Kapitel 35
Marlon ließ mit einer kurzen Bewegung des Handgelenks das Messer wieder zuklappen. Ares, ein Butterflymesser wollte ich auch haben. Doch dieses Thema würde ich nicht ansprechen, solange der fremde Mann noch in dem Sessel saß und ganz in Ruhe seine Zeitung zusammenfaltete. Er lächelte mich freundlich.
„Und du musst Rona sein. Carolins und Sirius verschollene Tochter. Freut mich, dich kennenzulernen." Ich verschränkte die Arme. Offensichtlich freute es meinem Babysitter nicht so sehr wie dieser Frédéric, dass er nun hier war und dieses Kennenlernen stattfinden konnte. Marlon hatte sich bisher bei meinen Entscheidungen hinter mich gestellt, dann würde ich ihm jetzt sicherlich nicht einfach in den Rücken fallen.
Anders als Bärchen. Der kleine Hund war mittlerweile in die Wohnung gelaufen. Nun saß er vor Frédéric und ließ sich friedlich von ihm kraulen.
„Frédéric, was willst du hier?"
„Nach meinem Bruder sehen, der sich seit einem halben Jahr nicht gemeldet hat? Ich dachte, du würdest dich ein wenig mehr freuen, wenn ich vorbeikomme. Wenigstens genug, um hallo zu sagen."
„Nein, ich freue mich nicht, dass du bei uns in die Ferienwohnung eingebrochen bist." Der fremde Mann seufzte leise. Offensichtlich hatte er gehofft, Marlon würde ihn etwas wärmer hier empfangen.
„Welpe, würdest du vielleicht Pizza zum Abendessen holen? Ich kümmere mich hier rum." Mir wurde ein Geldschein hingehalten. Etwas widerwillig griff ich danach. Eigentlich würde ich jetzt sehr gerne hierbleiben, um das Ende dieses Gesprächs mitzukriegen.
Mit drei Pizzaschachteln und einem Sixpack Bier kam ich wieder zurück zur Ferienwohnung. Vorsichtig lauschte ich an der Tür. Drinnen war es ziemlich ruhig. Die beiden Männer schrien sich demnach nicht gegenseitig an. Das war schon mal gut, ansonsten hätte ich vorsichtig zwei der Pizzen in den Raum geschoben und wäre stiften gegangen.
Ich hatte keine Lust, bei einem Streit Zeuge zu sein. Das hatte ich schon oft genug miterlebt. Zugegebenermaßen, es war immer mal wieder sehr amüsant, wenn eine meiner Pflegemütter in einem Streit Teller nach dem entsprechenden Pflegevater warf.
Wenn nun zwei aus der Kriegsnymphenfamilie sich stritten, ob dann auch irgendwelche Dinge geworfen wurden? Doch auch wenn es mich wirklich interessieren würde, war ich froh, dass ich es heute nicht mehr erfahren würde. Außer ich fand gleich eine Leiche darin.
Eigentlich wäre ich sehr froh darüber, wenn ich mich gleich mit Marlon auf das Sofa kuscheln konnte. Der Tag war ziemlich aufwühlend und anstrengend gewesen. Ich wollte jetzt wirklich keinen Streit mehr miterleben.
Mit Hilfe meiner Magie öffnete ich die Tür. Neugierig musterte ich die Situation drinnen. Marlon saß auf dem Sofa. Er hatte seine Beine angezogen. Die Ellbogen hatte er auf den Knien abgestützt. Die linke Hand war in seinen Haaren vergraben. Der Mann sah so fertig aus, wie ich mich fühlte. Neben ihm saß Frédéric. Er hatte einen Arm tröstend um die Schultern meines Babysitters gelegt. Das sah doch wirklich friedlich aus.
„Pizzalieferservice! Und Bier habe ich auch." Ich wurde von Frédéric geschockt angestarrt.
„Bei den zwölf Göttern, wie bist du an Bier gekommen?"
„Ich habe gesagt, ich wäre achtzehn und habe einen gefälschten Ausweis auf den Tresen gelegt." Ich wurde mit schiefgelegtem Kopf angesehen.
„Und dann hat man dir Bier verkauft?" Misstrauen machte sich in dem Blick breit.
