Kapitel 34

In Hogwarts war die Weihnachtsstimmung eingezogen. Mittlerweile hing überall die Weihnachtsdeko, gefühlt an jeder zweiten Ecke musste man einem Mistelzweig ausweichen und auf dem Gelände waren überall Schneemänner zu finden. Wann immer man durch die Gänge lief, das Thema waren oft die letzten Weihnachtsgeschenke, die noch gekauft werden müssen, die Freude auf die Feiertage und die Frage, was die Schüler in den Ferien machen wollten.
Es war eigentlich auch kein Wunder. In genau zwei Wochen war der erste Weihnachtstag, in dreizehn Tagen würde ich mit den Franzosen und Sirius feiern. Ein weiteres mehr oder weniger gemütliches Weihnachtsfest ein Tag zu früh mit mehr Speisen, als irgendjemand essen konnte.
Eine weitere Sache, die mich sehr glücklich in Hinblick auf Weihnachten machte, war die Tatsache, dass ich Harry und Ron zwei Wochen nicht sehen müsste. Der Weasley wäre im Fuchsbau, mein Fast-Bruder blieb in Hogwarts und ich hätte Sirius ganz für mich alleine. Auch wenn es ein wenig gemein gegenüber Harry war, freute ich mich sehr darüber. Da der Gryffindor noch immer auf mich wütend war, hielt sich mein schlechtes Gewissen, dass er nicht mit Sirius feiern konnte und ich mich darüber freute, ziemlich in Grenzen.
Noch viel schöner als meine beiden Väter für mich alleine zu haben, war die Tatsache, dass ich während der Ferien keinen Unterricht in Verteidigung gegen die dunklen Künste absitzen musste. Auch wenn es mit Antiope unter meinem Tisch wesentlich erträglicher war, jede Stunde war sehr eintönig. Wir kamen herein, mussten die Lehrerin begrüßen, unsere Bücher aufschlagen und ein Kapitel lesen. Wirklich langweilig, eintönig und Zeitverschwendung.
Auch jetzt saßen wir in einer dieser langweiligen, trockenen Stunden. Nicht einmal meine Musik, die ich über einen meiner Kopfhörer hörte, konnte die ganze Veranstaltung interessant machen.
Antiope saß zwischen Blaise und mir auf dem Boden, hatte ihren Kopf auf mein Bein gelegt und ließ während des Lesens von mir kraulen. Auch die Hand meines Freundes wanderte immer mal wieder zu dem braunen Wuschelkopf meines Haustieres, strichen liebevoll durch das Fell oder suchte nach der meinen. Ich mochte es, wenn wir beide den Kopf meines Hundes streichelten und uns dann zufällig dabei berührten. Es ließ immer ein wunderschönes Kribbeln in mir entstehen.
In diesem Moment berührte Blaises beiläufig meine Hand. Nur ganz kurz während er Antiope über den Kopf streichelte. Das wunderschöne Kribbeln blieb zurück und ein kleines Lächeln erschien auf meinem Gesicht. Ich war wirklich sehr in Blaises verliebt.
Beim nächsten Mal griff er nach meiner Hand. Mir wurde vorsichtig mit dem Daumen über den Handrücken gestrichen, was erneut dieses leichte Kribbeln hinterließ. Jetzt sah ich doch mal zu meinem Freund herüber, welcher auch einen kurzen Blick zu mir wagte, bevor er sich wieder seinem Exemplar von Theorie magischer Verteidigung zuwandte. Sein Daumen strich ab noch immer über meine Hand.
Die Alarmglocken in meinem Kopf fingen an zu schrillen. Irgendwo war Gefahr, irgendwer war in Gefahr. Erschrocken zog ich meine Hand weg und knallte dabei gegen die Tischplatte, weshalb mein Tintenfass herunterfiel. Es zerbrach auf dem Fußboden und eine blaue Pfütze erschien.
Nun hatte ich die Aufmerksamkeit der ganzen Klasse, was ich allerdings ignorierte. Stattdessen sah ich mich um, doch nirgendwo war eine Gefahr zu erkennen. Sie galt wohl auch nicht mir, ansonsten würde ich wie sonst instinktiv in die Richtung sehen. Doch ich erkannte auch nichts, was eine andere Nymphe hier im Raum gefährden würde? Galt die Gefahr einer Nymphe weiter weg? Ging es um Sirius? Oder Marlon?
„Chrm, Chrm", war das künstliche Husten von Umbridge zu hören, weshalb die Klasse sich schnell wieder dem Lesestoff auf dem Tisch vor sich zuwandte. Na ja, fast die ganze Klasse. Blaise und Sue sahen noch immer misstrauisch zu mir, während meine Instinkte noch immer laut vor einer Gefahr warnten.
Ich ließ noch ein paar Sekunden meinen Blick durch den Klassenraum schweifen, doch noch immer war keine Gefahr zu sehen. Also betraf es jemanden außerhalb. Doch wer und warum? Was war Schreckliches passiert, dass ich es hier in Hogwarts spüren konnte? Hatte Sirius den Grimmauldplatz verlassen? Oder war Marlon auf einer Jagd? Aber davor erzählte er mir immer. Hatte der dunkle Lord die Kriegsnymphenfamilie angegriffen? Aber war er stark genug dafür? Vermutlich nicht. Oder hatte er Tasha gefunden? Meine arme, kleine, wehrlose Schwester?
Mein Herz verkrampfte sich schmerzhaft, während ich immer unruhiger wurde. Noch immer warnten mich meine Instinkte vor Gefahr. Ich wollte einfach nur noch aus diesem Klassenraum raus, um herauszufinden, was gerade Schreckliches passieren, um irgendwie einzugreifen. Wenn es dafür nicht schon zu spät war.
Ich sprang von meinem Stuhl auf. Dieser fiel laut klappernd zu Boden, weshalb die Aufmerksamkeit der Leute wieder auf mir lag. Antiope sah mir empört nach, während ich zur Tür rannte.
„Ms Black, wo wollen sie hin?", rief mir Professor Umbridge hinterher.
