Ich sah dabei zu, wie das Schiff immer kleiner wurde. Schließlich wandte ich mich wieder an Marlon, welcher mal wieder das Auto fuhr.
„Und bist du glücklich?" Der Mann sah kurz lächelnd herüber, bevor er sich wieder auf das Fahren konzentrierte.
„Ja, bin ich." Ich angelte aus meinem Rucksack meinen neuen Zeichenblock. Neben ein paar neuen Anziehsachen hatte mir Marlon auch neue Stifte und das Papier gekauft.
„Irland. Hier war ich tatsächlich noch nicht auf meiner Europatour. Wie wäre es, wenn wir diese Nacht in Duplin bleiben? Außer dir ist es wichtig, einen halben Tag früher in Nordirland zu sein, um deine Großeltern zu suchen." Ich wurde fragend angesehen. Ein Teil von mir wollte genau das. Möglichst schnell nach Nordirland und zu meinen Großeltern. Doch eigentlich gab es dafür keinen wirklichen Grund. Ein halber Tag mehr oder weniger würde nicht den riesen Unterschied machen und wann bekam ich schon einmal die Chance Dublin zu erkunden?
„Fahren wir dann auch zur Richmond Street? Ich habe mal gehört, da gibt es richtig viel Straßenkunst."
„Natürlich gehen wir uns zusammen Straßenkunst ansehen und ich weiß schon, wo wir übernachten. Als ich meinen Europatrip geplant habe, hatte ich eigentlich auch vor hierhin zu kommen. Das wird dir gefallen und ich weiß auch schon, was wir noch machen." Ein verschwörerisches Grinsen erschien auf seinem Gesicht.
Begeistert starrte ich nach draußen. Nachdem Marlon und ich in einem kleinen Hostel mitten in der Innenstadt eingecheckt haben, war er mit mir hierhergekommen. Ein Aussichtsturm nur wenige Gehminuten von unserer Übernachtungsmöglichkeit entfernt. Von hier aus konnte man die ganze Innenstadt von oben beobachten. Die Menschen, welche sich wie kleine Ameisen durch die Straßen schlängelten. Zum Glück war heute ein sonniger Tag, sodass man gut sehen konnte.
„Guck mal. Da drüben ist Temple Bar, da findet das Nachtleben von Dublin statt. Der Fluss heißt Liffrey."
„Du hast die Reiseführer wirklich verschlungen, was?" Ein breites Grinsen erschien auf dem Gesicht des Mannes.
„Also ja, ich habe auch viele Reiseführer gelesen, aber es steht auch einfach hier auf dem Schild." Es wurde auf ein Eisenschild gezeigt, welchem ich bisher keine Beachtung geschenkt habe. Dort war ein Plan abgebildet. Man erkannte den Fluss und die verschiedenen Häuser, die alle beschriftet worden waren. Manchmal hatte es wirklich Vorteile lesen zu können. Zum Beispiel wenn man sich als Genie ausgeben wollte, obwohl man es nicht war.
Im Badezimmer hörte man Marlon noch immer unter der Dusche. Ich hatte es mir auf meinem Bett gemütlich gemacht und drehte, wie auch schon am gestrigen Abend den Brief von Sirius in meiner Hand. Ich wüsste nur allzu gerne, was in diesem stand. Was mein Erzeuger mir geschrieben hatte, bevor er mich einfach zu Marlon abgeschoben hatte. Auch wenn er zugegebenermaßen einen guten Babysitter erwählt hatte. Einen sehr Guten sogar. Doch das änderte nichts daran, dass ich das Gefühl hatte, mal wieder verlassen worden zu sein. Als es schwierig wurde, hatte mich auch mein biologischer Vater einfach abgeschoben.
„Hey, kleiner Welpe." Marlon ließ sich neben mich aufs Bett fallen. Seine Haare waren noch immer nass. Er hatte ein Handtuch in der Hand, um sie sich abzutrocknen. Doch anstelle es zu nutzen, legte er es bei Seite und zog mich in seine Arme.
„Was ist los? Bist du immer noch traurig, weil Sirius mich geholt hat?"
