Kapitel 28
Das Sicherheitssystem von den Cunninghams war gut, doch noch immer ziemlich löcherig. Manchmal hatte es auch große Vorteile, wenn man von den Erwachsenen nicht ernst genommen wurde.
Als ich mit meinem Adoptivvater über das Sicherheitssystem geredet hatte, war er so nett gewesen, mir einen Plan zu zeigen. Von den Lücken darin, die ich gefunden hatte, wollte er gar nichts hören. Was sich jetzt gerade als äußerst praktisch erwies, da ich mich momentan problemlos vom Gelände schleichen konnte.
Na ja, wenn man es genau nahm, kletterte ich gerade. Von meinem Fenster rauf aufs Dach des Hauses, dann unbemerkt auf der anderen Seite herunter, einmal durch den Garten schleichen, nur um dann an genau im richtigen Moment über den Zaun zu klettern, während die Stelle in den Toten Winkeln der Überwachungskameras lag. Es waren vielleicht nur ein paar Sekunden, doch es würde für mich genügen. Und später würde ich hoffentlich wieder unbemerkt hier reinkommen. Am besten ohne dass jemand in der Zwischenzeit von meiner Abwesenheit Kenntnis gewonnen hatten. Also niemand außer Nymphedora.
Ich spürte die Blicke der anderen auf mir. Die Leute versteckten sich in den Schatten. Lauerten auf den richtigen Moment, um mich zu überwältigen. In meiner aktuellen Kleidung viel ich in diesem Viertel auf wie ein bunter Hund. Bei den Cunninghams und insgesamt in der Vorstadt tarnte mich mein aktuelles Outfit perfekt, doch hier in der heruntergekommenen Gegend von Windsor wurden nur die falschen Leute aus den falschen Gründen auf mich aufmerksam.
Wenn ich mich nicht irrte, würden wahrscheinlich zwei Typen mit Messern hinter der nächsten Ecke auf mich lauern. So viel zu meinem Plan, unauffällig hier in der Gegend einen Shop zu finden, dort neue Klamotten zu kaufen und dann nicht mehr auszusehen, als wäre ich einen Überfall wert.
Ich bog um die nächste Ecke. Wie erwartet stellte sich mir ein Typ in den Weg, wahrscheinlich nur wenige Jahre älter als ich. Anders als ich passte er sehr gut in diese Gegend. Seine Kleidung wirkte schon alt und mit seiner dunklen Haut, den braunen Augen und den schwarzen Haaren erinnerte er mich an Jo. Doch wahrscheinlich lag die Ähnlichkeit nur daran, dass er ebenfalls einen mexikanischen Migrationshintergrund hatte und es in der Gasse dunkel war.
„Hallo, Kleine. Hast du dich verlaufen? Hier geht es nicht zum Einkaufszentrum."
„Und auch nicht zu einer deiner Ballettstunden." Ich drehte leicht meinen Kopf, um den Typen hinter mir kurz zu mustern. Er sah dem anderen ziemlich ähnlich. Definitiv waren die beiden Geschwister ungefähr im gleichen Alter. Eventuell waren sie auch zweieiige Zwillinge. Das erkannte ich sogar in dieser düsteren Gasse.
„Ist mir bewusst. Sehr nett, dass ihr mir den Weg zeigen wollt, aber den finde ich alleine." Ich drehte mich wieder zu dem Jungen vor mir. Ohne zu zögern machte ich einen weiteren Schritt vor.
„Und dir ist auch bewusst, dass man hier einen Wegzoll zahlen muss?" Ich verdrehte die Augen. Er glaubte wohl, das hier wäre sein Revier und deshalb könnte er sich alles erlauben.
„Ich hatte es vermutet. Allerdings interessiert es mich nicht." Unauffällig ließ ich mein Messer in die Hand rutschen. Ich hatte etwas dagegen, wenn man mich ausrauben wollte. Es war mir egal, ob ich nun reich war oder nicht. Ich ließ mich nicht zum Fußabtreter eines Anderen machen.
