Die Entstehung der Nymphen - Ares
Aus dem Innenhof der Kaserne hörte man leises, aufgeregtes Gemurmel. Dicht an dicht drängten sich die Leute auf ihm, warteten darauf, dass es endlich losging, worauf sie so sehnsüchtig warteten. Die Auswahl der neuen Rekruten. Alle von ihnen wollten ihre Chance am heutigen Tag nutzen, um eine Ausbildung als Friedenswächter der dreizehn Königreiche zu absolvieren. Sie alle und noch viele andere in anderen Kasernen dieses und der anderen Königreiche.
Das ganze Spektakel wurde von einem Fenster eines kleinen Raumes aus beobachtet. Ein Mann mit strengen Gesichtszügen stand dort. Seine leicht lockigen braunen Haare waren zu einem kurzen Pferdeschwanz zurückgebunden worden. Jetzt wo er wieder zurück vom Schlachtfeld war, würde er die Haare wohl sehr bald wieder in die übliche Kurzhaarfrisur verwandeln, wie sie die meisten Männer trugen. Die silberne Rüstung, die er trug, war durch Schwerthiebe und Magie in Mitleidenschaft gezogen worden. Auf seiner linken Wange war ein Schnitt zu sehen, aus welchen noch immer Blut tropfte und seinen Vollbart rot färbte. Narben dicht neben diesem frischen Schnitt und auch an anderen Stellen verriet, dass er wohl nicht das erste Mal verletzt worden war.
Niemand auf dem Hof schenkte ihm Beachtung. Die meisten hatten wahrscheinlich auch gar nicht bemerkt, dass er dort stand. Sie waren viel zu nervös, um auf die höherliegenden Fenster zu achten. Die meisten unterhielten sich aufgeregt oder starrten auf eine Tür, durch die später der Leiter der Kaserne treten würde, um offiziell die einwöchige Auswahl zu beginnen.
Schließlich wandte sich der fremde Mann mit einem leisen Seufzen von dem Fenster ab, zu dem zweiten Mann in dem Raum. Dieser wirkte mindestens zehn Jahre jünger als sein Begleiter. Vom Alter her, passte er hervorragend zu den Leuten in dem Hof, die alle gerade ihre Volljährigkeit erreicht hatten. Mit seinem ordentlich frisierten blonden Haaren und dem frechen Grinsen auf dem Gesicht wirkte er nicht älter als neunzehn. Keine einzige Narbe war auf seiner Haut zu sehen, als hätte er noch nie in einer Schlacht gekämpft. Seine Hände waren noch ganz weich, keine Hornhaut vom ständigen Bogenschießen oder Schwertkämpfen waren an ihnen zu sehen, ganz anders als bei dem fast Dreißigjährigen.
Einen ganz anderen Eindruck machte allerdings die Aufmachung des jungen Mannes. Er war gerade dabei seine teure, schwarze Rüstung mit Kriegsspuren gegen billige, abgetragene Kleidung zu tauschen. Ein Schwert lehnte an dem Stuhl, auf dem er seine Kleidung ablegte. Das Schwert war genauso hochwertig wie die Rüstung. Ein blauer Edelstein war an seinem Schwertknauf eingelassen worden. Aufwendige Verzierungen waren am Griff zu sehen. Auch die Schwertscheide wirkte sehr hochwertig und edel.
„Ares, du kannst doch nicht wirklich schon wieder eine Woche als Anwärter verbringen", rief der braunhaarige Mann fassungslos.
Der Blonde verdrehte aufgrund der Worte des Älteren demonstrativ die Augen. Es war jetzt das vierte Jahr in Folge, bei welchem der Kriegsgott von seinem Berater diese Worte hörte, dabei hatte er sich vor sechs Jahren sogar noch selbst immer mit Ares eine Woche unter die Anwärter gemischt.
„Acheron, mein alter Freund, du weißt doch, diese eine Woche nehme ich mir immer Zeit. Also fange bitte nicht schon wieder diese Diskussion an."
Der Angesprochene fasste sich an die Stirn, als hätte er schreckliche Kopfschmerzen. Vermutlich bereiteten die Worte des Gottes ihm auch diese. Anders als Ares lag Acherons Jugendzeit mittlerweile hinter ihm. Er war ruhiger geworden, stand mit beiden Beinen fest im Leben. Seine Prioritäten hatten sich geändert. Eine Woche Auszeit, um als einfacher Anwärter unter gleichaltrigen zu sein, empfand er momentan als zweitrangig. Es gab wichtigere Dinge zu erledigen.