Ich reagierte gar nicht darauf. Sollte die Großinquisitorin doch schreien, so viel sie wollte. Es gab Wichtigeres, ich musste herausfinden, was los war.
Ich rannte noch ein paar Meter weiter, um Sicherheitsabstand zwischen das Klassenzimmer und mich zu bringen. Zum Glück war nicht weit entfernt ein Geheimgang, den Umbridge sicherlich nicht kannte. Ich betrat ihn, ließ mich an der Wand herunterrutschen, dann aktivierte ich mein Armband. Ausnahmsweise rief ich nicht nur meine beiden Väter an, sondern alle, die ebenfalls eines bei sich trugen.
Sirius war der Erste, der heranging.
„Müsstest du nicht gerade in Verteidigung gegen die dunklen Künste sitzen, Welpe?", wurde ich amüsiert gefragt.
„Irgendwas stimmt nicht", stellte ich mit gequälter Stimme fest. Zwar schrien meine Instinkte selbst nicht mehr Gefahr, doch das Gefühl halte noch dumpf nach.
„Was ist los Welpe?", wurde ich besorgt gefragt.
Ich wollte gerade antworten, doch dann ging der Geheimgang auf. Ich zuckte leicht zusammen, doch es kam niemand Gefährliches herein. Antiope stürzte sich auf mich, leckte mir übers Gesicht und stupste mir mit ihrer Nase gegen meine. Susanne folgte ihr sichtlich besorgt.
„Umbridge tobt, weil du weggelaufen bist und du versuchst mich über mein Armband", stellte meine Cousine fest.
„Ich rufe alle an. Irgendetwas ist passiert", erzählte ich mich belegter Stimme.
„Ist jemand bei dir, Welpe?", fragte in diesem Moment mein Vater.
„Sue ist mir gefolgt", berichtete ich.
Meine Cousine ließ sich neben mich auf dem Boden nieder. Sie legte mir tröstend einen Arm um die Schulter, bevor sie sich selbst in das Gespräch einklinkte. Gerade rechtzeitig, um Arienne zu hören, die ziemlich verwirrt fragte, ob ich nicht eigentlich im Unterricht sein sollte. Eine Frage, die ich hoffentlich gleich noch zweimal beantworten würde.
„Wir kommen immer nur bis zu den Worten, dass etwas nicht in Ordnung ist", erklärte Sirius offensichtlich besorgt und gleichzeitig auch ungeduldig und genervt, weil er keine Antwort von mir bekam.
„Irgendjemand ist in Gefahr", brachte ich heraus.
„Deine Instinkte, chiot?", wurde ich besorgt von Arienne gefragt. Ich nickte leicht, was die anderen natürlich nicht sehen konnten.
„Sie bestätigt es."
„Warum gehen Roux und Marlon nicht ran?", wimmerte ich. Ganz automatisch zog ich meine Beine an mich heran und umschlang sie mit den Armen.
„Roux sitzt gerade im Unterricht, chiot. Soll ich sie herausholen?"
Ich wusste genau, eigentlich sollte ich jetzt nein sagen. Roux stand gerade bei Professor Sprout in einem Gewächshaus. Auch wenn ich der dicklichen Lehrerin nicht als eine der sehr guten Duellanten von Hogwarts einschätzen würde, ich war mir sehr sicher, wenn irgendetwas dort vorgefallen wäre, würde sie Mittel und Wege kennen, die anderen Lehrer zu Hilfe zu rufen. Und Roux hätte wahrscheinlich ebenfalls versucht, uns zu kontaktieren, wenn die Vierzehnjährige nicht einfach selbst alle Angreifer niedergemetzelt hätte.
Auch wenn meine jüngere Cousine wirklich nicht so kämpferisch wie Sue und ich unterwegs war, im Notfall wusste sie genau, wie man einen Angreifer erledigte. Wäre sie also in Gefahr, hätte man das in Hogwarts wohl schon längst mitgekriegt. Trotzdem wollte ich sichergehen.
„Bitte, geh zu ihr", wies ich Arienne mit noch immer belegter Stimme an.
Sue begann sichtlich überfordert meine Schulter zu tätscheln, was ich nur mit einem leisen Wimmern quittierte. Ich konnte doch nicht schon wieder jemanden verlieren. Ich hatte doch gerade erst eine Familie gekriegt und musste sie bald schon wieder verlassen, da konnte man mir nicht jemanden daraus nehmen.
„Weiß jemand etwas von Marlon?", fragte ich verängstigt. Dass er sich noch immer nicht gemeldet hat, war wirklich nicht normal für ihn. Meistens war er sehr schnell für mich verfügbar.
„Er ist in Texas, Welpe", erzählte mir Sirius. „Wir haben neue Hinweise auf Natasha gefunden und er wollte ihnen nachgehen."
Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Er war nicht in Sicherheit, sondern in Texas. Auf der Suche nach meiner kleinen Schwester. Er war nur in Gefahr, weil ich meine Natasha so sehr vermisste.
„Keine Sorge, er ist nicht alleine aufgebrochen. Ihm geht es bestimmt gut. Ich appariere nach Frankreich und schaue nach, ob dort jemand etwas von ihm gehört hat. In fünf Minuten wissen wir mehr."
Eine Zeitlang war alles ruhig, dann meldete sich wieder Arienne zu Wort: „Roux ist putzmunter."
Eigentlich sollte diese Nachricht mich beruhigen. Eine weitere Person, die ich sehr gern hatte und nicht in Gefahr war. Doch tatsächlich bewirkte sie genau das Gegenteil. Mit jeder Person, die wir ausschlossen, war die Wahrscheinlichkeit höher, dass es wirklich Marlon war. Was wohl aus mit werden würde, wenn mein Adoptivvater sterben würde? Die Engländer würden mich zurückverlangen. Die Kanadier würden das vermutlich ablehnen, aber erstmal gäbe es ein diplomatisches Tauziehen um mich.
„Welpe, es war Marlon", hörte ich in diesem Moment Sirius sagen, weshalb ich das Gefühl hatte, jemand würde seine Hand in meiner Brust versenken und versuchen mein Herz herauszureißen. „Es ist schon ein Brief nach Hogwarts unterwegs, damit Dumbledore euch nach Hause schickt. Er wird dort jeden Moment eintreffen. Bitte, geht zu Professor McGonagalls Büro, damit euch gleich niemand suchen muss."