„Ich weiß, dass er es nur gemacht hat, weil er Angst um mich hatte. Es ging mir auch schlecht. Schließlich war ich in der Zwischenwelt, aber-" Ich brach ab. Der Mann zog mich näher an sich heran. Liebevoll strich er mir über die Haare.
„Das ändert kein wenig an deinen Gefühlen. Die lassen sich von Logik leider nicht kontrollieren. Ich weiß. Lass dich einmal richtig durchknuddeln."
Vorsichtig löste ich mich wieder von Marlon. Dieser sah zu dem Brief, welcher noch immer auf dem Bett lag.
„Soll ich ihn dir vielleicht vorlesen? Ich bin mir ganz sicher, Sirius hat nur sehr liebe Worte für dich."
„Wie bitte?" Ich sah den Waisen wahrscheinlich an, als wäre er ein völlig unbekanntes Wesen.
„Es war ein Verdacht von mir, dass du nicht lesen kannst. Ist bei Waisenkindern weit verbreitet. Vermutlich weil sich niemand mit ihnen hinsetzt, um es mal außerhalb der Schule zu üben." Ich merkte, wie ich rot anlief. Dass ich nicht einmal richtig lesen und schreiben konnte, gehörte wirklich nicht zu den Dingen, die ich überall herumerzählte.
„Ich kann lesen." Vielleicht nur sehr langsam und mit viel Mühe, doch ich konnte es. Beleidigt versuchte ich, mir wieder den Brief zu angeln, doch der Mann hatte ihn vorher in der Hand.
„Funktionaler Analphabet?" Ich schwieg. Ich würde ihn nicht anlügen, doch ich würde mir auch nicht die Blöße geben und ihm zustimmen.
„Ich hätte gerne meinen Brief wieder." Ich biss mir unsicher auf der Unterlippe herum.
„Also habe ich Recht. Patricia, das ist doch überhaupt nicht schlimm. Bis ich bei meiner Familie aufgenommen wurde, konnte ich weder lesen noch schreiben. Und ich habe nicht die erste Klasse verpasst, weil ich auf der Straße gelebt habe. Das kannst du alles noch richtig lernen. Du bist schließlich ein ziemlich schlaues Mädchen. Lass dir die Zeit, die du brauchst und wenn du Hilfe brauchst. Ich bin gerne behilflich." Mir wurde der Brief gereicht. Neugierig riss ich den Umschlag auf.
Ich starrte ganze zehn Minuten auf das Blatt Papier, um die Worte darauf zu entziffern, bevor ich schließlich seufzend aufgab. Der Brief meines Vaters war nicht lang, doch die Schrift war noch unordentlicher als auf den Seiten, die ich zu Weihnachten bekommen hatte. Wahrscheinlich hatte er sie in Eile geschrieben, weil er Angst hatte, Marlon könnte ihn doch noch ausliefern oder Ähnliches und daher wegwollte, bevor er bei uns eintraf. Ich wandte mich an den Mann neben mir. Mein Babysitter hatte noch immer einen Arm um mich gelegt. Mit der anderen hatte er sich inzwischen die Haare abgetrocknet.
„Marlon, ließt du mir den Brief vor? Sirius hat eine schreckliche Schrift." Der Angesprochene lachte leise.
„Wie wäre es, wenn wir ihn zusammen lesen? Ich sage dir, was die Hieroglyphen auf diesem Stück Papier Darstellen sollen und du sagst mir, welche Wörter sie ergeben, ja?" Ich übergab das Schriftstück an meinen Sitznachbarn. Dieser hielt es so, dass ich weiterhin mitlesen konnte, doch er es nun auch die Schrift sehen konnte.
Mein allerliebster kleiner Welpe,
es tut mir leid, dass ich Marlon geholt habe. Du warst krank und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Also habe ich wohl die einzige Person geholt, die verrückt genug ist, zu kommen und mich nicht den Dementoren auszuliefern. Den Verlobten deiner Vorgängerin. Also sie waren verlobt, bevor sie gestorben ist. Er wird dich gesund pflegen und dir das zu Hause geben, dass du verdienst. Er wird auf dich aufpassen bis ich meine Unschuld beweisen kann und der Vater für dich und Kira sein kann, den ihr verdient habt. Bitte, laufe nicht von ihm davon. Ich weiß, er wird sich sehr gut um dich kümmern.