„Ihr dreizehn Götter bringt mich noch um den Verstand. Ares, du weißt doch, die Angriffe passieren immer öfter. Sollten wir uns nicht lieber um die Rebellen kümmern?"
„Ach, Acheron, entspanne dich. Es sind nur die üblichen Aufständischen. Die Friedenswächter haben bisher alles unter Kontrolle. Falls in der Woche zu viel passiert, kann ich noch immer aussteigen und an die Front gehen. Jetzt entschuldige mich bitte, ich muss mich beeilen, ansonsten komme ich zu spät."
Als der Kriegsgott sich zu den anderen Anwärtern gesellte, lag ein Zauber auf ihm, welcher verhinderte, dass ihn irgendjemand als den erkannte, der er nun einmal war. Ares, der Kriegsgott, welcher nicht nur ein Dreizehntel der Erde regierte, sondern welchem auch sämtliche Friedenswächter auf der Welt unterstellt waren. Egal ob sie nun in seinem oder einem fremden Königreich stationiert waren. Die meisten um ihn herum, bemerkten gar nicht den Neuankömmling. Viel zu sehr waren sie mit ihrer eigenen Nervosität beschäftigt.
Nur einer der umstehenden Rekruten wirkte so, als hätte er die Ruhe weg. Der Rekrut war ganz schön klein dafür, dass er ein Junge war. Er war vielleicht 1,70 m groß und damit noch fast einen Kopf kleiner als Ares. Auch die dunkelbraunen, fast schwarzen Haare waren für einen Jungen ziemlich lang. Zwar waren sie momentan zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden, doch ansonsten würden sie wahrscheinlich bis über seine Schulterblätter reichen. Die Statur und auch die Gesichtszüge gehörten allerdings eindeutig zu einem jungen Mann.
„Die Rede hat gerade angefangen. Ein bisschen spät, nicht wahr?" Ares zuckte mit den Schultern.
„Sag es den Ausbildern, dann hast du einen Konkurrenten weniger. Es ist ihnen nicht aufgefallen."
Der Junge fing an zu lachen. Obwohl wirklich Lachen tat er nicht. Es war eher ein verhaltendes Kichern, wie es Ares von Mädchen auf der Straße kannte, die miteinander tuschelten und schließlich hinter vorgehaltener Hand kicherten.
„Zenon." Der Junge streckte dem Kriegsgott seine Hand hin.
„Ich nehme mal an, das ist dein Name?"
„Ja, richtig."
Lüge! Die Alarmglocken in Ares Kopf sprangen an. Wie immer wenn der Gott angelogen wurde. Doch warum log Zenon, was seinen Namen anging? Einem Geheimnis, dem der Kriegsgott unbedingt auf den Grund gehen wollte.
„Du kannst mich Dasios nennen", erklärte er und ergriff die Hand.
Mittlerweile war überall auf dem Innenhof das Klirren von Schwertern und Knistern von Magie in der Luft zu hören. Nur noch sehr vereinzelnd waren Stimmen zu hören und dann meistens die von den Ausbildern, welche den neusten Anwärtern Anweisungen zu bellten.
„Ellbogen höher!"
„Verlasse dich nicht auf deine Magie!"
„Verliere nie deine Umgebung aus den Augen!"
All diese Dinge wurden irgendjemanden zu gebellt, während er versuchte, in einem Zweikampf gegen einen Gegner zu bestehen. Die Leute, welche gerade nicht in einem Übungskampf trainierten, standen erschöpft daneben. Die meisten hatten ein Handtuch über die Schultern gelegt, um irgendwie den Schweiß zu trocknen, welcher unerbittlich über ihr Gesicht lief, und eine Wasserflasche in der Hand, um irgendwie den Flüssigkeitshaushalt des Körpers unter Kontrolle zu halten.
Auch Ares stand bei einem Zweikampf, den er theoretisch beobachten sollte. Dies tat er allerdings nicht. Viel lieber behielt er Zenon im Auge, welcher gerade einen Kampf für sich entschieden hatte. Jetzt ging der Junge mit dem falschen Namen zu einer Tasche herüber und zog eine Trinkflasche heraus. Von dieser nahm er einen Schluck.
Der Kriegsgott runzelte die Stirn. Noch so eine komische Sache an Zenon, die der Gott den Tag über beobachten konnte.