„Wir sind schon unterwegs", erklärte Sue erstaunlich gefasst. Man hörte ihr nicht an, dass sie gerade die Nachricht erhalten hatte, ihr Onkel hätte in furchtbarer Gefahr geschwebt. Bisher war auch noch nie ein Kind mitten im Schuljahr für ein paar Tage nach Hause geholt worden. Wenn unsere Familie das machen wollte, hatte Marlon sicherlich nicht nur ein paar Kratzer abgekriegt.
„Patricia, na komm." Meine Cousine stand mittlerweile vor mir und hielt mir auffordernd ihre Hand hin. Zögerlich griff ich danach. Es gab nur einen Ort, wo ich Antworten auf all meine Fragen bekam und der war leider nicht hier.

Unruhig lief ich auf und ab. Auf und ab. Wir waren seit fünf Minuten in Professor McGonagalls Büro und bisher haben wir noch keine neuen Informationen erhalten. Die Lehrerin wirkte sehr froh, dass Sue und ich brav bei ihr vor der Tür standen. Während meines Telefonats mit Sirius und den anderen war wirklich ein Brief hier eingetrudelt, indem darum gebeten wurde, uns vier schnellstmöglich nach Hause zu schicken, weil Marlon verletzt worden war.
Daher wusste ich noch immer nicht, wie schlimm es nun um meinen Onkel stand. Wer hatte ihn angegriffen? Würde er überleben? Sollte ich nur kommen, um mich zu verabschieden? War er schon tot und man wollte mir möglichst schonend beibringen, dass ich nun offiziell Vollwaise war?
„Ms Black, der Portschlüssel geht gleich los", riss mich Professor McGonagall aus meinen ziemlich dunklen Gedanken.
Ich sah etwas verschreckt zu dem Tagespropheten von gestern, welcher uns gleich nach Frankreich bringen sollte. Auch wenn es mir am Anfang nicht schnell genug gehen konnte, jetzt gerade wollte ich es am liebsten herauszögern.
„Patricia, komm schon her", forderte mich Ari auf. Sie hielt mir die Hand hin, welche ich leicht zitternd ergriff. Ich wurde bestimmt an sie herangezogen. Wahrscheinlich musste ich gleich gar nicht mehr die Zeitung berühren, weil mich notfalls meine große Schwester mitziehen würde.
„Es wird alles gut werden", wurde mir von Arienne auf Französisch ins Ohr geflüstert. „Wenn es wirklich ernst wäre, würde Vivienne hier stehen, um ihren kleinen chiot zu knuddeln, zu lieben und ihn offiziell als ihre nächste Adoptivtochter zu adoptieren. Und jetzt berühre die Zeitung."
Noch immer mit zitternder Hand kam ich der Aufforderung. Noch gerade rechtzeitig, denn im nächsten Moment ging es schon los. Wieder wurde ich am Nabel gerissen, während die Farben um mich herumwirbelten. Ich war sehr dankbar dafür, dass dieses Mal Roux und Sue Antiope übernommen hatten.
Wir kamen unsanft auf den Boden auf. Ich war dankbar dafür, dass Arienne mich noch immer fest umklammert hielt. Meinen Kopf hatte ich an ihrer Schulter vergraben, um die Umgebung nicht sehen zu müssen. Wenn ich das Schloss nicht sah, war es nicht Wirklichkeit. Dann wäre mit Marlon alles in Ordnung.
Mir entfuhr ein leises Wimmern. Nein, so funktionierte das nicht. Mein Onkel-Vater war nicht in Ordnung, nur weil ich mich an Arienne kuschelte und hoffte, alles würde sich von alleine wieder einrenken. Er war auf einer Mission verletzt worden, auf die er nur wegen mir gewesen war.
Ich merkte, wie mir von hinten eine Hand auf die Schulter gelegt wurde.
„Welpe? Komm her. Wir gehen in den Salon, da erfahrt ihr dann, was passiert ist", hörte ich Sirius hinter mir.
„Wird er überleben?", nuschelte ich in Ariennes Bluse.
„Ja", beruhigte mich mein Vater, „da war sich euer Heiler sicher. Marlon ist schon oben in seinem Zimmer und wird dort verarztet. Sobald das passiert ist, kriegen wir bescheid, wie es genau um ihn steht."
Ich löste mich von Arienne, nur um Sirius um den Hals zu fallen. Er strich mir kurz liebevoll über die Haare, dann wurde ich vorsichtig hochgenommen und tatsächlich bis in den Salon getragen. Dort ließ sich mein Vater auf ein Sofa fallen, während ich auf seinem Schoß platziert wurde. Auch schon der Rest der Familie hatte sich hier eingefunden.
Frédéric Allaire sah so aus, als würde er Nahe eines Nervenzusammenbruchs stehen. Auf seiner rechten Wange war wohl irgendeine Verletzung, jedenfalls war eine grüne Salbe dort dick drauf geschmiert worden.
Seine Ehefrau hatte ihm tröstend einen Arm um die Schulter gelegt. Auch sie wirkte allerdings äußerst besorgt und ihr Blick huschte gehetzt durch den Raum.
Roux und tatsächlich auch Sue liefen sofort zu ihren Eltern herüber. Die Jüngere der beiden kuschelte sich auf den Schoß ihres Vaters, während sich die Ältere neben ihre Mutter fallen ließ, ihre Hand ergriff und wortlos Löcher in die Luft starrte.
Arienne hingegen kam mir und Sirius hinterher. Sie begann mal wieder damit mich trösten zu wollen, vermutlich um so ihre eigene Trauer zu verarbeiten.
„Was ist denn mit Marlon passiert und wird er wieder gesund?", fragte ich vorsichtig nach. Ich hatte wirklich Angst vor der Antwort. Wie man an Samuel sah, konnte man nicht alles heilen. Er konnte bis heute nicht wieder laufen.