„Oh, aber uns interessiert es." Ein Messer wurde mir an die Kehle gehalten. An der Haltung konnte ich allerdings erkennen, dass der Typ sich nicht so gut mit dem Messerkampf auskannte. Wenn er schon jemand bedrohte, sollte er es doch wenigstens richtig machen. Dann würde er vielleicht auch ein wenig bedrohlich wirken. Doch so würde er höchstens jemanden ein paar Kratzer zufügen, doch keine schlimmen Wunden.
„Steck deinen Zahnstocher weg und du hinter mir auch. Ihr tut euch noch damit weh."
„Wie wäre es, wenn du uns dein Geld gibst. Deinen schicken Klamotten nach zu urteilen hast du eine Menge davon."
„Natürlich. Ich renne immer mit 100 Pound Scheinen in der Tasche rum. Wollt ihr drei davon haben? Oder vielleicht auch vier?"
„Du kleines arrogantes..." Ich machte einen weiteren Schritt vor. Mit einer geschickten Bewegung nahm ich dem Typ mir gegenüber das Messer ab. Der hinter mir wollte sich auf mich stürzen. Geschickt wich ich aus. Ich gab ihm einen leichten Klaps auf die Hand, weshalb sich diese öffnete. Die Waffe viel klappernd zu Boden.
„Also wie wäre es mit einem Deal? Ich demonstriere euch beiden nicht, wie gut ich mit denen hier umgehen kann und ihr werdet als Gegenleistung mir den Weg zum nächsten Laden zeigen. Alternativ demonstriere ich euch meine Fähigkeiten, ihr erklärt euren Eltern, wie ihr es geschafft habt, üble Messerschnitte abzukriegen, und dann besorge ich mir neue Kleidung. Also wollt ihr, dass eure Eltern eine dicke Krankenhausrechnung bekommen oder lieber nicht?" Die beiden Jungen sahen sich kurz an. Sie schienen kurz mit sich zu kämpfen. Es war auch wirklich unangenehm, von einer reichen Tussi besiegt zu werden. Doch schließlich überwog wohl die Angst vor den Eltern, den Wunsch mir eine reinzuhauen.
„Du kannst gehen."
„Wolltet ihr mir nicht den Weg zeigen?" Wieder schienen die beiden mit sich zu kämpfen.
„Wenn ihr nett seid, bringe ich euch sogar bei, wie man mit einem Messer umgeht. Jetzt kommt. Ansonsten laufe ich doch einfach nach der Karte in meinem Kopf." Ich lächelte die beiden Typen an, bevor ich mich an ihnen vorbeischob. Weit kam ich nicht. Kaum waren die beiden in meinem Rücken, räusperte sich einer von ihnen hinter mir. Breit grinsend drehte ich mich um.
„Ja?"
„Wir bringen dich hin", gab der eine nach.
„Wenn du uns wirklich zeigst, wie du uns unsere Messer abgenommen hast", fügte der andere noch hinzu. Ich nickte zufrieden. Das hörte sich doch nach einem guten Deal an.
„Wie heißt du eigentlich?" Meine beiden Führer sahen zu wieder auf meine Höhe zu kommen.
„Ich trage viele Namen. Denkt euch einfach einen Weiteren aus." Die beiden sahen sich amüsiert an. Sie gingen ganz offensichtlich davon aus, dass ich sie einfach nur verarschen wollte.
„Sie will geheimnisvoll sein."
„Aber irgendwie müssen wir sie nennen. Was könnte ihr Name sein?" Ich wurde nachdenklich angesehen. Leicht verdrehte ich die Augen.
„Ich wurde schon Patricia Prim, Rona, Rona Maria, Rana, Rena, Rina, Runa und Charlotte genannt. Sucht euch einen der Namen aus oder gebt mir einen weiteren. Ist mir egal." Ich ging in meinem Kopf zur Sicherheit noch einmal die Namen durch, die ich laut irgendwelchen Ausweisen oder einfach nur desinteressierten Pflegeeltern, die sich meinen richtigen Namen nicht merken konnten, getragen hatte.