Der fremde Anwärter hatte zwei Flaschen dabei. Nicht dass es wirklich unüblich war. Viele hatten lieber etwas mehr trinken eingepackt, auch wenn hier kein Ausbilder einen Anwärter verdursten lassen würde. Für genügend Getränke und auch für ein Mittagessen war in der Kaserne immer gesorgt.
Doch obwohl mehrere Flaschen nicht außergewöhnlich waren, waren Zenons Flaschen doch außergewöhnlich. Sie sahen fast identisch aus. Beide dunkelgrün, sodass man den Inhalt nicht sehen konnte. An einer war allerdings eine leichte Delle an der Seite. Meistens Trank der andere Anwärter aus der Flasche mit Delle, doch ungefähr jede Stunde wurde aus der Anderen getrunken.
Mittlerweile war die Sonne über der Kaserne am Untergehen. Die meisten Anwärter waren gerade dabei aufzubrechen. Sie sattelten ihre Pferde, um zurück zu den umliegenden Dörfern zu gelangen. Ein paar machten sich auch zu Fuß auf dem Weg. Gerade die Ärmeren unter den Anwärtern konnten sich kein Pferd leisten, und nicht alle kannten jemanden, der sie auf dem seinen mitnehmen konnte.
Auch Ares gehörte zu denjenigen, die zu Fuß unterwegs waren. In seinem Schloss hätten genug Pferde gestanden, die meisten von ihnen waren unauffällig genug, damit er mit ihnen hierhin hätte reiten können, doch der Weg zum Schloss war nicht lang. Ohne ein Pferd konnte er durch Geheimgänge herein und heraus gehen. So erfuhr niemand dort, wie dieses Mal der Kriegsgott aussah. In welcher Gestalt er sich dieses Mal unter die Leute gemischt hatte.
Er wollte gerade loslaufen, als sich ihn jemand auf die Schulter tippte. Als sich Ares umdrehte, stand Zenon hinter ihm.
„Du bist auch zu Fuß hier, oder?", wurde er freundlich gefragt.
„Ja, bin ich. Wo musst du hin?"
„Zum Dorf am Schloss. Du?" Ares runzelte die Stirn. Zum Dorf am Schloss? Dort gehörte Zenon definitiv nicht hin. Die Bewohner dort kannte Ares. Er war dort öfter bei seinen Spaziergängen und ein paar der Leute, die im Schloss arbeiteten, wohnten dort.
„Du kommst nicht aus dem Dorf, oder?", fragte der Kriegsgott nach, nur um ganz sicher zugehen.
„Ich wohne momentan im Gasthaus."
Noch eine komische Sache an Zenon. Die meisten Leute, die sich bewarben, kamen jeden Tag von zu Hause in die Kaserne. Gerade hier waren sie über das ganze Land verteilt, sodass man problemlos jeden Tag kommen konnte.
In den anderen Königreichen gab es weniger Kasernen. Dort passierte es öfter, dass Leute sich für die Zeit der Auswahl in Gasthäusern in der Nähe einmieteten. Aber nun einmal nicht hier.
„Es ist ungewöhnlich, nicht von zu Hause aus zu kommen, sondern in einem Gasthaus zu wohnen", stellte der Kriegsgott fest.
„Das ist kompliziert. Kommst du aus dem Dorf? Ich habe dich dort noch nie gesehen", versuchte Zenon von dem Thema wegzukommen. Offensichtlich legte er keinen Wert darauf, eine Erklärung zu liefern.
„Aus der Nähe."
„Einem Dorf in der Nähe?" Ares schüttelte amüsiert den Kopf.
„Nein, ich habe ein Haus in der Nähe. Es gehört einfach zu gar keinem Dorf. Wir können zusammen bis zum Gasthaus gehen", schlug der Kriegsgott vor, was mit einem erfreuten Nicken von Zenon angenommen wurde.
Zusammen machten sich die beiden auf den Weg. Sie verfielen ins Schweigen, weshalb man bei jedem Schritt den Kies unter den Schuhen knirschen hörte. Keiner wusste wirklich, was er sagen sollte. Ares war eigentlich auch gar nicht mal so böse darüber. Lieber beobachtete er den komischen Anwärter aus dem Augenwinkel, um irgendeine verräterische Bewegung zu entdecken.
„Wusstest du, dass die Leute glauben, unter den Anwärtern wäre jedes Jahr ein Spion von Ares?", fragte Zenon schließlich.