Was war, wenn mein Onkel nicht mehr laufen konnte? Würde Yasmine ihn noch ohne Beine lieben? Oder war er noch viel mehr gelähmt? Konnte er mich vielleicht nicht mehr umarmen? Hatte er ein Bein verloren? Einen Arm? Fuß? Hand? Ohr? Ein Stück der Nase? Oder er hatte eine Hirnschädigung? Eine Amnesie? Was war, wenn er mich nicht mehr erkennen würde?
„Wir wissen noch nicht, ob er bleibende Schäden haben wird, chiot", erinnerte mich mein Vater an seine vorherige Aussage, sie wüsste noch nicht, wie genau es um ihn steht. Als Nächstes sah Sirius kurz zu Frédéric, doch dieser wirkte nicht so, als würde er noch etwas hinzufügen wollen.
„Es kann aber durchaus sein, dass er bleibende Schäden davon trägt", fuhr mein Vater fort. „Ich hatte dir schon erzählt, dass Marlon einem Hinweis auf Natasha nachgeht. Genauer gesagt wurde der Bewegungsmelder-Zauber an dem ehemaligen Schloss ihrer Familie ausgelöst. Daher sind Marlon, Frédéric und Margaux nach Texas gereist, um nachzusehen, wer dort ist. Es war Natasha, Welpe ..."
Sie hatten Natasha gefunden? Nach all den Jahren war meine kleine Schwester endlich aufgetaucht? Tyra würde heimkehren? Zu mir zurückkehren?
Mein Herz schien vor Freude zu zerspringen. Auch wenn die Situation eigentlich gar nicht danach war, musste ich anfangen zu lächeln. Endlich war Natasha in Sicherheit.
„Wo ist sie? Ist sie auch verletzt?", fragte ich aufgeregt.
„Chiot, sie ist nicht hier", erklärte dieses Mal Vivienne ganz sanft.
„Habt ihr sie zu ihrem Vater gebracht?", wollte ich nun nicht mehr ganz so glücklich wissen. Nicht einmal hallo konnte ich ihr sagen.
„Es war Natasha, Patricia", kam es nun mit gequälter Stimme von Frédéric. „Sie hat Panik gekriegt, als wir appariert sind, und hat uns angegriffen. Sie hat Marlon mit einen ihrer Blitze erwischt, dann ist sie weggerannt so schnell sie konnte."
Das glückliche Lächeln gefror mir auf dem Gesicht. Also war meine kleine Schwester noch immer nicht in Sicherheit. Sie war noch immer ganz alleine auf dieser kalten Welt.
Wäre ich doch nur nicht in Hogwarts gewesen. Wäre ich hier gewesen, hätte ich mitgehen können. Mich hätte sie erkannt und gewusst, es droht ihr keine Gefahr. Dann hätte meine arme, kleine Schwester nicht in ihrer Panik Magie auf Marlon losgelassen. Sie würde jetzt hier mit meinem Onkel-Vater und mir bei einer leckeren Tasse Kakao sitzen, sich darüber freuen, ab jetzt wieder bei mir zu sein, und – es wäre alles einfach perfekt, wenn ich nur nicht in Hogwarts gewesen wäre.
„Und Margaux?", fragte ich mit belegter Stimme, was Arienne nur dazu veranlasste mich noch mehr trösten zu wollen.
„Es geht ihm gut, Patricia. Er ist oben bei Hestia und den Kindern", erzählte mir Vivienne.
„Das ist gut", murmelte ich etwas überfordert mit der ganzen Situation. Ich wusste nicht wirklich, wie es jetzt weitergehen sollte.
Marlon war oben, schwer verletzt, weil ich nicht bei ihm gewesen war. Eigentlich musste ich zu ihm, doch offensichtlich durfte ich nicht. Verständlich, schließlich sollten wir unserem Hauselfen nicht bei der Arbeit im Weg stehen.
Ein Blitzschlag war alles andere als ungefährlich. Es war eigentlich ein Wunder, dass mein Onkel-Vater definitiv überleben würde. Genug Leute starben an einem solchen. Und selbst die, die überlebten, hatten danach oft genug Folgeschäden: Eigentlich konnte alles kaputt gehen. Das Trommelfell konnte platzen, Muskeln gelähmt oder Nerven gestört werden, irreparable Hirn- und Herzschäden konnten auftreten. Die Liste, was mit Marlon sein Leben lang nicht stimmen würde, war so unendlich lang.
Und Natasha? Wenn sie so schnell gerannt war, wie sie konnte, konnte sie überall sein. Vielleicht saß sie gerade in Rio am Strand und erholte sich dort von dem Schock des Angriffes. Oder war sie in der Nähe geblieben? Sie wird wohl kaum grundlos zum Schloss gegangen sein. Vielleicht kam sie zurück, um ihr anliegen zu beenden. Ich musste dorthin, um nachzusehen, ob die Vierzehnjährige dort irgendwo war. Sie war bestimmt dort.
Wie vom Blitz getroffen, sprang ich von meinem Platz auf.
„Patricia?", rief mir Sirius nach.
„Ich muss Tasha suchen", rief ich den Leuten im Salon noch zu, während ich auch schon heraus stürmte.
„Sie ist weg!", wurde mir noch nachgerufen, doch ich ignorierte es einfach.

Von Zeus Schloss war nicht mehr als eine schon länger verlassene Ruine über. Die einstige Schöhnheit konnte man nur noch erahnen. Die ehemals weiß verputzten Wände waren an den meisten Stellen freigelegt worden. Viele der Ziegelsteine waren vom Dach gefallen und lagen nun zerbrochen auf dem Vorplatz. Die meisten Scheiben waren nur noch ein Scherbenhaufen, das Eingangsportal Opfer eines Sprengzaubers geworden. Pflanzen hatten versucht das verlassene Gebäude für sich zurückzugewinnen. Sie wucherten durch einige kaputte Fenster des Gebäudes.
Nichts lies erahnen, dass momentan noch eine andere Person, als ich hier war. Es herrschte eine beunruhigende Totenstille. Nicht einmal die Geräusche von Tieren wie das Zwitschern von Vögeln oder das Knacken eines Astes ließ darauf schließen, dass irgendjemand hier war.