Ich habe dich sehr sehr lieb, mein allerliebster kleiner Welpe.
Dein Sirius
Mit Marlons Hilfe brauchte ich gerade einmal eine Viertelstunde für die ganze Prozedur. Der Brief meines Vaters zauberte mir ein kleines Lächeln. Der Ex-Verlobte meiner Vorgängerin drückte mir einen Kuss auf die Wange.
„Das hast du gut gemacht. Siehst du, so schlecht kannst du gar nicht lesen. Das kriegen wir alles hin. Wie wäre es, wenn wir öfter zusammen etwas lesen? Dann kannst du sicherlich ganz schnell richtig gut lesen. Und wenn du Sirius öfter mal schreibst, lernst du auch ganz schnell richtig schreiben. Aber für heute Abend reicht es. Wir beide waren den ganzen Tag unterwegs, haben morgen noch sehr viel vor und sollten uns jetzt lieber ein wenig ausruhen." Ich nickte leicht.
„Gucken wir noch ein wenig fernsehen?"
„Es müsste heute Abend der zweite Teil von der gestrigen Filmreihe kommen. In zwei Minuten, um genau zu sein, auch wenn die sicherlich noch immer nicht gelernt haben, wie man kämpft. So unrealistisch, diese Actionfilme." Ich schaltete den kleinen Fernseher ein, welcher im Zimmer stand. Marlon machte es sich währenddessen auf meinem Bett gemütlich. Sobald der richtige Sender ausgewählt war, kletterte ich zu ihm. Glücklich kuschelte ich mich an den Mann, welcher mich bereitwillig in den Arm nahm.
Marlon saß mal wieder am Steuer des Autos. Wir waren auf den Weg nach Nordirland herüber. In dem Getränkehalter zwischen uns beiden standen zwei Becher. Einer war mit Kakao für mich gefüllt, der andere mit Kaffee für Marlon.
Der Kaffeegeruch hatte sich im ganzen Auto breitgemacht, so wie eigentlich auch schon am gestrigen Morgen. Ich mochte diesen Geruch richtig gerne. Die Howarth hatten auch immer dieses Getränk beim Frühstück getrunken. Sicherheit, das verband ich mit diesem Geruch. Die anderen Pflegefamilien in den ich war, hatten wenn schon billigen löslichen Kaffee getrunken, der hatte nicht so einen starken, angenehmen Geruch verbreitet.
„Was machen wir eigentlich, wenn meine Großeltern umgezogen sind?" Ich sah von meiner Zeichnung auf.
„Dann werden wir herausfinden, wohin sie gezogen sind. Mach dir keine Sorgen. Es wird alles gut." Mir wurde aufmunternd zugelächelt.
„Und wenn sie mich nicht mehr sehen wollen?" Ich drehte unsicher den Stift in meiner Hand herum.
„Dann erzählen wir ihnen, dass dein leiblicher Vater ein verurteilter Mörder ist, der dich sehr sehr lieb hat, und gehen wieder."
„Das macht ihnen bestimmt Angst."
„Das ist der Sinn der Sache. Wer dich nicht lieb hat, darf auch ruhig Angst haben. Aber ganz ehrlich Patricia. Es wird nicht passieren."
„Woher willst du das wissen?"
„Anders als du, habe ich deine Akte gelesen. Was darin stand zeigt eindeutig, sie werden sehr glücklich sein, wenn du sie besuchen kommst. Also mache dir nicht zu viele Sorgen."
„Bist du dir dabei sicher?"
„Absolut sicher. Sie haben lange dafür gekämpft, dass nach euch beiden weitergesucht wird, obwohl es keine Anhaltspunkte gab. Nicht einmal ein Lebenszeichen. Jedenfalls hat man ihnen das erzählt. Eigentlich hatte man dich damals schon wieder aufgegabelt und ins Zeugenschutzprogramm gesteckt. Aber das hätten sie nicht gemacht, wenn sie euch nicht wiedersehen wollten. Sie hätten nicht solange gekämpft, wenn ihr ihnen nicht wirklich wichtig währt." Ich nickte leicht.