„Ja, davon erzählen gerne die Neuen", stellte Ares amüsiert fest. Wie oft hatten die Leute schon gerätselt, ob es sich wohl jedes Jahr um den gleichen Friedenswächter oder immer um einen anderen handelte, doch nie war jemand auf die Idee gekommen, es könnte der Kriegsgott selbst sein.
„Und du hast des Öfteren mit den neuen Anwärtern zu tun?", fragte Ares Begleiter weiter nach.
„Nun ja, die Anwärter freunden sich an, gehen ins Gasthaus und reden dann. Dort bekommt man manchmal etwas Interessantes mit. Zum Beispiel die Gerüchte über den Spion." Der junge Mann lachte leise.
„Ist dir schon einmal aufgefallen, dass du dich meistens sehr komisch ausdrückst? Niemals lügen. Das ist die erste Lektion, die ein Rekrut in der Ausbildung lernt. Wie man die Leute hinters Licht führt, ohne zu lügen. Damit kann man auch Ares Gabe überlisten."
Der Kriegsgott zog belustigt eine Augenbraue hoch. Dafür, dass Zenon nur ein einfacher Anwärter war, wusste er ziemlich viel. Die Fähigkeit, Lügen zu erkennen, war kein Geheimnis, doch wie man sie umgehen konnte, war vor allem den Soldaten bekannt. Also hatte Zenon selbst vermutlich etwas mehr mit diesen zu tun, als dass er sie nur heute beim Training gesehen hatte. Das war auch nicht überraschend, wenn man bedachte, wie gut Zenon jetzt schon kämpfen konnte.
„Richtig, wer die Wahrheit sagt oder jedenfalls fest davon überzeugt ist, diese zu sagen, löst die Gabe nicht aus. Lügen kann ein geübter Beobachter viel zu einfach erkennen. Du hast gelogen. Du heißt nicht Zenon und trinkst einmal die Stunde einen Trank. Ein einfacher Anwärter bist du auch nicht. Du kennst die Verfahren. Du kennst eine Menge Dinge, die ein normaler Bürger nicht kennt."
„Du hast zwar nicht gelogen, aber Techniken angewandt, um mich hinter das Licht zu führen. Also heißt du wohl auch nicht Dasios."
„Du bist ein kluges Kerlchen. Also wer bist du?"
„Niemand Gefährliches", versicherte Zenon schnell. „Ich wollte nur eine faire Chance bei den Friedenswächtern. Der Trank ändert mein Geschlecht."
Zugern hätte Ares jetzt angemerkt, dass man sein Geschlecht für eine faire Chance nicht zu ändern brauchte, doch in den letzten drei Jahren war ihm aufgefallen, dass immer weniger Frauen in der Armee angenommen wurden, obwohl die Bewerberzahlen gleich geblieben waren. Zuerst waren die Auffälligkeiten nur in ein paar Lagern. Es hatte zwar Verwunderung ausgelöst, doch komische Jahrgänge gab es nun einmal. Doch mittlerweile hatte es sich wie eine Seuche in immer mehr Lagern ausgebreitet.
„Es tut mir leid, dass sich Sexismus in der Armee ausbreitet. Das sollte eigentlich nicht passieren."
„Du bist auch kein Rekrut, oder? Du bist der Spion von Ares, richtig?"
„So würde ich es nicht bezeichnen, aber etwas in die Richtung."
Ungeduldig wartete Ares hinter dem Gasthaus auf Zenon. Die beiden hatten ausgemacht sich gegenseitig die Wahrheit zu sagen. Allerdings nicht auf der Straße, wo sie theoretisch belauscht werden konnten. Also hatte Ares den anderen Rekruten, obwohl eher die Rekrutin, zu sich ins Schloss eingeladen. Auch wenn sie noch nicht wusste, dass das Schloss wirklich ihm gehörte. Bisher ging die Anwärterin noch davon aus, er wäre nur ein Spion des Kriegsgottes und nicht dieser selbst.
Das leise Quietschen der Hintertür war zu hören. Automatisch wanderte Ares Hand zu seinem Schwert. Auch wenn er nicht seine übliche Waffe bei sich trug, hatte er eines bei sich. Unbewaffnet würde er niemals sein Zimmer verlassen. Ansonsten fühlte er sich nackt.