Allerdings gab das Gebäude selbst genug Schutz. Ich wollte nicht ausschließen, dass irgendjemand oder irgendetwas dort lauerte. Vielleicht saß sogar meine kleine Schwester dort drin, hat gehört, wie jemand appariert ist, und wartete nun ängstlich, was noch passieren würde. Bestimmt hat sie Angst, dass Marlon mit Verstärkung zurückgekommen war, um sie zu fangen.
„Natasha!", schrie ich, so laut ich konnte. „Natasha? Bist du hier irgendwo?"
Ich bekam keine Antwort. Die Totenstille blieb, während ich mich in alle Richtungen drehte. Vielleicht sah ich doch irgendwo eine Bewegung, die mir verriet, dass meine kleine Schwester oder sonst irgendjemand hier war. Doch nichts.
Vorsichtig lief ich in Richtung des Gemäuers. Vielleicht war sie zu tief drin, um mich zu hören. Oder war sie am Rande des Geländes und hörte mich deshalb nicht? Doch irgendwo musste ich anfangen, als in dem ehemaligen Schloss von Zeus.
„Natasha!", schrie ich noch einmal, während ich dem Eingangsportal immer näher kam, doch wieder bekam ich keine Antwort.
Mein Medaillon begann sich zu erhitzen. Ich ignorierte es einfach, während ich vorsichtig die Eingangshalle betrat. Gerade hatte ich keine Lust mit Ares zu reden. Ich wollte meine kleine Schwester finden, damit dieser Tag nicht eine komplette Katastrophe werden würde.
Erst als ich schon durch die gesamte Halle durch war, wurde das Medaillon so unerträglich heiß, dass es drohte, mir die Haut zu verbrennen. Ares wollte anscheinend unbedingt mit mir reden.
Ich nahm mein Schmuckstück vom Hals. Tatsächlich war die Haut darunter leicht gerötet, aufgrund des heißen Medaillons. Als ich es aufklappte, verschränkte der Kriegsgott etwas genervt die Arme.
„Du kannst aufhören, deine Schwester hier zu suchen. Sie ist nicht da", stellte der Kriegsgott fest.
„Dann sag mir endlich, wo sie ist!", giftete ich den Kriegsgott an. Mir reichte es mit seinen blöden Ausflüchten. Ich hatte keine Lust mehr, zu hören, er wüsste es nicht. Offensichtlich wusste er es doch.
„Patricia, ich weiß wirklich nicht, wo deine kleine Schwester ist. Hätte ich es gewusst, hätte ich es gekonnt, hätten Zeus und ich euch schon so viel früher zusammengeführt.
Ich kann nicht mit Zeus und den anderen Göttern reden, wann immer ich es will. So gerne ich das auch würde, aber – der Olymp hat sich nach dem Zauber in ein Gefängnis verwandelt.
Ich habe dir immer gesagt, du musst alle konsequenten beim Zaubern bedenken. Wir haben es nicht getan. Wir wussten zwar, dass der Zauber, der Hades in die Unterwelt gebannt hat, uns in den Olymp bannen würde, aber tatsächlich ist das Gebiet noch sehr viel kleiner. Wir vermuten, es war wahrscheinlich die Wechselwirkung dadurch, dass wir das Isolieren im Olymp umgehen wollten.
Die Verbindung, die wir in eure Medaillons gebaut haben, gab es auch schon früher. Sie hat damals zum reinen Transportieren von uns Göttern gedient. Allerdings nicht in den Hauptolymp, wo ihr heutzutage hintransportiert werden. Es gab anfangs dreizehn weitere, kleinere Gebäude, welche die Verbindung für jeweils einen Gott darstellten. Hades zerstörte seines ein paar Jahre vor dem Zauber, danach gab es nur noch zwölf.
Nach den Zaubern waren wir in sie verbannt worden, nicht in den gesamten Olymp. Anfangs haben wir es noch nicht gemerkt. Solange ihr Nymphen brav Kontakt gehalten habt, war noch alles gut, aber als ihr euch voneinander entfernt habt, ging es los. Die Wege vom Hauptgebäude in unsere Verbindungsgebäude wurden instabil und wir mussten uns entscheiden. Kontakt zu euch oder zu uns untereinander. Wir entschieden uns für euch.
Die Wege in das Hauptgebäude erscheinen nur noch, wenn wir euch in den Olymp holen, was aber nur aus den Verbindungsgebäuden geht. Wir können auch zu den anderen olympischen Göttern, solange ihr Nymphen brav verbunden seid. Entweder indem ihr Kontakt haltet oder indem ihr nahe beieinander seid.
Zu Natasha und Zeus fehlt uns momentan die Verbindung. Sie sind also nicht in der Nähe. Es tut mir leid, Patricia."
Ich starrte den Kriegsgott mit offenen Mund an. Er wusste also nicht nur, wo meine kleine Schwester war, der arme hatte gar keinen Kontakt mehr zu Zeus. Und er hatte es mir mehr oder weniger verschwiegen.
„Ich weiß, ich hätte es früher sagen sollen. Wir haben am Anfang des dritten Schuljahres gesagt, ich verschweige dir nichts Wichtiges mehr, und jetzt, wo wir genauer darüber reden, denke ich, wir hätten über diese Details reden sollen. Dann hätte ich dir wohl auch weniger Hoffnung gemacht, ich könnte dir irgendwann erzählen, wo deine Natasha ist."
„Mir tut es leid, dass du nie mit mir darüber reden konntest, dass Zeus dich nicht mehr nervt", gab ich niedergeschlagen zu.
In diesem Moment räusperte sich jemand hinter mir. Erschrocken wirbelte ich mit Ares in der Hand herum. War Natasha doch zurückgekehrt? Hatten Ares und ich die Nähe von meiner kleinen Schwester und Zeus nur nicht gemerkt, weil wir zu sehr mit uns beschäftigt waren?
„Mir tut es leid, euch beide zu stören", gestand eine verheulte Yasmine, welche hinter mir stand. „Ich wollte nach dir sehen, Patricia. Ich bin, kurz nachdem du rausgestürmt bist, angekommen."