„Ein bisschen Magie war auch im Spiel. Ich habe mich so verzaubert, dass ich wie eine erwachsene Person aussehe." Ich stellte die drei Pizzakartons und das Sixpack auf den Sofatisch ab. Marlon löste währenddessen seine Hand aus seinen Haaren. Stattdessen streckte er sie nach mir aus.
„Bist du ein Metamorphmagus? Dein Zwilling ist keiner." Unser Besucher musterte mich mittlerweile, um irgendetwas zu finden, was seine These bestätigte. Auch wenn ich nicht wusste, wie er es jetzt gerade sehen wollte. Solange ein Metamorphmagus seine Kräfte nicht einsetzte, würde wohl kaum jemand erkennen, dass er einer war. Allerdings war ich keiner.
„Nein, es gibt Zauber, mit denen man das Aussehen von Personen ändern kann. Ares hat mir beigebracht, wie ich sie auf mich selber anwende." Ich kuschelte mich an Marlon. Er drückte mir einen Kuss auf die Stirn.
„Und als braver Welpe, hast du dieses Wissen genutzt, um uns Bier mitzubringen."
„Und ihr beide habt euch vertragen?" Ich sah vorsichtig zwischen meinem Babysitter und dessen Bruder hin und her. Mit meiner Frage schien ich gerade nicht in ein Wespennest hineingestochen zu haben. Das war doch schon einmal ein gutes Zeichen.
„Zwischen uns beiden ist wieder alles gut. Frédéric bleibt noch ein oder zwei Tage bei uns, wenn es für dich in Ordnung ist. Er will uns davon überzeugen mit ihm zurück nach Frankreich zu fahren."
„Mum und Dad würde es sehr freuen, wenn du nach Hause kommst. Und deine Nichten vermissen dich auch schrecklich, Marlon." Ich sah neugierig zu dem Angesprochenen, welcher eindeutig über das Thema Eltern und Nichte hinweggehen wollte. Lieber öffnete er die Pizzaschachteln, um nach seinem Abendessen zu suchen.
„Du hast Nichten?"
„Zwei. In deinem Alter. Du würdest sie wahrscheinlich mögen. Irgendwann stelle ich sie dir mal vor. Jetzt iss deine Pizza."
„Du könntest sie ihr einfach morgen vorstellen."
„Frédéric, ich habe gesagt, dass ich darüber nachdenken werde. Jetzt nerve mich nicht. Iss lieber deine Pizza und trink ein Bier." Dem Besucher wurde beides hingeschoben. Mir wurde die Flasche hingehalten.
„Willst du probieren?" Ich griff nach der Flasche. Probieren würde mir mit Sicherheit nicht schaden.
„Marlon, sie ist dreizehn Jahre alt. In fünf Jahren darf sie Bier trinken."
„Alkohol schadet ihr doch nicht." Ich sah amüsiert zwischen den beiden hin und her. Menschen, die einen erziehen wollten, waren manchmal wirklich lustig.
Müde rieb ich mir über die Augen. Ich lag nicht mehr auf dem Sofa, auf dem ich eingeschlafen war, sondern in dem großen, gemütlichen Doppelbett im Schlafzimmer der Ferienwohnung. Marlon, welcher eigentlich immer bei mir schlief, war noch nicht hier. Dafür hörte ich ihn im Nachbarraum wieder mit Frédéric streiten.
„Marlon, bitte, das kann doch nicht dein Ernst sein?"
„Natürlich ist das mein Ernst. Was spricht dagegen?"
„Was dagegen spricht? Patricia oder Rona oder wie sie auch immer gerade genannt werden will, muss zur Schule. Mir ist es vollkommen egal, ob es Hogwarts, Ilvermony oder eine andere Zaubererschule ist. Gerne auch Privatunterricht. Doch eines steht fest. Sie muss etwas lernen. Bei den zwölf Göttern, Marlon, du willst doch nicht ernsthaft, dass sie wie du am Ende kein Schulabschluss hat. Ich weiß, du kommst supergut klar. Ich weiß auch, es ist nicht deine Schuld, aber tue ihr den Gefallen, tritt ihr in den Arsch und sorge dafür, dass sie ihre ZAG und UTZ macht. Wenn sie sich dann dafür entscheidet, sie will so leben wie wir, mit dir eine Bar betreiben oder sonst etwas, dann hat sie die Wahl wenigstens nicht getroffen, weil sie ihren eigentlichen Traumberuf ohne Schulabschluss nicht ausüben kann."