Nur zu gerne hätte ich mich jetzt auf Grund der Worte wieder beruhigt meiner Zeichnung zugewandt, doch ich fühlte mich noch immer genauso nervös wie vorher. Nein, nicht nur nervös, ein Teil von mir wollte einfach panisch weglaufen, weil ich Angst vor der Reaktion meiner Großeltern hatte.
„Und wenn sie mir nicht glauben, dass ich ihre Enkeltochter bin? Ein DNA Test bringt nichts."
„Patricia, seit deinem sechsten Lebensjahr hast du dich nicht so massiv geändert, dass man dich nicht mehr wiedererkennen würde. Mache dir nicht so viele Gedanken. Auch wenn es dir sehr schwerfällt. Ich bin bei dir." Mir wurde beruhigend eine Hand auf die Schulter gelegt.
Unsicher sah ich zu dem alten Bauernhaus, in dem noch immer die Eltern meiner Mutter wohnten und vermutlich auch ihre jüngere Schwester mit ihrem Ehemann. Jedenfalls nach den drei Autos vor der Tür.
Marlon und ich standen im Schatten einiger Tannen, welche zu einem ganzen Wald gehörten. Jetzt gerade war ich sehr dankbar dafür, dass wir hierhin gelaufen und nicht mit dem Auto auf den Hof gefahren waren. Dann wären wir wahrscheinlich schon lange entdeckt worden.
Stattdessen standen wir seit geschlagenen zwanzig Minuten hier draußen in der Kälte und warteten, dass ich entweder beschloss, gehen zu wollen, oder doch anklingelte.
Schließlich ging die Haustür auf. Zuerst kamen zwei kleine Mädchen herausgerannt. Sie mussten ein wenig jünger als Natasha und ich sein, als wir damals bei den Howarth gewohnt hatten. Sie liefen lachend ein Stück in dem Hof, bevor sie sich in die weiße Masse fallen ließen. Die Jüngere verlor dabei ihre Mütze.
Das kindliche Lachen der beiden drang bis zu uns herüber. Mit wesentlich mehr Ruhe kamen Tante Louise, die Schwester meiner verstorbenen Mutter, ihr Ehemann, ihre Eltern und die Eltern meines verstorbenen Vaters hinterher. Ein kleines Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. Meine Familie, auch wenn die zwei jüngeren Mädchen neu waren.
„Betty, setz dir, bitte deine Mütze wieder auf, damit du dich nicht erkältest", hörte ich Tante Louise rufen.
„Mache ich gleich, Mama."
„Nein, Betty. Setze dir jetzt die Mütze auf. Deine Haare sind jetzt schon voller Schnee." Die Frau eilte zu ihrer Tochter herüber. Sie befreite das junge Mädchen von dem meisten Schnee und setzte ihr wieder die Mütze auf den Kopf.
„Großvater Kieran, baust du mit uns einen Schneemann?" Kieran Howarth, der Vater von meinem Adoptivvater, fing an zu lächeln. Offensichtlich hatte er sich um die Nichte seiner Schwiegertochter genauso liebevoll gekümmert wie um uns beiden Nymphen. Als wäre er wirklich ihr leiblicher Großvater.
„Natürlich, ihr beiden." Ich sah zu, wie er anfing, mit den beiden kleinen Mädchen Schneekugeln zu formen. Eine Träne floss mir über die Wange. Sie alle wirkten so furchtbar glücklich. Wahrscheinlich hatten sie sich schon lange damit abgefunden, dass weder ich noch Tasha irgendwann wieder zurückkommen würden.
Wenn ich jetzt ohne meine jüngere Schwester wieder hier aufkreuzte, dann würde ich wahrscheinlich wieder ziemlich viel in Gang bringen. Sie hatten solange nach uns beiden gesucht. Mein Auftauchen würde mit Sicherheit eine neue Suche nach meiner kleinen Schwester auslösen.