Eine junge Frau trat nach draußen in die Nacht. Ihr schlanker Körper wurde von einem dünnen orangfarbenden Kleid umspielt. Es war nicht aus wirklich viel Stoff. Es wirkte so, als wäre es aus zwei großen Stoffstreifen entstanden. Sie wurden genommen, um die Person gewickelt und mit ein paar Nähten wurde daraus ein Kleid.
Der eine Stoffstreifen bildete das Oberteil. Er war um den Nacken der Frau gelegt worden. Die zwei Seiten fielen über jeweils eine Brust. Am Bauch fädelten sie sich durch jeweils einer Seite einer rechteckigen Schnalle, um schließlich am Rücken zu verschwinden. Dort waren die beiden Seiten des Stoffes vermutlich zusammengenäht worden.
Die zweite Stoffbahn bildete den Rock. Auch diese war um den Körper gewickelt und durch die Schnalle gezogen worden.
Es wirkte viel zu kalt für dieses Land und vor allem diese Jahreszeit. Im Hochsommer konnte man ein solches Kleid mit Sicherheit tragen, doch jetzt war Frühling und Nacht, da konnte man sich in solcher Kleidung den Tod holen. Vermutlich trug deshalb die Frau auch einen schwarzen Umhang, welcher ihre Schultern bedeckte. Eine Kapuze versteckte die langen, schwarzen Haare unter sich. Ein Schwert hing griffbereit an ihrer linken Hüfte. Sie war wirklich hübsch mit der leicht gebräunten Haut und den hellblauen Augen, die einen interessanten Kontrast zu ihren dunklen Haaren bildeten.
„Zenon?", fragte Ares unsicher.
„Eigentlich heiße ich Otrere", stellte sich die junge Frau vor.
„Du kommst aus Poseidons Königreich. Jedenfalls deinem Kleid nach zu urteilen. Warum hast du dich nicht dort beworben?"
„Habe ich letztes Jahr. Ich wurde nur nicht genommen. So wie eigentlich alle Mädchen, die sich in dem Lager beworben haben. Das kam mir komisch vor. Daher dachte ich, ich versuche es mal als Junge. Wenn ich dann, wie aus heiterem Himmel, genommen werde, habe ich wenigstens mehr in der Hand als nur eine Vermutung, wenn ich es melde. Und ich dachte, wenn ich es melde, dann auch so, dass es definitiv ganz oben Gehör findet."
„Also direkt im Schloss von Ares."
„Seine Armee, sein Problem."
„Ich hätte es nicht besser ausdrücken können. Jetzt komm, Otrere."
Die beiden Rekruten kamen an dem See an, in dessen Mitte Ares Schloss lag. Mehrere hundert Meter entfernt sah man einen Damm, den einzigen Weg von der Insel zum Festland und andersherum. Jedenfalls gingen davon alle aus. Doch Ares, welcher diese Festung plante, mit Magie erbaute und nun schon seit Jahrtausenden darin lebte, wusste es natürlich besser. Es gab mehrere Geheimgänge von der Insel herunter. Sie waren alle nur auf eine Art und Weise von außen zu öffnen. Durch die Magie des Kriegsgottes.
„Wenn wir ins Schloss wollen –"
„Otrere, vertraue mir einfach. Wir nehmen nicht den üblichen Weg. Wir nehmen einen Geheimgang." Ares berührte kurz einen der Steine, weshalb er sich in Luft auflöste. Stattdessen war eine Leiter zu sehen, die dort herunterführte.
„Hast du keine Angst, ich könnte ihn verraten?"
Der Kriegsgott schüttelte leicht den Kopf.
„Nein, es würde niemanden etwas bringen, diesen Gang zu kennen. Es gibt nur sehr wenige, die ihn öffnen können. Alle, die es können, kennen ihn. Jetzt klettere endlich rein. Ich will ihn nicht ewig offen halten."
Kaum hatten die beiden den Geheimgang betreten, da verschloss sich der Gang wieder, sodass sie beide im Dunklen standen. Mit einem einfachen Schnipsen seiner Finger ließ Ares den Gang wieder in hellem Licht erstrahlen.
„Warum verheimlichst du deine Magie beim Training, Dasios?"
„Meine Schwertführung alleine ist schon sehr auffällig. Würde ich mich nun auch noch auf magische Duelle einlassen, könnte ich mir den Tarnzauber auch einfach sparen."
„Ist deine Magie so auffällig?"
