimmern war zu hören.
„Fertig."
„Danke, Carolin. Ich werde wieder in die Winkelgasse apparieren. Die Todesser haben wir zwar verjagt, aber wir müssen noch die Verletzten bergen." Ich wusste genau, dass James mit Verletzten auch die Toten meinte. Doch keiner von uns wollte diese Tatsache wirklich aussprechen. Die Verletzten hörte sich doch viel besser an, als auch von den Toten zu reden.
„James, weißt du etwas über Alice, Frank oder deine Eltern?"
„Alice und Frank sind wohl auf." Seine Stimme brach ab. Eine weitere Träne floss über sein Gesicht, die er hastig wegwischte, bevor er weiterredete.
„Meine Eltern hat niemand gesehen." Seine Stimme war so leise, dass man ihn kaum verstand, doch es reichte aus, damit sich mein Hals erneut zuschnürte.
Erschöpft lehnte ich mich an die Wand. Wir hatten es überstanden. Man merkte, dass der Betrieb im St. Mungos sich verändert hatte. Zwar war die Eingangshalle noch immer sehr voll, doch nun auf eine andere Weise. Sie war nicht mehr mit Verletzten gefüllt, sondern mit Angehörigen, die hofften hier ihre Liebsten zu finden.
Die kleine Annabelle wurde gerade von ihrem Vater abgeholt. Der alte Mann mit dem gebrochenen Arm schloss seine Ehefrau in seine Arme. Trotzdem kamen immer wieder Auroren, die Leichen oder Verletzte hier her brachten, doch man merkte, dass es wesentlich weniger geworden waren.
„Sollen wir mal gucken, wo Sirius ist?" Marlon versuchte, mir aufmunternd zu zulächeln. Allerdings wirkte sein Lächeln viel zu angespannt, als das es mich wirklich aufmuntern würde. Mein Ehemann war mittlerweile auf eine Station gekommen. Zwar wusste ich nicht genau welche, doch ich konnte es mir denken. Schließlich wusste ich, nach welchen Kriterien, die Leute hier verteilt wurden. Fabian hatte mich kurz über seinen Gesundheitszustand informiert, also sollte ich ihn problemlos finden. Trotzdem schüttelte ich leicht den Kopf.
„Ich will vorher kurz mit Samuel reden." Der Muggel an meiner Seite nickte leicht.
„Dann suchen wir ihn erstmal." Zusammen schoben wir uns durch die gefüllte Eingangshalle. Ich hielt nach Samuel Ausschau, der hier noch irgendwo herumlief. Ich hoffte, dass er mit zu Sirius hochkommen würde, damit ich es nicht alleine überstehen musste. Natürlich wäre ich nicht ganz alleine. Marlon wäre da. Doch wenn ich meinen schwerverletzten Ehemann besuchen würde, wollte ich gerne meinen Großcousin an meiner Seite wissen. Einfach um meine Stütze da zu haben, die dort schon mein Leben lang stand.
Es dauerte nicht lange, da entdeckte ich ihn zusammen mit James in einer Ecke stehen. Mein Schwager machte gerade Anstalten zu gehen, was nach der Körpersprache der beiden Männer zu urteilen auf Drängen von Samuel geschah. Neugierig ging ich näher an die beiden heran.
„Samuel? Jam–" Mir blieb der zweite Name im Hals stecken, als ich bemerkte, warum die beiden in der Ecke standen. Euphemia und Fleamont lagen leblos auf zwei Tragen. Der aufgewühlte James hatte sich wütend vor den zwei Heilern aufgebaut, welche die beiden Auroren vermutlich in die Leichenhalle bringen wollten.
Mein Hals fühlte sich wie zugeschnürt an. Meine Beine zitterten und Tränen liefen mir unaufhörlich über die Wange, während mir immer wieder die gleichen Gedanken durch den Kopf gingen. Meine Schwiegereltern waren tot. Die Schwiegereltern, mit denen wir uns jedes Wochenende zum Essen getroffen haben. Diejenigen, die stolz von ihren Zwillingsenkeln überall berichtet haben. Die beiden Personen, die Sirius bei sich aufgenommen haben, als er keine Ahnung hatte, wohin er gehen sollte. Sie waren tot. Einfach aus dem Leben gerissen. Aus meinem Leben gerissen. Es war fast so, als hätte ich ein zweites Mal meine Eltern verloren.
„Ist schon gut, Carolin. Ist schon gut." Samuel hatte mich fest in seine Arme gezogen, während mir unaufhörlich weiter Tränen über die Wangen liefen.
„Ich will zu Sirius. Gehen wir zu ihm?"
„Machen wir. James." Mein Großcousin packte meinen Schwager am Arm und zog ihn von seinen Eltern weg, damit die Heiler sie endlich in die Leichenhalle bringen konnten.
„Du solltest dich bei Lily melden, James. Sie macht sich sicherlich sorgen."
„Mach ich später."
„Ich bringe euch beiden erstmal nach oben, dann gehe ich bei uns zu Hause Bescheid sagen, was los ist, und ich gehe Lily und Harry holen."