„Frédéric, ich behalte den Welpen bei mir. Sie fühlt sich bei mir sehr wohl. Ich weiß, du meinst das gerade gut und ich will mich echt nicht schon wieder mit dir streiten, aber ich werde sie nicht zurück nach Hogwarts bringen. Das mache ich nur, wenn sie mich darum bittet."
„Ihre Familie macht sich schreckliche Sorgen. Du hättest wenigstens irgendjemand Bescheid sagen können, als du sie gefunden hast."
„Ich habe euch Bescheid gesagt."
„Nein, du hast uns Bescheid gesagt, nachdem du bemerkt hast, du brauchst den verdammten Zaubertrank von uns. Ist dir mal in den Kopf gekommen, was hätte sein können, wenn sie nicht alleine in dem Haus gewesen wäre?"
„Sirius ist unschuldig. Das habe ich euch schon so oft gesagt! Wenn du jetzt diese Debatte wieder anfangen willst, gehe ich sofort ins Bett."
„Die Straße hat sich nicht selbst in die Luft gesprengt. Wir glauben dir ja, dass Sirius unschuldig ist. Es macht auch kein Sinn, dass er schuldig ist. Aber irgendein Mörder läuft dort draußen rum, der Nymphen umbringen will. Der deinen heißgeliebten Welpen umbringen will. Wir wollen sie nur beschützen. Wir sind nicht der Feind, Marlon."
„Das weiß ich."
„Dann höre auf, uns so zu behandeln, als wären wir die Bösen. Wir vermissen dich fruchtbar. Mama hat an Weihnachten heulend unterm Baum gesessen, weil du nicht da warst. Bei der Sache mit Maélys wollten wir nur verhindern, dass sie du dich irgendwann umbringst, und Rona ist nun einmal Carolins Tochter. Sie gehört daher auch zu Carolins Familie."
„Sie ist aber nicht Carolins Nachfolgerin, sondern Maélys. Sie will nicht zu Samuel, Jean und Remus ins Haus ziehen, um dort ein auf heile Welt zu machen. So gerne sie das auch hätten. Patricia ist nun einmal nicht wie Kira."
„Das verlangt ja auch keiner. Wir wollten ihnen erstmal die Chance geben, die Kleine kennenzulernen. Außerdem wie hätte Patricia es wohl aufgenommen, wenn erst ihre leibliche Familie auftaucht und sie plötzlich dort Tochter sein soll und dann noch wir um die Ecke kommen, um sie ebenfalls von der Stelle weg zu adoptieren?" Im Nachbarraum hörte man ein lautes, langes Seufzen.
„Ich bin ein Esel."
„Das wusste ich von der ersten Sekunde an."
„Ich geh jetzt ins Bett."
„Dann schlage ich mal mein Lager auf dem Sofa auf. Schlaf gut, Bruderherz."
„Frédéric?"
„Hm?"
„Wenn du wieder in Frankreich bist, sag maman, dass ich sie sehr lieb habe."
„Sag es ihr bitte selber."
„Ich denke darüber nach." Die Tür zu dem Schlafzimmer wurde geöffnet. Marlon kam zu dem großen Doppelbett, indem ich mich zusammengerollt hatte. Er schien sich große Mühe geben zu wollen, mich nicht zu wecken. Auch wenn er es sich sparen konnte, schließlich war ich schon wach.
„Marlon?", murmelte ich leise.
„Du bist wach?"
„Ich habe auch einen Teil von eurem Streit mitgehört." Ein leises Seufzen war zu hören, dann senkte sich die Matratze neben mir.
„Du brauchst dir keine Sorgen wegen mir zu machen." Marlon legte sich neben mich ins Bett. Ich kuschelte mich an den Mann.
„Warum warst du zu Weihnachten nicht bei deiner Familie?"
„Es ist kompliziert." Ich merkte, wie ich noch näher an den Mann gezogen wurde. Mir wurde liebvoll über die Haare gestrichen.
„Darf ich etwas ziemlich Freches sagen, ohne dass du mich dann beim nächsten Kinderheim aussetzt?" Ein leises Lachen war zu hören.
„Wenn ich es nicht aushalten würde, mal ein paar ziemlich dreiste Fragen gestellt zu bekommen, hätte ich dich schon längst ausgesetzt."