„Aber einer von ihnen muss der Richtige sein. Und mit dem wollen wir dich anreden." Ich verdrehte die Augen. Die beiden waren ganz offensichtlich keine Waisenjungen, sondern lebten einfach nur in einer armen Familie. Ansonsten würden sie nicht so viel Wert auf ihren eigenen Namen legen.
„Was ist ein Name? Was uns Rose heißt, wie es auch hieße, würde lieblich duften", zitierte ich Shakespeare. Manchmal waren die alten berühmten Schriftsteller, doch sehr weise Menschen gewesen.
„Sie zitiert Shakespeare. Wetten wir, sie geht auch auf die schicke Vorortschule." Wie richtig sie damit lagen. Allerdings fragte ich mich, was das auch in dem Satz sollte. Sie gingen jedenfalls nicht dorthin. Vielleicht kannten sie allerdings Jo, dass würde die Aussage erklären.
„Definitiv und sie ist keine Stipendiatin." Eine ziemlich unnötige Feststellung.
„Aktuell werde ich Charlotte genannt. Der Name ist allerdings bescheuert. Also wie wäre es, wenn ihr mich einfach Charlie nennt. Als Spitzname." Die beiden Jungen sahen sich kurz neugierig an. Schließlich grinsten sie sich an.
„Also Charlie, ich bin Juan und das hier ist mein kleiner Bruder Jordi. Es ist uns eine Freude, dich kennengelernt zu haben." Ich verdrehte die Augen. Versuchte der Junge gerade tatsächlich, vornehm zu klingen, um sich meiner so offensichtlichen sozialen Stellung anzupassen, obwohl ich mich in seinem Revier herumtrieb? Wirklich unnötig. Ich war der Eindringling. Wenn schon sollte ich mich wohl anpassen. Schließlich war ich der Fremdkörper hier.
Ich trat aus der Umkleidekabine. Glücklich schüttelte ich meine blonden Haare, die mir ausnahmsweise mal offen über die Schulter fielen. Diese ganzen Frisuren gingen mir eigentlich ziemlich auf die Neven. So war es doch wesentlich angenehmer. Einfach offene Haare tragen. Noch lieber wäre es mir, wieder meine alte Haarfarbe zu haben. Das braun ließ sich doch wesentlich einfacher in der Dunkelheit verstecken als dieses helle Blond. Außerdem gehörte nun einmal die andere Haarfarbe zu mir. Nicht dieses helle Gestrüpp. Ich grinste meine beiden Führer an.
„Also kann ich mich so wieder in einem Ghetto blicken lassen?" Ich drehte mich in dem schwarzen Kapuzenpullover, welcher mir über die Finger reichte. Eine schwarze, mit Flicken versehene Hose war nun gegen meinen Rock ausgetauscht worden. Auch die teuren Schuhe und die Jacke hatte ich durch billige schwarze ersetzt. In der Ecke der Umkleidekabine lag noch ein alter schwarzer Rucksack. An manchen stellen war der Stoff schon sehr dünn geworden, doch er erfüllte seinen Zweck. Der teure Inhalt wurde vor neugierigen Blicken versteckt. Meine eigentliche Kleidung.
„Mit ein bisschen Gutgläubigkeit könntest du als ein Mädchen von hier durchgehen", gab Jordi seinen Senf dazu.
„Die blondierten Haare, werden dich wahrscheinlich verraten. Viel zu professionell." Ich verdrehte die Augen. Noch vor 10 Minuten hatte ich in Designerkleidung vor ihnen gestanden und jetzt meckerten sie über meine blondierten Haare. Dabei konnte ich für die gar nichts.
„Ich kaufe noch eine Mütze." Ich schnappte meinen Rucksack, warf meine Haare zurück und rauschte an den beiden Typen vorbei. Im Hintergrund hörte ich die beiden Jungs leise miteinander über mich reden.
Ich folgte den beiden Jungen auf das Flachdach eines alten Hochhauses. Es sah genauso heruntergekommen aus, wie eigentlich alle hier in der Gegend. Irgendjemand hatte ein altes Sofa hier hochgebracht.