„Danke." Ich lehnte erschöpft meinen Kopf gegen die Schulter meines Großcousins. James hingegen reagierte gar nicht.
„Carolin?" Ich wurde leicht an der Schulter geschüttelt. Artemis, warum konnte man mich nicht in Ruhe lassen? Ich war doch gerade eben erst eingeschlafen. Ich merkte, wie mir jemand eine Decke über die Schultern legte. Das war doch schon wesentlich eher nach meinem Willen. Glücklich kuschelte ich mich an den Stoff, während neben mir jemand kramte. Eine Geräuschkulisse, die ich gerne ignorierte.
Schließlich hörte man Schritte, dann wurde es kurz still, bevor wieder Schritte zu hören waren. Na gut. Jetzt war ich doch ziemlich neugierig, wer hier herumlief.
Erschöpft machte ich doch mal ein Auge auf. Mein Blick glitt durch den Raum. Er war noch hell erleuchtet, doch nicht mehr durch das Sonnenlicht, wie als ich eingeschlafen war, sondern weil die Lampen angeschaltet worden waren. Doch was viel interessanter war, war der junge Mann, der neben dem Nachtisch stand und gerade eine Tasse Tee abstellte.
„Remus, was machst du denn hier?"
„Ich wollte gucken, wie es Sirius geht. Ich hätte allerdings nicht gedacht, dich hier noch anzutreffen. Schließlich haben wir schon neun Uhr abends. Also eher die Zeit, wo ich dich zu Hause bei deiner Familie erwartet hätte. Gerade heute am ersten Weihnachtstag." Ehrlich gesagt, war meine Lust Weihnachten zu feiern ziemlich verflogen. Das erste mal mit meinen und Sirius Kindern hatte ich mir ziemlich anders vorgestellt. Mit Euphemias, Fleamont und vor allem Sirius Anwesenheit.
„Die Zwillinge halten mich die halbe Nacht wach. Sie vermissen ihren Daddy. Eigentlich wollte ich nur eine halbe Stunde bei ihm bleiben, allerdings bin ich wohl eingeschlafen. Wahrscheinlich macht sich Samuel schon Sorgen."
„Er war hier." Remus griff nach einem Zettel, welcher auf dem Nachtisch lag. Mein Großcousin hatte eine kurze Notiz drauf geschrieben, dass er mich nicht hatte wecken wollen und dass er später noch einmal nach Sirius und mir gucken kommen würde.
„Ich habe dir eine Tasse Tee geholt. Ich dachte, den brauchst du vielleicht." Mir wurde die Tasse hingehalten, die Remus auf den Tisch gestellt hatte, als ich aufgewacht war.
„Das ist wirklich nett von dir. Danke." Ich nahm zwei Schlucke von dem warmen Getränk, bevor ich mich wieder an den Werwolf wandte.
„Du warst nicht auf der Beerdigung." Meine Gedanken glitten wieder zu Euphemias und Fleamonts Bestattung, die gerade einmal zwei Tage her war.
„Ich weiß. Tut mir leid. Ich kam wirklich nicht von meiner Arbeit weg. Das war alles ziemlich kurzfristig."
„James wollte es einfach nur möglichst schnell hinter sich bringen. Kein Wunder nach dem, was passiert ist. Nur Sirius wird mit Sicherheit sehr enttäuscht sein, wenn er aufwacht."
„Haben schon die Heiler gesagt, wann man damit rechnen kann. Schließlich ist er schon vier Tage hier."
„Lange dauern soll es nicht mehr. Sie vermuten morgen." Mir wurde über die Schulter gestrichen.
„Dann hast du ihn bald wieder." Ich nickte leicht. Bald würde ich meinen Ehemann hoffentlich wieder haben. Die Tür zu dem Krankenzimmer wurde aufgerissen. Vor Schreck ließ ich fast meine Tasse Tee fallen. Remus war aufgesprungen, weshalb sein Stuhl klappernd zu Boden gefallen war. Im Türrahmen stand Marlene. Hektisch glitt ihr Blick von Remus zu mir, bevor sie rein gestürmt kam, dabei die Tür ins Schloss knallen ließ und mich anstrahlte, als müsste ich nun wissen, was los war.
„Sind Euphemia und Fleamont von den Toten auferstanden?" Marlenes gute Laune schien verflogen zu sein. Jedenfalls wich die Fröhlichkeit aus ihrem Blick und ich wurde strafend angesehen.
„Nein, du Dummerchen. Deborah hat ihr Kind gekriegt. Die Eule kam eben bei uns hereingeflattert." Die Gewitternymphe und ihr Freund waren über die Feiertage zu Michaels Familie nach Australien gereist. Die beiden hatten nach langem Hin und Her doch beschlossen, die Feiertage trotz des Risikos dort verbringen zu wollen.
„Das freut mich für die beiden." Mein Blick glitt zu Sirius. Hoffentlich würden wir beide auch noch öfter ähnliche Nachrichten verkünden können.
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