„Kann es sein, dass du deine Familie deshalb nicht bei dir haben willst, weil du Angst hast, sie könnten dich wie Maélys verlassen?" Es wurde ganz still im Raum.
Ich wartete ungeduldig auf die Antwort. Doch drängeln wollte ich auf gar keinen Fall. Er hatte mir immer die Zeit gelassen, die ich gebraucht hatte, um ihm die Antwort zu geben, die er haben wollte. Das Gleiche würde ich nun auch tun. Auch wenn es mir ziemlich schwerfiel.
„Ja, ein wenig Angst habe ich auch. Es war ja nicht nur Maélys. Nachdem schon wieder unsere Kriegsnymphe nicht die wurde, die es eigentlich werden sollte, gab es ziemliche Aufregung. Dein Vater hat behauptet, er habe nicht die Morde begangen und Tasha und du würdet leben. Also kam der Verdacht auf, du wärst auf Grund des Blutzaubers die neue Nymphe. Was du auch bist. Also ging die Suche los, und zwar in noch nicht ausgeräucherten Todessernestern. Wir haben einen ganzen Zaubererkrieg überstanden, ohne auch nur einen Verlust zu haben. Dann stirbt Maélys und in der Woche darauf noch fünf weitere von uns."
„Gibst du dir die Schuld daran?"
„Wir hätten doch erkennen müssen, dass es ein Verräter gibt. Und vor allem wer es ist." Mein Babysitter fing an, sich die Haare zu raufen. Ich schluckte schwer. Das Gefühl, nicht genug getan zu haben, kannte ich.
„Marlon, kann es sein, du willst dich selber dafür bestrafen, was passiert ist?"
„Sicher, dass du nicht die Kleine von Athene bist?"
„Sehr sicher. Ich habe nur gelernt, andere Menschen zu durchschauen.
„Nur dich selber nicht und Menschen, die dich lieb haben, aber dafür hast du schließlich mich." Mir wurde ein Kuss auf die Stirn gedrückt, bevor Marlon weitersprach.
„Versuche, wieder einzuschlafen. Schließlich bist du uns schon auf dem Sofa eingenickt."
„Ich finde, du solltest dich bei deiner Mama melden. Sie scheint dich sehr zu vermissen."
„Dich vermissen auch ein paar Menschen. Denen solltest du mal ein Lebenszeichen zu schicken."
„Jay Jay kommt damit klar, wenn ich einfach so vom Erdboden verschwinde. Er hat doch schon lange damit gerechnet."
„Und die anderen?"
„Welche anderen?"
„Adina, die kleine Wassernymphe. Sie hat furchtbare Angst um dich und traut sich nach meinen Informationen nicht mehr aus dem Schloss heraus. Nymphedora, die sich noch immer furchtbare Vorwürfe macht, weil sie dir nicht zugehört hat. Dein Jay Jay hast du in einen Gewissenskonflikt gestürzt. Er weiß nicht, ob er alles erzählen soll, was er weiß, um dich wieder in Sicherheit zu wissen, oder dir Treue halten soll. Bisher hat er sich für die Treue entschieden. Und deine leibliche Familie glaubt, sie hat dich ein zweites Mal verloren. Remus versucht noch immer, denjenigen ausfindig zu machen, wer dich verraten hat. Sag ihnen, du bist in Sicherheit." Der Briefeschreiber? Das würde ich wohl irgendwann noch gestehen müssen. Doch nicht mehr heute. Jetzt wollte ich lieber schlafen.
Marlon saß am Küchentisch. Er hatte ein paar leere Blätter vor sich, auf denen er einen Brief an seine Familie schreiben wollte. Ich saß ihm gegenüber und beobachtete ihn dabei. Eigentlich hatte ich vorgehabt, Sirius zu schreiben. Na ja, den ersten Entwurf eines Briefes fertig zu machen, welcher vor lauter Rechtschreibfehler kaum lesbar war.
Durch mein fotografisches Gedächtnis lernte ich schnell, doch solange ich ein Wort nicht mindestens einmal richtig geschrieben gesehen habe, half es mir nicht weiter. Es war reines Auswendiglernen von Worten. Regeln für die grammatikalische Anpassung kannte ich mittlerweile auch, doch zu oft gab es Ausnahmen von ihnen. Wenn aus sehen plötzlich sah wurde, kam wieder das reine Auswendiglernen der Rechtschreibung ins Spiel.