Zurecht, schließlich musste sie sich noch irgendwo auf der Welt herumtreiben. Jedenfalls nach der Aussage von meinen Eltern, wobei ich ihnen immer noch ein wenig misstraute. Wie sollte ich am Ende wirklich wissen, ob sie nun ein Fiebertraum waren oder ich wirklich in der Zwischenwelt war?
„Marlon, können wir wieder gehen?" Mein aktueller Babysitter sah mich misstrauisch an.
„Bist du dir dabei ganz sicher? Ich weiß, du hast Angst davor, was passiert, wenn du hier einfach wieder auftauchst. Mir ist es auch sehr schwergefallen, auf meine leiblichen Eltern zuzugehen. Ich werde nicht zulassen, dass du jetzt ängstlich wegläufst. Also sag mir, was dich gerade belastet."
„Sie sehen glücklich aus. Ich will ihnen das nicht kaputt machen, aber wenn ich da wieder auftauche, suchen sich nach Tasha und dann sind sie bestimmt traurig, weil niemand sie findet. Sie ist einfach weg, aber Mama und Papa sagen, dass sie lebt, also müssen wir sie finden und dann kann ich mit ihr zusammen zu ihnen kommen, ohne dass sie unglücklich werden." Dieses Mal liefen mir die Tränen in Strömen über die Wange.
„Ist schon in Ordnung, Welpe. Komm her." Ich wurde erneut in Marlons Arme gezogen, der mir vorsichtig über die Haare strich. Ich klammerte mich an ihm fest, dankbar dafür, dass er einfach da war und mich als Erster wirklich zu verstehen schien.
„Wir werden deine Tasha finden und dann kommen wir hier noch einmal zu dritt hin. Ist das eine gute Idee oder eine supergute Idee?" Mir wurden vorsichtig die Tränen von der Wange gestrichen, auch wenn noch immer welche nachkamen.
„Die Beste, die du bisher hattest."
„Ich dachte, die beste Idee wäre es, nach Belize zu ziehen und eine Bar zu eröffnen. So kann man sich irren." Ich musste lachen, auch wenn es eigentlich eher wie eine Mischung aus Schluchzen und Lachen klang.
Mittlerweile saßen Marlon und ich wieder im Auto. Wir waren auf dem Weg zu dem Friedhof, auf dem laut den Unterlagen des Ex-Verlobten meiner Vorgängerin meine Eltern begraben worden waren. Neben den Gräbern von ihnen lagen wohl auch die Leeren von Natasha und mir.
Auch wenn ich nicht den Mut dazu gefunden hatte, meinen Großeltern von meinem Schicksal zu erzählen, wollte ich trotzdem das Grab meiner Eltern besuchen. Daher fuhren wir gerade dorthin. Ich starrte gedankenverloren aus dem Fenster und sah mir die Häuser am Straßenrand an. Seitdem wir wieder von meinen Großeltern aufgebrochen waren, hatten wir uns angeschwiegen.
„Marlon? Kannst du mal kurz halten?"
„Natürlich, was ist denn los?"
„Da ist ein Blumenladen." Ich zeigte auf den kleinen Laden am Straßenrand.
„Du willst Blumen mit zum Grab deiner Eltern bringen." Ich nickte leicht.
„Wenn du die bezahlst. Ich habe immer noch kein Geld."
„Was ich gerne höre, weil es bedeutet, dass du keinen Diebstahl begangen hast. Los, wir gehen Blumen kaufen." Das Auto war mittlerweile am Straßenrand stehen geblieben. Der ehemalige Waise sah mich erwartungsvoll an. Es war Zeit rauszugehen.
Mit einem Strauß aus Primeln und Ehrenpreis in der Hand lief ich mit Marlon über den Friedhof auf der Suche nach dem Grab. Die genaue Position stand natürlich nicht in den Papieren. Also rannten wir von einer Reihe zur nächsten. Zum Glück war es nur ein ganz kleiner Friedhof, sodass wir nach gerade einmal zehn Minuten die Grabsteine gefunden haben, obwohl wir natürlich auf der falschen Seite angefangen hatten.