„Also. Wir haben unseren Teil der Abmachung eingehalten, Charlie. Jetzt bist du dran." Ich zog die Messer der beiden Jungen wieder aus meinen Stiefel, wo ich sie deponiert hatte. Ich streckte sie ihnen entgegen.
„Wenn ich euch etwas beibringen soll, braucht ihr die hier wohl wieder." Fast schon gierig griffen Juan und Jordi nach den beiden Messern. Entweder waren sie ziemlich scharf darauf, mich endlich damit abzustechen, oder sie wollten unbedingt ernsthaft mit denen umgehen können. Bei Ersterem würden sie wohl ziemlich eins aufs Maul kriegen, bei Letzterem wohl auch.
„Also teile dein Wissen was Messer angeht mit uns." Ich musste leicht lächeln. Nichts lieber als das.
„Ok, also ganz ehrlich Jungs. Wenn ihr die Messer so festhaltet, wird jeder Windstoß euch das Ding aus der Hand reißen. Da muss man sich kein bisschen mit Kämpfen auskennen."
Ich stand lachend in der Ecke vom Dach. Juan und Jordi waren wirklich ungeschickt, was ihre Waffen anging. Ares, ich hoffe wirklich, sie haben ein paar andere Talente, um sich in der Welt des Ghettos irgendwie durchzusetzen.
„Jetzt lach nicht, Charlie."
„Aber ihr stellt euch so ungeschickt an. Wie konntet ihr solange hier überleben? In allen Ghettos, in denen ich bisher gelebt habe, hättet ihr keinen Tag durchgehalten. Selbst das Ghetto von Windsor ist eigentlich ein richtig schöner Ort." Die beiden Jungen hielten in der Bewegung inne. Ich wurde ziemlich ungläubig angestarrt, während ich mir auf die Unterlippe bis. Zwar hatte ich nicht vor, meine Vergangenheit hier zu verheimlichen, doch alles über mich herausposaunen wollte ich eigentlich auch nicht. Hogwarts hatte mich irgendwie unvorsichtig werden lassen, was Informationen über mich anging.
„Ghettos, in denen du gelebt hast?" Ich drehte mich seufzend zum Geländer des Daches.
„Man lernt nicht, mit einem Messer umzugehen, wenn die Eltern ein paar Millionen auf dem Konto haben und nur wollen, dass man Ballett tanzt."
„Also haben sich deine Eltern hochgearbeitet?" Aus dieser Sache kam ich wohl ohne Lüge nicht heraus.
„Kommt darauf an, auf welche Eltern wir uns jetzt beziehen. Ich bin adoptiert. Vor zwei Wochen waren meine jetzigen Eltern nur irgendwelche Fremde." Ich spürte, wie noch jemand auf das Dach trat. Auch wenn die Tür zum Treppenhaus nicht quietschte, stellten sich meine Nackenhaare auf. Instinkte.
„Du bist also adoptiert. Das erklärt einiges." Das tat es wohl. Doch momentan interessierte mich etwas anderes viel mehr. Die Person, welche das Dach betreten hatte. Neugierig wandte ich mich wieder vom Geländer ab, weshalb die dunklen Gassen nun wieder in meinen Rücken lagen.
Warum überraschte es mich nicht, die Person zu sehen, welche nun in der Tür zum Treppenhaus mit verschränkten Armen stand.
„Hallo, Jo." Ich versuchte es mit einem freundlichen Grinsen, doch ihr bitterböser Blick machte es mir nicht ganz einfach.
„Was macht die hier?"
„Langeweile vertreiben." Ich wurde ziemlich misstrauisch angesehen.
„Ach, ihr beide kennt euch."
„Charlotte Cunningham. Meine neue Klassenkameradin", wurde ich von der Mexikanerin vorgestellt, die noch immer nicht so aussah, als wüsste sie, was sie von dieser Situation halten sollte.
„Ich wusste, Charlie geht mit Jo auf die schicke Vorortschule."