„Welpe, sag mir, was dich gerade bedrückt." Ich spielte unsicher mit meinen Fingern, während ich mir gleichzeitig auf der Unterlippe herum biss.
„Marlon, du hast mir gestern erzählt, Professor Lupin würde noch immer die Person suchen, die meine wahre Identität verraten hat."
„Ja, das tut er, warum?" Nervös fing ich an, auf dem Papier herumzukritzeln.
„Ich weiß, wer mich verraten hat." Mein Babysitter musterte mich neugierig.
„Und wer war es?" Ich schluckte schwer.
„Ich?" Ich starrte auf mein Blatt, um nicht die Reaktion auf mein Geständnis sehen zu müssen. Ich hörte, wie Marlon seinen Stuhl zurück schob, bevor er zu mir herüberkam.
„Welpe, sie mich an." Er legte seine Finger an mein Kinn. Vorsichtig wurde mein Kopf angehoben, sodass ich ihm nun doch ins Gesicht sah.
„Du bist jetzt bestimmt sehr wütend auf mich."
„Nein, bin ich nicht. Ich will nur wissen, warum du es gemacht hast."
„Ich habe Panik gekriegt. Lupin wollte, dass wir den Patronus-Zauber üben, und ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich habe nicht mitgemacht, aber er wollte unbedingt, dass ich es ausprobiere. Er hat geahnt, warum ich es nicht machen will. Ich bin mir sicher, er hat es geahnt. Da bin ich richtig in Panik geraten, weil ich nicht wollte, dass irgendjemand es weiß. Also habe ich Ares den Brief schreiben lassen und ihn dann abgeschickt." Ich fing an zu schluchzen.
„Ich wollte niemanden unglücklich machen. Ich wollte nur noch weg. Am nächsten Tag habe ich es sofort bereut." Marlon zog mich in seine Arme.
„Schon gut, kleiner Welpe. Ist schon gut. Sieh es doch einmal positiv. Ansonsten hättest du mich nicht kennengelernt. Wer will nicht den Typen kennenlernen, der mit einer Dreizehnjährigen nach Belize auswandern will, um eine Bar zu eröffnen? Ich bin wirklich verantwortungslos." Ich wischte mir meine Tränen aus dem Gesicht.
„Ich mag verantwortungslose Menschen." Mir wurde ein Kuss auf die Wange gedrückt.
„Ich mag kleine Welpen, die aus Angst falsche Kurzschlussreaktionen nachgehen. Jetzt schreib deinen Brief an Sirius zu Ende, bevor Frédéric von seinem Gespräch mit deiner leiblichen Familie beendet hat und zurückkommt. Er zweifelt an Sirius Schuld, aber ich glaube, wenn wir ihm jetzt erklären, dass ich wissentlich zu einem vermeintlichen Mörder gegangen bin, um eine todkranke Kriegsnymphe einzusammeln, könnte hier wieder schlechte Laune und Streit entstehen. Er erfährt es, wenn sich das alles wieder ein bisschen beruhigt hat." Ich wandte mich wieder meinem Blatt Papier zu. Anders als Marlon, der sich einen Stuhl heranzog. Stattdessen legte er mir einen Arm um die Schulter, während er dabei zusah, wie ich den Brief an Sirius fortsetzte.
Es klopfte an der Tür. Mein Blick glitt zu Marlon. Wer bei den zwölf Göttern klopfte an? Frédéric war beim letzten Mal hier einfach eingebrochen. Jetzt würde er sich wahrscheinlich wieder einfach Zutritt zu diesen Räumen verschaffen und mit Sicherheit nicht anklopfen. Oder war irgendetwas passiert? Hatte uns irgendjemand gefunden?
Der Bruder meines Babysitters war schon ziemlich lange weg. Vor allem, weil er gemeint hatte, dass er nur eben meiner leiblichen Familie Bescheid gibt, ich wäre in Sicherheit und dann wiederkommt. Das war jetzt schon vier Stunden her. Vorsichtig zog ich mein Messer heraus. Auch Marlon hatte seines wieder mit einer eleganten Bewegung aufgeklappt. Ares, ich will auch ein Butterflymesser.