Die Botschafterin aus Kanada streckte mir vorsichtig die Arme entgegen. Etwas verunsichert starrte ich sie kurz an. Ich war mir nicht ganz sicher, wie ich auf diese Geste reagieren sollte. Vermutlich eigentlich der stillen Aufforderung nachkommen, mich an Yasmine kuscheln und dort zusammenbrechen. Allerdings war mich nicht danach. Mir war nicht nach kuscheln und schon gar nicht nach weinend zusammenbrechen.
„Wie – wie geht es Marlon?", fragte ich verängstigt nach, während ich noch immer die Arme anstarrte, die nun langsam wieder sanken.
„Er wird durchkommen und in ein paar Wochen wohl wieder ganz fit sein. Da er so schnell Hilfe erhalten hat, konnte man glücklicherweise bleibende Schäden verhindern.
Ich atmete erleichtert auf. Keine bleibenden Schäden, das war eine gute Nachricht, auch wenn es mir nicht passte, dass er wohl Wochen für die Genesung brauchen würde. Hoffentlich hätte er schon wieder wesentlich früher die Augen offen.
„Ich will zu ihm", stellte ich fest.
„Natürlich. Dann lass uns zurück nach Frankreich apparieren." Die Kanadierin hielt mir wieder ihren Arm hin, dieses Mal allerdings nicht, um mich zu umarmen, sondern um mich beim Apparieren mitzuziehen.

Ich hatte meine Knie an meinen Oberkörper gezogen und mit meinen Armen fest umklammert. Schon seit mindestens einer Stunde saß ich in dieser Haltung auf dem Sofa in Marlons Zimmer und starrte zu dem Bett, in welchem mein bewusstloser Onkel lag. Dieses Mal war er es, der wie eine Mumie bandagiert dort lag, während ich neben ihm saß und darauf wartete, dass er wieder aufwachte.
Auch wenn der Heiler mir keine Hoffnung gemacht hatte, dass es bald passieren würde. Er ging davon aus, es würde noch mehrere Tage brauchen, bis mein Onkel wieder ansprechbar war. Mit etwas Pech würden wir sogar Weihnachten ohne ihn feiern müssen. Jedenfalls dieses Jahr.
Yasmine saß seit unserer Rückkehr auf Marlons Bettkante. Immer wieder sah sie besorgt zu mir herüber, während ich weiterhin vor mich hinstarrte. Es war eine ganz komische Stimmung zwischen uns beiden, seitdem wir zurückgekommen waren.
Die Tür ging auf und Sirius kam herein. Er hatte die letzte Stunde damit verbracht, sich darum zu kümmern, dass die Hauselfen die Sachen von den Mädchen und mir aus Hogwarts abholten. Jetzt sah mein Vater misstrauisch zwischen Yasmine und mir hin und her. Er zog in Richtung der Kanadierin fragend eine Augenbraue hoch, was mit einem kurzen Schulterzucken beantwortet wurde. Als Nächstes wurde ich wieder angesehen. Ihm entfuhr ein leises Seufzen, dann kam er zu mir herüber.
„Alles in Ordnung bei dir, Welpe?", wurde ich gefragt, während sich mein Vater neben mich setzte. Ich zuckte nur leicht mit den Schultern. Irgendwie wusste ich es selber nicht so ganz.
In Hogwarts hatte ich mir noch furchtbare Sorgen um meinen Onkel gemacht. Ich hatte geweint und geschrien, bin nervös herumgetigert. Hier angekommen war alles von dem Gedanken an meine kleine Natasha verdrängt worden. Ich war viel zu glücklich und aufgeregt wegen ihr gewesen.
Doch seitdem wir wieder hier waren, fühlte ich das alles nicht mehr. Ich fühlte mich ein wenig leer und ausgelaugt, so wie am Anfang, wenn ich zu viele sozialen Kontakte hatte. Wenn ich müde davon war, dass alle um mich herumsprangen.
„Das ist jetzt gerade alles ein wenig zu viel für dich gewesen, nicht wahr? Brauchst du ein wenig Ruhe?", wurde ich freundlich gefragt.
Brauchte ich die? Vermutlich eigentlich schon. Jedenfalls hatte das sonst auch immer geholfen. Vielleicht sollte ich einfach in mein Zimmer herübergehen. Allerdings wollte ich das nicht. Ich wollte hier, bei Marlon bleiben und bei ihm sein, wenn er wieder aufwacht.
„Du weißt, du kannst zu mir kommen, kleiner Welpe." Sirius schenkte mir noch ein kurzes Lächeln und strich mir beim Aufstehen vorsichtig über die Hände, bevor er zu Yasmine herüberging. Diese schien anders als ich eine Schulter zum Ausweinen gut gebrauchen können, jedenfalls fing sie kurz darauf schon an, fürchterlich zu heulen. Mein Vater nahm sie tröstend in den Arm.
Das war eine normale Reaktion. Weinen. Aber meine Augen blieben trocken. Ich saß stattdessen hier und starrte vor mich hin.
Ich sah noch fast eine halbe Stunde dabei zu, wie Sirius versuchte, die noch immer schluchzende Yasmine zu trösten. Irgendwann wurde es mir aber zu viel. Die Geräusche gingen mir doch tatsächlich auf die Nerven. Ich konnte nicht einmal genau sagen warum. War es das Weinen selbst oder nur, dass es mich daran erinnerte, dass ich nicht weinte?
Eigentlich war es aber auch egal. Das Weinen nervte mich, weshalb sich sofort mein schlechtes Gewissen meldete. Man hatte von so etwas einfach nicht genervt zu sein. Nein, normalerweise sollte man zu seiner potentiellen Stiefmutter gehen, um sie zu trösten.
Ich hingegen stand einfach auf und als Sirius fragend zu mir herübersah, brachte ich ein: „Ich bin in meinem Zimmer", über die Lippen.
In meinem Zimmer angekommen, setzte ich mich wie auch schon bei Marlon auf mein Sofa und starrte Löcher in die Luft. Auch wenn es keine wirklich tolle Beschäftigung war, hatte ich nicht wirklich Lust darauf, mehr zu machen. Einfach dort zu sitzen und nichts zu beobachten, reichte vollkommen aus.