„Die Cunninghams haben Geld und wollen ihren Ruf nicht beschmutzen. Natürlich schicken sie mich auf eine schicke Schule. Dass sie nicht meine echten Eltern sind, hast du wohl mitbekommen." Leichtes Nicken. Meine Klassenkameradin wandte sich an die beiden Jungen.
„Jordi, Juan, deberías entrar. Mamá está molesta porque no viniste a cenar." Ich verdrehte die Augen. Einfach auf spanisch mit den beiden Typen zu reden, damit ich kein Wort verstand.
„Wir kommen sofort. Charlie, es war uns eine Freude, dich kennenzulernen, aber wir müssen herein." Jordi grinste mich an
„Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder." Juan wank mir noch einmal zum Abschied, bevor er zusammen mit seinen Bruder im Treppenhaus verschwand. Nur Jo und ich blieben hier oben stehen.
„Es wäre nett, wenn du in der Schule nicht herumposaunen würdest, dass ich mich hier herumgetrieben habe oder eigentlich adoptiert bin."
„Willst du nicht deinen guten Ruf bei Eleanor zerstören? Sie würde dich nicht mehr mit dem Arsch angucken, wenn sie es wüsste." Ich schüttelte den Kopf.
„Nein, darum geht es nicht. Eleanor interessiert mich nicht. Ich habe nur schon genug Streit mit den Cunninghams und wenn sie erfahren, dass ich hier war, werden sie wahrscheinlich komplett in die Luft gehen. Mal abgesehen davon, dass alle einen riesen Aufstand machen werden, wenn sie herausfinden, dass ich meine Vergangenheit überall herumposaune. Wahrscheinlich werde ich dann sofort wieder woanders hingebracht." Die Mexikanerin sah mich nachdenklich an. Sie schien innerlich mit sich zu ringen. Wahrscheinlich wollte ein Teil von ihr mir eins auswischen. Sich an den Reichen rächen, weil sie sie immer so runter machten.
„Was habt ihr mit den Messern hier oben gemacht?"
„Ich dachte, ich bringe den beiden bei, wie man mit den Dingern umgeht, bevor sie jemanden ein Auge ausstechen." Das wütende Funkeln in Jos Augen übernahm die Überhand. Offensichtlich war es ein Fehler gewesen, ihr die Wahrheit zu sagen. Sie wollte wohl lieber angelogen werden.
„Halte dich von meinen Brüdern fern. Meine Familie hat schon genug Probleme, weil irgendwelche Leute meinen unbedingt mit Messern rumspielen zu müssen. Jetzt musst du die beiden pubertären Idioten nicht auch noch bestärken." Das Mädchen drehte sich von mir weg.
„Jo, ich wollte niemanden damit verärgern. Tut mir leid, dass ich es ihnen beibringen wollte. Und tut mir leid, dass ich in der Schule nicht etwas gesagt habe, um dich zu verteidigen. Das war nicht richtig von mir." Eigentlich hatte ich nur irgendwie einen Platz in dieser Stadt finden wollen, an dem ich mich wohl fühlte.
„Wirst du es morgen anders machen?" Ich überlegte kurz. Heute hatte ich mich brav an Eleanor gehalten, um die Cunninghams nicht zu verärgern. Doch nachdem Prudence nach dem Unterricht Eleanors Mutter getroffen hatte und ich mich wohl nicht so perfekt benommen hatte, wie ich gedacht hätte, hatte ich eigentlich keine Lust, mir weiter Mühe zu geben.
Mehr als mein bestes Tun konnte ich nun einmal nicht. Außerdem, was half es mir, wenn die Cunninghams eine Person mochten, die gar nicht existierte. Es war mir zu anstrengend für die Anerkennung die ganze Zeit etwas vorzuspielen. Es würde mich eh nicht weiterbringen. So gerne ich auch das Gefühl haben wollte wirklich die Tochter von den Cunninghams zu sein, ich würde es nie verspüren, solange sie nur eine Maske mochten.
„Ja, werde ich."
„Wenn du meinen Brüdern nicht weiterhin dumme Ideen einpflanzt, darfst du wiederkommen."