Wir schlichen vorsichtig in Richtung Tür. Marlon stellte sich so hin, dass er dem Besucher im Notfall sofort mit seinem Messer niederstechen oder schlagen konnte. Ich machte mich bereit die Tür zu öffnen. Ich sah fragend zu dem Mann, welcher mir zunickte. Vorsichtig öffnete ich die Tür. Mein Babysitter machte sich bereit mit dem Messer anzugreifen.
„Was braucht ihr denn so lange? Ich habe uns noch Essen gekauft. Das wird hier draußen noch ganz kalt", hörte man Frédéric. Ich sah zu, wie Marlon sein Messer mit einer eleganten Handbewegung wieder zuklappte. Ich kam ebenfalls hinter der Tür vor, welche mir als Schutzschild gedient hatte.
„Ich kaufe Essen und ihr dankt es mir, indem ihr darüber nachdenkt mich mit euren Messern in Scheiben zu schneiden. Andere Menschen wären jetzt sehr sauer." Der Franzose schüttelte belustigt den Kopf.
„Was gibt es denn zu essen?" Mein Magen knurrte schon seit einer halben Stunde, doch Marlon und ich hatten eigentlich noch ein wenig auf Frédéric warten wollen, bevor wir ohne ihn Essen gingen.
„Fish and Chips. Ihr Engländer esst das doch so gerne."
„Und du futterst für dein Leben gerne Schnecken, nicht wahr Bruder?" Marlon verdrehte demonstrativ die Augen. Doch ehrlich gesagt, freute ich mich ziemlich über die Auswahl des Franzosen. Ich mochte das Gericht tatsächlich sehr gerne. Auch wenn es mit Sicherheit nicht an meinen englischen Genen lag.
„Welpe, scheint sich sehr zu freuen. Sie schaut mit großen, hungrigen Augen auf das Essen. Wir sollten sie schnell füttern." Mir wurde zugezwinkert, während ich glücklich nickte. Das ich Essen bekam, hörte sich sehr gut an.
„Der kleine Welpe zählt nicht. Sie isst alles, was man ihr vorsetzt."
„Schmeckt alles besser als im Waisenhaus." Und besser als auf der Straße. Zuverlässiger kam es auch. Ich wusste nicht, was ich bei dem Essen hier zu bemängeln hätte. Vielleicht die wenigen Vitamine, die mit dem Aktuellen verbunden waren? Ich meine, das Salatblatt auf dem Burger war das Gesündeste gewesen.
„Ich hätte gedacht, nach Hogwarts und den Cunninghams haben sich deine Geschmacksnerven von diesem Leben erholt. Oder haben dich die Cunninghams nicht gut versorgt? Müssen wir ein ernstes Wort mit ihnen Reden?" Mit den Cunninghams sollte man wegen vieler Dinge reden. Zum Beispiel weil sie mit PIRA Geschäfte machten. Doch versorgt hatten sie mich bis zu meinem Weggehen sehr gut.
„Sie haben mir sehr leckeres Essen serviert." Das Essen wurde auf den Esstisch gelegt. Ich setzte mich wieder auf meinen Platz, bevor ich eine Tüte mit Fish and Chips an mich heranzog, um zu essen.
„Warum warst du eigentlich solange weg, Frédéric?" Kaum hatte Marlon seine Frage gestellt, schob er sich weitere Pommes in den Mund. Nicht nur ich schien richtig Hunger zu haben. Auch mein Babysitter wirkte halb ausgehungert.
„Das Gespräch hat länger gedauert als gedacht."
„Was war denn los?"
„Nichts. Hat einfach länger gedauert." Die Alarmglocken in meinem Kopf schlugen an. Das war eine Lüge. Irgendetwas war bei meiner leiblichen Familie vorgefallen, was Frédéric nicht erzählen wollte. Automatisch machte sich wieder das tiefe Misstrauen in mir breit.
„Ich habe noch etwas für dich, Patricia." Mir wurde das Medaillon der Kriegsnymphe hingeschoben.
„Ares!" Liebevoll strich ich über das goldene Schmuckstück.
„Ah, die alte Nervensäge ist wieder da. Du solltest ihm hallo sagen. Wahrscheinlich ist er beleidigt, weil du ihn vergessen hast." Bevor Marlon den Satz ganz ausgesprochen hatte, lag das Medaillon schon in meiner Hand und ich klappte es auf. Wie schon so oft vorher erschien auch heute Ares in Miniformat auf diesem. Er schien eher erleichtert zu sein als sauer.