Bei dem Grab handelte es sich um ein kleines hübsches Familiengrab. Ein großer Grabstein stand auf diesem. Er bestand aus einem wirklich hübschen hellen Stein. Fünf grüne Streifen aus Glas waren in diesem eingelassen worden. Ich würde sie auf ungefähr zwei Zentimeter breite schätzen.
Der oberste war bestimmt zehn Zentimeter vom oberen Rand entfernt. Unter ihm war in Schwarz Glaube eingraviert worden. Dann kam wieder ein solcher Streifen. Unter diesem sah man allerdings nicht den hellen Stein, sondern schwarzes Glas. Nur wenige Stellen waren aus dem hellen Material und bildeten zusammen das Wort Liebe. Das schwarze Glas wurde nach unten hin wieder mit einem grünen Glasstreifen abgeschlossen. Unter diesem dritten Streifen war auf der linken Seite horizontal Howarth in Großbuchstaben eingraviert worden. Daraufhin folgte die Auflistung für die Personen, welche hier liegen sollten mit entsprechenden Geburts- und Todestagen. Ganz oben stand mein Vater, darunter meine Mutter, dann kam ich und schließlich folgte Natasha. Auffällig war, dass Natasha und ich beide mit dem Nachnamen Howarth auf diesen standen. Auch unsere Spitznamen waren in Anführungszeichen herauf geschrieben worden. Die i-Punkte meines Namens bildeten das Zeichen auf meinem Medaillon und das S in Natashas Namen erinnerte an einen Blitz. Unter dieser Auflistung war der vierte grüne Glasstreifen, welcher mit dem Letzten das Wort Hoffnung einkesselte.
Auf dem Grab selbst waren ein Haufen Blumen gepflanzt worden. Auch ein weiter Grabstein lag dort. Er war aus dem gleichen hellen Gestein und hatte die Form eines aufgeschlagenen Buches. Auf der rechten Seite war ein Foto von meinen Eltern, meiner jüngeren Schwester und mir eingraviert worden, während auf der linken Seite „Auferstehung ist unser Glaube, Wiedersehen unsere Hoffnung, Gedenken unsere Liebe." stand.
„Patricia Rona Primrose und Natasha Tyra Howarth. Die Starke und die Donnergöttin. Wussten sie, was ihr wart?" Ich nickte leicht.
„Wir waren vier und fünf. Damals sind wir noch ein wenig großzügiger mit der Information umgegangen, was wir sind. Als wir gemerkt haben, wir haben wirklich eine Chance bei den Howarth zu bleiben, haben wir es erzählt."
„War bestimmt ein Schock für sie."
„Erst dachten sie, es wäre kindliche Fantasie, dann haben wir ihnen Ares und Zeus vorgestellt. Das war ein kleiner Schock, aber im Großen und Ganzen haben sie es sehr gut aufgenommen." Ich sah wieder zu dem Grabstein. Nachdem meine Eltern den ersten Schock überwunden hatten, göttliche Wesen bei sich wohnen zu haben, waren sie sogar ziemlich stolz darauf gewesen.
„Soll ich dich hier ein bisschen alleine lassen? Damit du ein wenig mit ihnen reden kannst?"
„Warum sollte ich mit ihnen reden? Sie sind doch nicht hier."
„Weil die meisten Menschen, dass an dem Grab ihrer Liebsten machen." Mit Steinen zu reden war vollkommen normal, aber wenn ich jemand erklärte, dass ich mit Ares kommunizierte, hielt man mich für verrückt. Muggel waren manchmal eine seltsame Spezies, vor allem wenn es um ihren Glauben ging.
„Ich gehe mal eine Runde spazieren." Mir wurde noch einmal vorsichtig über die Haare gestrichen, bevor Marlon mich alleine ließ. Ich kniete mich vorsichtig vor das Grab meiner Eltern.