„Ich weiß nicht, was dein Maßstab für dumme Ideen ist. Wenn ich irgendwo spraye, ist das dann dumm oder gehört das zu den Dingen, die auf Grund deiner Herkunft als akzeptabel gelten."
„Ich komme aus Mexiko."
„Ich meine, die Ghettoherkunft. Obwohl mir das hier, wie ein sehr nettes Ghetto vorkommt. Bis auf deine Brüder hat mich niemand mit einem Messer bedroht. Dabei bin ich hier Ewigkeiten in meinen teuren Klamotten rumgelaufen." Ich wurde mit offenem Mund angestarrt. Das war wohl nicht die richtige Antwort gewesen. Wahrheit schien hier wirklich keinen hohen Stellenwert zu haben.
„Sie haben was getan?"
„Mich mit einem Messer bedroht, um mein Geld zu stehlen. Bist du jetzt wütend auf sie?" Dem Blick von Jo nach zu urteilen wollte sie ihren Brüder mit meinem Messer am liebsten aufschlitzen.
„Ich reiße ihnen die Köpfe ab!" Warum erinnerte mich meine Klassenkameradin gerade an eine Mutter, die erfahren hat, ihre beiden Söhne hatten gerade Scheiße gebaut.
„Aber du bist die kleine Schwester. Das ist irgendwie verdreht. Seit wann erziehen die Kleinen die Großen? Muss es nicht anders herum sein?" Vielleicht war es doch gut, dass die Cunninghams und ich keine richtige Familie waren. Ein Jahr Erfahrung bei den Howarth haben offensichtlich nicht dazu geführt, dass ich wirklich dieses Familiending durchschaute.
Vorsichtig klopfte ich an Nymphedoras Zimmertür. Die Aurorin wäre mit Sicherheit beruhigt, wenn sie wusste, ich war wieder zu Hause.
„Herein." Ich öffnete die Tür einen Spalt breit. Blitzschnell schlüpfte ich herein, bevor ich sie hinter mir schloss. Neugierig sah ich mich um. Das Zimmer war ein wenig kleiner als das meine, doch für meine Verhältnisse noch immer groß.
Ein großes Himmelbett stand in der Mitte Wand gegenüber der Tür. Links führten zwei Türen vermutlich zu Badezimmer und Kleiderschrank. Dazwischen stand ein kleiner Schminktisch. Auf der rechten Seite stand ein Sofa. Auf diesem saß Nymphedora, ein Buch in ihrer Hand. Das Zimmer wurde nur mit Hilfe ihrer Leselampe erleuchtet.
„Du bist zurück. Und du siehst wesentlich glücklicher aus als noch nach der Schule. Oder dem Abendessen mit dem Cunninghams."
„Ghettos sind wesentlich mehr mein Ding als das hier." Ich machte eine ausladende Geste. Nymphedora lächelte verstehend. Sie klopfte auf den Sofaplatz neben sich.
„Willst du dich ein wenig zu mir setzen? Du erzählst mir ein wenig von deinem Abend und ich erzähle dir etwas von meinem." Ich biss mir unsicher auf der Unterlippe herum. Seit wann wollten Leute mit mir über meinen Tag reden?
„Ok, ich fange an. Nach dem Abendessen war ich in meinem Zimmer, als ich gehört habe, wie deine Mutter in dein Zimmer gehen wollte. Keine Sorge, sie hat deine Abwesenheit nicht bemerkt. Aber ich glaube, sie will dir jetzt einen Hund kaufen. Ich habe versucht, sie von ihrem Idealbild abzubringen. Vielleicht versteht sie jetzt ein bisschen besser, dass sie nicht eine kleine Charlotte aufgenommen hat, die ihre Leben lang gelernt hat in dieser Welt zurechtzukommen, sondern eher ein kleiner eigensinniger Hitzkopf." Ich merkte, wie ich rot anlief. Nymphedora hatte sich wirklich für mich eingesetzt?
„Danke."
„Dank mir nicht zu früh. Noch hat sich nichts geändert. Jetzt komm schon und setze dich." Ziemlich zögerlich setzte ich mich in Bewegung.
„Was ließt du?"