„Hey, Ares."
„Wie ich sehe, geht es dir gut. Dann können wir jetzt darüber reden, dass du mich im Auto vergessen hast." Ich biss mir verlegen auf die Unterlippe.
„Tschuldigung." Marlon legte vorsichtig seine Hände auf meine Schultern.
„Jetzt sei nicht so streng zu ihr. Du hast schon viel verrücktere Sachen mit Maélys, Frédéric und mir gemacht. Bestraf sie nicht dafür, dass sie in Panik ausgebrochen ist." Ein Lächeln schlich sich auf das Gesicht des jungen Gottes.
„Hallo, Marlon. Du hast dich aber gut gehalten. Nachdem ich erfahren habe, dass du dich des Öfteren in der Zwischenwelt herumtreibst, habe ich gedacht, du wärst wesentlich schlimmer zugerichtet."
„Danke für das Kompliment, Ares." Der Blick des Gottes richtete sich wieder auf mich.
„Und wo gehen wir hin? Cunninghams sind nach dem Mordanschlag wohl raus-"
„Mordanschlag?" Die beiden Männer aus der Kriegsnymphenfamilie sahen mich entsetzt an. Ares verdrehte die Augen.
„Hat sie nicht erzählt, Mr. Cunningham hat nicht aus Versehen die Sicherheitssysteme der Häuser von PIRA erstellt, sondern ziemlich absichtlich. Er hat Ro auch nur adoptiert, weil er sie beseitigen wollte." Ich sah auf meine Hände. Nein, das hatte ich bisher noch nicht erwähnt.
„Patricia?" Marlon sah mich streng an.
„Es ist doch alles gut ausgegangen. Kein Grund sich aufzuregen."
„Patricia Rona Primrose Black, du bist eigentlich ein wirklich schlaues Mädchen, aber hierbei liegst du absolut falsch. Wenn PIRA es wagt, sich so sehr in dein Leben einzumischen, ist es durchaus sehr relevant. Bevor wir nach Belize aufbrechen, sitzt Cunningham hinter Schloss und Riegel. Frédéric, wir apparieren da sofort hin."
„Er ist schon längst festgenommen. Ich werde dafür sorgen, dass er dort auch bleibt. In Ordnung?"
„Das ist wohl das Mindeste."
Glücklich spielte ich mit dem Medaillon, welches nun wieder um meinen Hals hing und ich nie wieder von dort entfernen würde. Komme, was wolle, Ares würde genau dort hängen bleiben. Noch einmal würde ich ihn nicht verlieren. Nie wieder.
„Frédéric, warum kamst du jetzt eigentlich so spät? Nichts war eine wirklich schlechte Ausrede." Marlon sah zu seinem Bruder herüber, welcher gerade mit dem Abwasch beschäftigt war.
„Ist nicht wichtig, Marlon." Wieder gingen die Alarmglocken an. Eine neue Lüge, er fand es wichtig.
„Frédéric, was war los?" Der Blick des Angesprochenen glitt kurz zu mir, bevor wieder mein Babysitter angesehen wurde.
„Was glaubst du, was los war? Ich habe ihnen gesagt, dass Patricia nicht wieder zurückkehren will, sondern lieber mit dir Auswandern will. Das war los." Meine Finger verkrampften sich um das Schmuckstück. Auch wenn Frédéric ruhig sprach, hätte er mich genauso gut anschreien können, ich würde allen nur Trauer und Unglück bringen. Ich stand vorsichtig auf.
„Welpe?" Marlon ging vorsichtig einen Schritt auf mich zu. Automatisch machte ich einen Schritt zurück. Ich wollte alleine sein. Ich wollte mich irgendwo verkriechen und nie wieder rauskommen. Nie wieder irgendwen unglücklich machen. Ich drehte mich um. Bevor noch einer der beiden Männer reagieren konnte, war ich schon aus der Haustür gestürmt.
Ich hatte mich zwischen ein paar Mülltonnen und der Hauswand des Hauses, in dem unsere Wohnung lag, zusammengekauert. Die Arme fest um meine angezogenen Beine geschlungen. Die leisen Schritte, die auf mich zukamen, ignorierte ich einfach. Auch als eine der Tonnen bei Seite geschoben wurden, wagte ich es nicht, aufzublicken.