„Hallo Mama, hallo Papa. Ich bin es schon wieder. Eure Rona. Aber dieses Mal könnt ihr mich nicht antworten. Also ist es eigentlich sinnlos jetzt hier herumzusitzen und mit einem Stein zu reden. Mal abgesehen davon, dass ich gar nicht weiß, was ich euch alles erzählen soll. Schließlich kriegt ihr eh alles mit. Marlon meint, ich soll es trotzdem machen. Ich wohne momentan bei ihm, aber das habt ihr sicherlich schon mitbekommen. Er ist sehr nett zu mir und kümmert sich gut um mich. Er will mir lesen und schreiben beibringen und ich darf mit Sirius Kontakt halten. Mein Erzeuger ist eigentlich sehr nett, wisst ihr. Jedenfalls wenn ich Fieber habe, ist er es. Gesund kenne ich ihn schließlich nicht. Doch tue ich, nur dann halt als Hund. Ich mag ihn gesund als Hund. Ich habe euch einen Strauß Blumen mitgebracht. Primeln und Ehrenpreis, weil Mama immer gesagt hat, wenn sie diese Blumen sieht, muss sie sofort an Tyra und mich denken. Bei den Primeln an ihre kleine Primrose und bei Gewitterblumen an ihre Natasha." Ich seufzte leise. Irgendwie hatte ich keine wirkliche Ahnung, was ich noch erzählen sollte, nicht wenn sie alles mitbekamen.
Verunsichert sah ich nach Marlon, welcher weit außer Hörweite war und seinem Verhalten nach zu urteilen, der Meinung war, ich müsste noch ein wenig länger mit einem Stein plaudern. Also wandte ich mich wieder diesem zu.
„Ich war heute bei Mamas Eltern. Tante Louise hat mittlerweile zwei Kinder. Sie müssen ungefähr in meinem und Tashas damaligen Alter sein. Sie scheinen alle sehr glücklich zu sein. Papas Eltern waren auch bei ihnen. Sie sind jetzt für Louises Kinder die dritten Großeltern. Ich bin aber nicht hingegangen, um hallo zu sagen. Ich wollte sie nicht traurig machen, weil Natasha noch immer weg ist. Aber ich will ihnen sagen, dass wir noch leben, sobald Marlon und ich sie gefunden haben. Mit Marlon fliege ich jetzt bald nach Belize. Er will dort eine eigene Bar aufmachen. Er weiß aber noch nicht, ab wann ich mit ihm trinken darf. Ich bin der Meinung, meine Leber kommt mit dem Zeug besser klar als die von Erwachsenen, aber in Belize ist es eigentlich gesetzlich verboten unter achtzehnjährigen Alkohol auszuschenken. Jetzt ist sich Marlon unsicher, ob er mir alkoholfreie Cocktails gibt oder auch normale. Mir ist es eigentlich ziemlich egal. Ich bin einfach nur glücklich, weil er mich nicht zur Schule schicken will. Ich glaube, er ist seit euch der Erste, der mich wirklich versteht. Ich finde es nur schade, dass ich deshalb Adina und Jamie nicht mehr sehen kann. Ich vermisse die beiden ziemlich. Und Antiope auch. Ich mag das kleine tollpatschige Fellknäuel sehr gerne. Und Sirius hätte ich gerne auch gesund als Mensch kennengelernt. Aber ich muss mich noch bei ihm entschuldigen, weil ich sehr gemein zu ihm war, obwohl er immer nett zu mir gewesen ist."
„Welpe?" Ich schreckte aus meinem Gespräch mit meinen Eltern hoch. Obwohl besser gesagt mit dem Grabstein. Ich schreckte aus meinem Monolog, das war wohl die passende Beschreibung.
„Welpe, es tut mir wirklich leid, dich jetzt zu stören, aber gerade sind zwei Autos vorgefahren. Die standen beide bei deinen Großeltern vor der Tür. Noch parken sie ein. Wenn du ihnen nicht doch noch heute mitteilen willst, dass du lebst, sollten wir verschwinden." Mir wurde auch noch ein Cap hingehalten.
Die letzten Tage hatte ich unter dieser immer meine langen Haare versteckt, wenn wir uns irgendwo in der Öffentlichkeit aufhielten. Auch wenn sie mittlerweile wieder braun waren, hatte ich es für sicherer empfunden, wenn ich auf dem ersten Blick möglichst wenig Ähnlichkeiten zu Charlotte Cunningham hatte. Nach dieser wurde mittlerweile auch mit Hilfe von Zeitung und Fernsehen gesucht.