„Die Märchen vom Beedle dem Barden. Kennst du sie?" Ich schüttelte den Kopf. Ich wusste zwar, dass es die Zauberermärchen waren, doch man hatte sie mir nie erzählt.
„Soll ich dir eines vorlesen?" Ich zuckte überfordert mit den Schultern. Mir hatte zuletzt jemand etwas vorgelesen, als ich bei den Howarths gewohnt habe.
„Dann mache ich das Mal. Welches nehmen wir denn? Oh, das ist ein schönes Märchen. Der Zauberer und der hüpfende Topf."
„Charlotte!", hörte ich Prudence Cunningham durch das Haus schreien. Leise gähnend rieb ich mir über die Augen. Was hatte ich jetzt schon wieder falsch gemacht?
„Charlotte!" Was wollte diese Frau unbedingt von mir? Und warum brüllte sie herum, wenn ich friedlich schlafend in meinem Bett lag. Ich richtete mich auf. Damit sah ich mich auch das erste Mal in diesem Raum um. Nein, ich lag nicht in meinem Bett, sondern auf Nymphedoras Sofa. Also hatte meine Adoptivmutter nach mir gesehen und das leere unbenutzte Bett entdeckt. Deshalb brüllte sie nun durch das Haus. Die Tür zu diesem Raum wurde aufgerissen.
„Mrs Whittaker-"
„Guten Morgen, Miss Cunningham. Charlotte hat hier geschlafen." Es wurde kurz zwischen Nymphedora und mir hin und her gesehen.
„Ab jetzt schläfst du immer in deinem Bett, Charlotte." Die Frau drehte sich um. Ich sah verunsichert zu der Aurorin. War es jetzt etwas Schlimmes hier auf dem Sofa einzuschlafen?
„Charlotte, wie wäre es, wenn du dich schon mal für die Schule fertig machen gehst. Miss Cunningham, ich glaube, wir sollten uns nochmal unterhalten." Ich schloss die Tür hinter mir. Kaum war sie ins Schloss gefallen, hörte ich drinnen Nymphedora und Miss Cunninghams streiten.
„Warum bestrafen sie sie dafür, dass sie hier auf dem Sofa eingeschlafen ist? Sie hat nichts falsch gemacht."
„Ich habe sie nicht bestraft."
„Sie haben es ihr verboten, das reicht schon aus. Sie gibt sich wirklich Mühe, aber sie wird niemals aus ihrer Haut rauskönnen. Sie ist nicht in dieser Welt aufgewachsen, tanzt erst seit ein paar Tagen Ballett und sie haben sich gestern beim Abendessen über ihr Benehmen und ihre schlechten Leistungen beschwert. Mal ganz von der Aktion mit den Pfannkuchen am Morgen abgesehen. Jetzt ist es falsch, dass sie gestern Abend hier eingeschlafen ist. Wie wäre es, wenn sie mal aufhören, an allem, was sie macht, was auszusetzen und sie in ihren Stärken fördern. Sie ist keine Balletttänzerin. Schon gar nicht, wenn sie erwarten, dass sie in drei Wochen zum Profi wird. Sie mag Kampfsport und Kunst. Wie wäre es mit Zeichenunterricht und Messerwerfen. Bei beiden Hobbys wird sie wesentlich lieber versuchen, Preise abzuräumen. Und selbst da, würde ich ihr nicht so einen Druck machen. Merlin, das Mädchen ist seit ein paar Tagen hier. Wie wäre es, wenn sie mal aufhören, immer nur das zu machen, was sie für richtig halten und ihr ein wenig Freiraum geben. Am besten, bevor sie aufhört, sich dem allen hier irgendwie anpassen zu wollen, und anfängt, mit dem Kopf durch die Wand zu düsen. Eins kann ich ihnen sagen. Sie gehört nicht zu dem Mädchen, die es wirklich interessiert, ob sie jetzt ein Markenkleid trägt oder eben nur eines aus dem Secondhandladen."