„Welpe." Die Erleichterung in Marlons Stimme war nicht zu überhören. Der Mann kam noch ein paar Schritte näher und quetschte sich schließlich neben mich. Ich wurde an ihn herangezogen.
„Was ist los?", fragte mich mein Babysitter vorsichtig. Fast als hätte er Angst, mich mit dieser Frage vollkommen zu zerbrechen.
„Ich wollte sie nicht traurig machen. Ich - ich dachte nicht, es würde sie interessieren, wenn ich wieder weg bin." Langsam sah ich auf, während schon wieder die Tränen sich den Weg über meine Wangen suchten.
Ich dachte, sie würden mich genauso fallen lassen, wie alle anderen es vor ihnen auch getan haben. Sie würden aufgeben, sobald es wirklich schwierig war. Marlon strich mir liebevoll durch die Haare.
„Du hast gedacht, sie seien wie alle anderen, hm?" Ich nickte beschämt. Bis zum Schluss hatte ich darauf gewartet, sie würden mich aufgeben. Auch als Frédéric gemeint hatte, er würde Bescheid sagen, dass es mir gut ging, hatte ich damit gerechnet, danach würden sie mich abschreiben. Mich einfach wieder aus ihrem Leben streichen, als wäre ich nie ein Teil von ihnen gewesen.
„Ich passe doch gar nicht zu ihnen. Sie haben schon Marianne und Kira und Jeans Kinder. Ich habe bei ihnen nichts verloren. Ich gehöre nicht dazu. Ich dachte, sie würden sich nur verpflichtet fühlen, weil wir blutsverwandt sind, und würden mich irgendwann fallen lassen."
„Du hast nicht erkannt, dass sie sich wirklich mühe mit dir geben wollen. Ist nicht schlimm. Das kriegen wir alles wieder hin."
„Denkst du das wirklich?" Ich sah neugierig zu meinem Babysitter.
„Weißt du, was ich denke, Welpe?" Ich schüttelte leicht den Kopf. Gedankenlesen konnte ich leider nicht. Noch nicht. Ares würde mir es bestimmt noch irgendwann richtig beibringen. Also über meine natürliche Fähigkeit eine Lüge auf hundert Meter Entfernung zu riechen hinaus.
„Ich denke, wir sollten nicht nach Belize gehen. Geh zurück nach Hogwarts und gib deiner leiblichen Familie mal eine richtige Chance. Sie würden sich sehr darüber freuen."
„Und was ist dann mit dir?"
„Mit mir? Ich werde mich vielleicht doch nochmal persönlich mit meiner auseinandersetzen." Ich schluckte schwer. Ein Teil von mir wollte zurückgehen. Wieder zu Jamie, Adina und Antiope. Sirius endlich mal richtig kennenlernen. Doch der Andere hatte eine furchtbare Angst davor.
„Sehen wir uns dann wieder?"
„Ich komme dich so oft besuchen, wie du willst. Ich kenne einen Geheimgang, mit dem können wir nach Lust und Laune die Schule betreten oder auch wieder verlassen. Und in den Sommerferien fliegen wir nach New York. Den Urlaub habe ich dir schließlich schon versprochen. Und wir können auch überall anders auf der Welt hin. Wenn du wirklich das Gefühl hast, du kommst in Hogwarts gar nicht klar, werde ich dich sofort wieder abholen. Belize läuft uns nicht weg."
„Und was ist mit meinem funktionalen Analphbethismus?"
„Da wird sich Remus wohl die Mühe machen müssen, mal mit dir ein bisschen zu üben. Ich schicke dir gerne auch deine Briefe, die du an mich schreibst, korrigiert zurück. Und Sirius wird dich auch unterstützen. Du kriegst das hin. Mach dir keine Sorgen." Mir wurde aufmunternd zugelächelt. Ich kuschelte mich an Marlon.
„Ich kann wenigstens mal mit Lupin reden." Ein stolzes Lächeln machte sich auf dem Gesicht des Mannes breit.
„Ich habe dich sehr lieb, kleiner Welpe. Und jetzt lass uns mal wieder reingehen. Hier ist es ungemütlich."
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