Es klopfte an der Tür. Ich reagierte gar nicht darauf. Egal, wer es war, gerade war ich wirklich nicht besonders gesprächig oder sonst irgendwie auf Gesellschaft aus. Die Person vor meinem Zimmer interessierte sich dafür allerdings nicht. Sie kam herein und schließlich schob sich Vivienne in mein Sichtfeld. Mit einem Schlenker ihres Zauberstabes rollte mein Schreibtischstuhl herüber, auf welchen sie sich setzte.
„Yasmine hat Angst, sie hätte etwas falsch gemacht. Ich bin mir aber sicher, du bist nicht wütend auf sie, richtig?", fragte mich Marlons Adoptivmutter vorsichtig.
Ich biss mir auf die Unterlippe. Eigentlich hatte ich gehofft, meine potentielle Stiefmutter würde aufgrund ihrer Trauer und ihres Heulkrampfes nicht mitkriegen, wie abweisend ich momentan war. Dass sie jetzt auch noch Angst hatte, ich würde sie nicht mehr lieb haben, wollte ich ihr wirklich nicht zumuten.
„Ich bin nicht wütend. Ich mag sie nur nicht weinen sehen", stellte ich ehrlich fest.
„Und du magst gerade nicht umarmt werden. Magst du denn mit mir reden?", hakte die Frau weiter nach.
Zumindest störte das Gespräch mich bisher nicht. Vivienne wirkte nicht traurig oder besorgt aufgrund von Marlons Zustand, weshalb ich auch nicht mehr das Gefühl hatte, ich müsste es sein. Jedenfalls nicht so sehr wie noch vorher.
„Ist in Ordnung", murmelte ich.
„Aber wirklich Interesse an dem Gespräch hast du nicht. Willst du mir sagen, wie du dich fühlst?"
Jetzt mochte ich diese Unterhaltung doch nicht mehr. Gerade diesem Bereich in meinem Leben wollte ich entkommen. Aber was erwartete ich von der Familienpsychologin. Natürlich wollte sie mit mir darüber reden, wie traurig ich über Marlons Verletzungen war.
„Sirius hat vermutet, dass es für dich gerade etwas viel war, und du Ruhe brauchst. Ich denke, er könnte damit nicht ganz unrecht haben. Das alles war zu viel für dich. So wie du mich gerade ansiehst, bist du nicht traurig wegen Marlon und Natasha, hm?"
Ich merkte, wie ich rot anlief. Das war definitiv ein Volltreffer gewesen.
„Ich fühle mich wie am Anfang hier. Müde und ausgelaugt. Ich sollte mich so nicht fühlen. Ich sollte traurig sein. So wie Yasmine. Ich will bei Marlon sein, aber nicht bei ihr, weil ich – ich fühle mich falsch und sie nicht."
„Du fühlst dich nicht falsch, chiot. Du hast nur eine akute Belastungsstörung, was angesichts von Natashas und Marlons Begegnung auch nicht überraschend ist. Das war zu viel auf einmal und muss jetzt verarbeitet werden. Ruhe dich aus, rede mit jemanden darüber, wenn dir danach ist, und mache dir keine Vorwürfe, weil du wegen Marlon nicht traurig bist. Wenn du das ganze ein wenig hast sacken lassen, wirst das schon wieder", wurde mir versprochen.
Ich atmete erleichtert auf. Das war doch irgendwie beruhigend. Ich war nicht ganz so kaputt, wie ich mich gerade fühlte. Es würde wieder in Ordnung kommen. Irgendwann.
„Ich war gerade erst bei Marlon im Zimmer. Yasmine ist inzwischen eingeschlafen. Magst du wieder mit herüberkommen?"
Ich nickte. Wenn Yasmine nicht mehr weinte, setzte ich mich gerne zu Marlon. Eigentlich wollte ich schließlich bei meinem Onkel-Vater sein. Und jetzt, wo ich wusste, dass es vielleicht doch nicht so falsch und schlimm war, dass mir gerade nicht nach Weinen zu Mute war, konnte ich es vielleicht auch besser ertragen, wenn meine potentielle Stiefmutter weinte.

58 Stunden. So lange war es her, seitdem Marlon angegriffen worden war. Seit 57 Stunden saß ich in seinem Zimmer, wenn man von dem kurzen Aufenthalt in meinem Zimmer absah. 62 Stunden, so lange war ich schon am Stück wach, was sogar für mich einen neuen Rekord darstellte.
Dass ich dank meiner Magie mal eine Nacht durchmachte, war wirklich nichts Besonderes, doch meistens brauchte ich danach auch meinen Schlaf. Nun war ich schon länger als zwei Tage durchgängig wach und das zerrte doch ziemlich an meinen Kräften. Tatsächlich hatte ich mittlerweile leichte Kopfschmerzen, mir fröstelte es ständig und meine Augen waren furchtbar trocken.
Es war nicht einmal so, dass ich nicht versucht hätte, zu schlafen. Yasmine schlief momentan immer bei Marlon im Zimmer auf dem Sofa. Ich hatte mich jeden Abend zu ihr gelegt, hatte ihrem gleichmäßigen Atem gelauscht und versucht, selbst zu Ruhe zu kommen. Allerdings ohne Erfolg. Unterbewusst nutzte ich meine Magie, um mich wach zu halten.
Nach der ersten schlaflosen Nacht hatte Sirius versucht, mich dazu zu überreden, doch noch zu ihm in den Grimmauldplatz zu kommen. Eigentlich war er von Anfang an, davon ausgegangen, ich würde froh sein, bei ihm schlafen zu dürfen. Tatsächlich hatten die Hauselfen meine Sachen direkt ins Elternhaus des Flüchtigen gebracht. Normalerweise hätte ich das Angebot auch begeistert angenommen, doch momentan wollte ich einfach bei Marlon bleiben. Würde ich schlafen, fände es Sirius auch in Ordnung.