„Reden sie gefälligst nicht so mit mir, Mrs Whittaker. Ansonsten werde ich dafür sorgen, dass sie durch einen anderen Polizisten ersetzt werden." Ich schluckte schwer. Nymphedora sollte von hier auf gar keinen Fall weggehen. Wer wusste schon, wer ihr Nachfolger werden würde?
„Das ist eine wirklich super Idee. Feuern sie mich. Mal sehen wie lange, sie dann noch hierbleibt. Sie geben ihr jedenfalls keinen Halt." Ich hörte Schritte zur Tür kommen. Schnell flitzte ich in Richtung von meinem Zimmer. Prudence würde es sicherlich nicht gutheißen, wenn ich sie belauschte.
Ich trat von der Essensausgabe zurück. Obwohl ich mir wirklich Mühe gegeben hatte, hatte Eleanor mich nicht in Ruhe gelassen. Anscheinend war sie meine Daphne Greengras. Ich konnte machen, was ich wollte, ich wurde sie nicht los. Was meine Adoptivmutter ihrer Mutter wohl gesagt hatte, damit sich die Bienenkönigin zu meiner Untertanin herabstufen ließ?
Während des Unterrichts hatte es mich nicht gestört, dort haben wir sowieso nur still nebeneinandergesessen. Sie hatte mitgeschrieben, ich hatte rumgekritzelt. Außerdem hatte ich im Klassenraum keine große Wahl, wo ich mich hinsetzte.
Doch hier in der Mensa konnte ich es mir sehr wohl aussuchen und auf die Balletttänzerinnen hatte ich nun wirklich keine Lust. Vor allem weil ich gestern Abend Jo ein Versprechen gegeben hatte. Also ließ ich den Tisch, welchen meine Mutter für mich vorgesehen hatte, links liegen. Stattdessen steuerte ich auf den noch fast leeren Tisch zu. Nur Jo und zwei ältere Schüler saßen dort.
„Ähm, Charlotte, das ist nicht unser Tisch. Dort sitzen immer die Leute aus dem Ghetto." Ich schüttelte den Kopf.
„Nein, laut Definition leben sie nicht in dem Ghetto. Eigentlich tun wir es sogar eher als sie. Früher bezeichnete der Begriff Ghetto ein abgeschlossenes Stadtviertel, in dem die jüdische Bevölkerung abgetrennt von der übrigen Bevölkerung lebte, na ja, eigentlich leben musste. Das trifft nicht auf die Leute an dem Tisch zu. Heutzutage bezeichnet es ein Stadtviertel, in dem diskriminierte Minderheiten, Ausländer oder auch privilegierte Bevölkerungsschichten zusammenleben. Nach dieser Definition leben wir in einem Ghetto, auch wenn der Begriff eher als abwertend genutzt wird. Man würde unser Vorort im Alltag nicht als Ghetto bezeichnen. Bei Jo würde es auch noch zutreffen, soweit ich es mitbekommen habe, doch die meisten kommen aus der Mittelschicht und leben nicht in einem, auf diese Definition passendes, Gebiet. Die dritte Definition bezeichnet einen bestimmten sozialen, wirtschaftlichen, geistigen oder Ähnlichem Bezirk oder Rahmen, aus dem sich jemand nicht entfernen kann. Dass sich die Leute aus ihrem Bezirk entfernen können, ist mit ihrer Anwesenheit hier bewiesen. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest. Ich würde gerne mein Mittagessen essen und vielleicht noch ein wenig zeichnen."
Ich wurde mit offenem Mund angestarrt. Mit dieser Reaktion hatte Haynes wohl nicht gerechnet. Ich ließ mich neben Jo an den Tisch nieder. Wenn ich irgendwo einen Platz an dieser Schule hatte, dann hier. Ich nickte der Stipendiatin einmal kurz zu, welche mich anlächelte. Sie schien kurz zu überlegen, ihr Buch wegzulegen, doch ich hatte schon lange mein Zeichenblock rausgeholt. Ich schlug meine aktuelle Seite auf, weshalb das strahlende Lächeln von Adina mir entgegenblickte. Ich vermisste dieses Mädchen wirklich sehr.
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