Also hatte ich mir möglichst große Mühe gegeben, eher nach einem Jungen auf den ersten Blick auszusehen. Die Haare unter dem Cap und weite Klamotten, damit man nicht meine weibliche Figur erkennen konnte. Doch hier am Grab hatte ich sie abgenommen. Ich wollte als ich kommen und nicht verkleidet.
Geschickt drehte ich meine Haare zu einem Dutt, setzte das Cap auf und zupfte meine Haare so zurecht, dass die Spitzen an einigen Stellen zu sehen waren. Währenddessen schob mich Marlon voran, damit meine Familie nicht sah, dass wir am Grab meiner Eltern waren.
Wir waren gerade drei Reihen weiter in Richtung Mitte eingebogen, als meine Großeltern, meine Tante und ihre Familie den Friedhof betraten. Sie steuerten zielsicher auf die richtige Grabreihe zu, während Marlon und ich in Richtung Ausgang liefen. Dabei achtete ich, den Kopf möglichst gesenkt zu halten und mich immer ein wenig hinter den ausgewachsenen Mann zu verstecken. Sicher ist sicher.
Wahrscheinlich hätte ich es mir sparen können. Die Familie schenkte uns kaum Beachtung. Trotzdem war ich froh, als wir das Auto erreichten. Sobald wir darin saßen, fuhr Marlon auch schon los.
„Das war knapp." Erleichtert nahm ich meine Kopfbedeckung wieder ab und wandte mich wieder an den Fahrer.
„Was glaubst du, haben sie am Grab gemacht?"
„Deine Mutter hätte heute Geburtstag gehabt." Ich lief rot an.
„Wirklich?" Wenigstens wusste ich durch diese Aussage wieder, welchen Tag wir hatten und wie lange mich Sirius ungefähr gepflegt haben musste, bevor er Marlon benachrichtigt hatte.
Ich drehte den Schlüssel im Schloss von Marlons und meiner Ferienwohnung im Nachbarort herum. Nach gerade einer halben Umdrehung war die Tür offen.
Mein Blick glitt zu meinem Babysitter. Dieser hatte schon ein Butterflymesser aus der Tasche gezogen und mit einer kurzen geschickten Bewegung aufgeklappt. Ich zog ebenfalls mein Messer heraus. Dann nickte ich ihm zu.
Wer auch immer auf die bescheuerte Idee gekommen war, ausgerechnet in Marlons und meine kleine Ferienwohnung einzubrechen, würde sein blaues Wunder erleben. Nicht nur, dass bei uns keine Wertgegenstände zu finden waren, auch hätte man sich wahrscheinlich keine schlechteren Opfer als uns beide aussuchen können.
Ich trat mit dem Fuß vorsichtig die Tür auf. Neugierig spähte ich in die Wohnküche, welche direkt an die Tür grenzte. Ein braunhaariger Mann saß in einem der Sessel. Er wirkte ziemlich gepflegt, auch wenn er die letzten Tage keine Zeit zum Rasieren hatte. Jedenfalls dem Dreitagebart nach zu urteilen.
Man konnte mehrere Narben an seinem Körper sehen. Eine am Hals musste von einer ziemlich gefährlichen Verletzung stammen und eine am ziemlich muskulösen Oberarm sah nach einer ziemlich schmerzhaften Brandwunde aus.
Der Mann musste ungefähr im Alter von Marlon sein. Er schien es sich auf dem Sessel ziemlich gemütlich gemacht zu haben, vor allem dafür, dass er eingebrochen war. Eine aufgeschlagene Zeitung war wohl bis zu unserem Eintreffen seine Beschäftigung gewesen. Eine Glas Wasser stand auf dem Tisch.
„Bonjour Marlon. Ravi de vous revoir. Tu nous as manqué pour Noël." Ich sah neugierig zu dem Mann neben mir, der nicht wirklich begeistert schien, den Fremden zu sehen.
„Für meine Abwesenheit gab es auch einen guten Grund, Frédéric."
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