Als heute Morgen herauskam, dass ich nun schon die zweite Nacht lang nicht geschlafen hatte, war das Thema Schlaftrank aufgekommen. Alle anderen waren dafür, dass ich welchen nahm, bevor ich meine ganze Magie verpulvert hatte und vor Erschöpfung zusammenbrach. Eigentlich war es auch vernünftig, doch meine Angst irgendetwas würde mit Marlon passieren, wenn ich ausgeknockt war, ließ mich ablehnen. Egal, wie unlogisch es war, schließlich konnte auch etwas passieren, wenn ich zusammenbrach.
In diesem Moment wurde die Tür geöffnet. Ein wenig erwartete ich, Yasmine zu entdecken. So gerne sie es auch ausfallen lassen würde, war sie heute wieder zur Arbeit gegangen. Vivienne war sich ziemlich sicher, ein wenig Ablenkung würde der Kanadierin und mir guttun. Jetzt wartete ich darauf, dass sie von ihrem letzten Termin, einem Abendessen mit irgendwelchen hohen Tieren des Ministeriums, zurückkam.
Anders als ich erwartet hatte, kam allerdings Arienne in den Raum. Sie hatte eine Schüssel frisches Popcorn unterm Arm, während sie in der anderen Hand zwei Gläser und eine Wasserflasche balancierte. Offensichtlich war sie als meine Ablenkung engagiert worden. Oder um mir heimlich Beruhigungsmittel zu verabreichen.
Ich sah misstrauisch dabei zu, wie sie auf mich zusteuerte und das frische Popcorn neben mich aufs Sofa stellte. Kommentarlos wurde der Rest ebenfalls abgestellt, bevor sie zum Fernseher lief und diesen anschaltete.
„Hast du irgendeinen Filmwunsch?", wurde ich freundlich gefragt, während sie sich der Filmsammlung meines Onkels zuwandte.
„Hast du Beruhigungstrank dabei?", überging ich einfach die Frage.
„Ja, habe ich. Willst du ihn doch nehmen?" Arienne hielt mir ein kleines Fläschen mit entsprechendem Inhalt entgegen.
Ich schüttelte bestimmt den Kopf. Nein, ich würde ihn auf gar keinen Fall nehmen. Ich wollte nur nicht, dass man mir welchen verabreichte.
„Hast du vor mir etwas gegen meinen Willen zu injezieren?", hakte ich nach.
„Nein, Vivienne meinte, ich soll es lassen, auch wenn es für dich besser wäre, wenn wir dich einschlafen lassen würden. Wir sind uns ziemlich sicher, dass du bald deine Magie verpulvert hast und zusammenbrichst. Dann brauchst du länger, um wieder auf die Beine zu kommen, als wenn du ein paar Stunden schläfst."
Ich seufzte leise. Das wusste ich doch selbst. Ich spürte, wie meine Magie immer schwächer wurde. Aus diesem Grund litt ich nun auch unter den Symptomen von Schlafmangel. Ich brauchte Ruhe und bald würde sich mein Körper diese holen.
„Der Film ist gut." Arienne zog eine Kassette heraus. Diese wurde in den Rekorder eingelegt, dann kam meine große Schwester zu mir.
„Patricia, Vivienne glaubt, es wäre besser, wenn wir dir erlauben, zusammenzubrechen, als wenn wir dir gegen deinen Willen Beruhigungstrank geben", erzählte mir meine Schwester, anstelle den Film nun zu starten. „Dann kommst du in die Zwischenwelt und – Vivienne denkt, du wirst dort Marlon treffen. Sie denkt, es würde dir dabei helfen, das alles mit ihm und Natasha zu verarbeiten.
Vielleicht hat sie auch Recht. Wir alle scheinen dir nicht wirklich dabei helfen zu können. Aber das alles erinnert mich viel zu sehr an Marlon, als er ständig in die Zwischenwelt gereist ist. Ich will dir nicht das gleiche Angwöhnen. Also bitte, trinke den Trank und wenn du ausgeschlafen hast, geht es dir hoffentlich auch psychisch wieder besser. Und wenn nicht, kennt Vivienne definitiv noch andere Wege um dir zu helfen. Jedenfalls wenn du bereit bist, dir von ihr helfen zu lassen. Schlaf dich aus und geh zu ihr."
Ich sah verunsichert zu dem Fläschchen, welches mir erneut hingehalten wurde. Jetzt, wo ich wusste, dass ich wohl bald in die Zwischenwelt kommen würde, war natürlich ein Grund mehr, den Trank nicht zu nehmen. Außerdem war ich neugierig, ob ich es wirklich schaffen würde, zu Marlon zu kommen. Maélys hatte sich schließlich problemlos vor ihm in der Zwischenwelt verstecken können. Auch Carolin war immer zu mir gekommen, nicht umgekehrt.
Doch ich konnte auch Ariennes Angst um mich verstehen. Ich wollte niemanden so viele Sorgen bereiten, wie es damals bei Marlon der Fall gewesen war.
„Ich habe Angst, dass etwas passiert, wenn ich schlafe. Was ist, wenn Natasha wieder auftaucht, ihr ohne mich hingeht und der nächste verletzt wird?", fragte ich ängstlich nach.
„Chiot, es wird nichts passieren. Wenn Natasha auftauchen sollte, werden wir vorsichtiger sein. Wir holen die weißen Flaggen heraus, bringen ein Fotoalbum mit und erklären ihr, dass du dich gerade bei deinem schwerverletzten Onkel auf dem Sofa zusammengerollt hast, um deinen wohlverdienten Schlaf nachzuholen. Wir kriegen das hin, Patricia. Bitte, nimm den Trank und gehe morgen früh zu Vivienne."
Ich gab seufzend nach. Auch wenn mir der Gedanke, jetzt einzuschlafen, noch immer nicht gefiel, Arienne hatte recht und ich sollte schlafen. Wenn ich zusammenklappte, konnte ich auch niemanden helfen.
Mit zitternder Hand wollte ich nach dem kleinen Fläschchen greifen, doch bevor ich das Glas berührte, merkte ich, wie mir meine Magie entglitt. Ich hatte wohl alle Reserven aufgebraucht, weshalb schwarze Flecken vor meinen Augen tanzten. Sie wurde immer dicht und dichter, bis mich schließlich eine alles einnehmende Schwärze verschluckte.


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