„Ich fürchte schon. Hier in diesem Gang sollte uns niemand belauschen. Aus diesem Grund möchte ich dir nun meinen wahren Namen verraten. Und meine wahre Gestalt." Der Kriegsgott löste mit einer weiteren Bewegung die Zauber um sich herum.
Otrere starrte Ares mit offenem Mund an, bevor sie langsam auf die Knie sank. Sie hatte sich nie für etwas Schlechteres gehalten, auch wenn sie aufgrund ihres Status als Waisenkind nie viel besessen hatte. Weder Geld noch Macht. Nur ein Schwert und das Wissen, wie man es führte, waren ihr von ihrem alten Leben geblieben. Das hatte immer gereicht, um sich durchzuschlagen. Doch nun wo sie genau vor einem Gott stand, hatte sie das erste Mal das Gefühl klein und unbedeutsam zu sein.
„Basileus, es ist mir –"
„Nicht Basileus. Einfach nur Ares. Und bitte steh wieder auf. Tue einfach so, als wäre ich kein Gott, in Ordnung?" Er hielt ihr seine Hand hin, um sie wieder auf die Beine zu ziehen. Nur sehr zögerlich ergriff sie diese.
„Warum bist du als Dasios zur Auswahl gegangen?" Otrere sah neugierig zu dem Kriegsgott herüber, welcher breit grinste.
„Ich bin jedes Jahr dort. Viele von euch Menschen vergessen immer, wir altern nicht mehr. Ich bin vielleicht tausende von Jahren alt, doch wenn man es ganz genau nimmt, bin ich so alt wie all die Rekruten, die sich jedes Jahr bewerben. Die meiste Zeit des Jahres verbringe ich damit, in Schlachten zu ziehen, Feldzüge zu planen, die Armee und ein Land zu verwalten. Dann ist keine Zeit, um sich wie ein – ein Kind, sagt Zeus immer, ja ein halbes Kind. Eine Woche im Jahr nehme ich mir, um mich wie ein normaler Typ in meinem Alter aufzuführen."
„Ach, ich bin hier, weil du mich verführen willst? So wie es normale Typen in deinem Alter tun würden?", witzelte die junge Rekrutin, um die Stimmung wieder ein wenig aufzulockern.
„Nein, ausnahmsweise mal nicht Otrere. Obwohl ich es unter normalen Umständen versuchen würde. Das Sexismusproblem in meiner Armee ist mir schon vor drei Jahren aufgefallen. Damals war es allerdings nicht weit verbreitet. Vier Lager im ersten Jahr, in verschiedenen Ländern verteilt. Ich hielt es für unwichtig, für eine Abweichung, die es leider manchmal gibt. Mittlerweile haben wir in ungefähr 4% aller Lager das Problem. Unter anderem genau vor meiner Nase. Also halte ich dieses Jahr trotzdem noch meine Augen und Ohren ganz weit offen, um vielleicht etwas herauszufinden. Keine entspannten Ferien. Allerdings glaube ich, sie wissen, wer ich bin. Daher nehmen sie sich mir gegenüber zurück."
Mittlerweile hatten Ares und Otrere einen der oberen Flure erreicht. Auf diesem lag unter anderem das Zimmer des Kriegsgottes. Bisher hatte noch niemand die beiden gesehen, doch selbst wenn würden die meisten davon ausgehen, Ares hatte mal wieder jemanden für eine Nacht mitgenommen. Es war nicht ungewöhnlich. Immer mal wieder brachte er in dieser Woche jemanden mit. Oft in seiner falschen Gestalt, doch wenn jemand ihn erkannte auch in seiner richtigen. Daher überraschte es wohl auch niemanden, dass er mal wieder eine Begleiterin bei sich hatte. Nur dass sie aus Poseidons Königreich kam, würde viele wundern.
Eine Tür ging auf. Acheron trat aus ihr heraus. Bei ihm hatte sich eine blonde Frau untergehakt. Auf ihrer rechten Wange waren ein paar Narben zu sehen. Einige von Schwertern, andere von Magie. Medeia, die Ehefrau des Mannes. Bevor das Ehepaar die Möglichkeit hatte, die beiden jungen Menschen zu sehen, vergrub Otrere schon ihre Hände in Ares Haaren und begann ihn zu küssen. So als hätten sie auf dem ganzen Weg bis hierher nichts anderes gemacht.
Als Ares die junge Frau darum gebeten hatte, unauffällig zu sein, hatte er mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass sie sich ihm so um den Hals schmeißen würde. Zugegebenermaßen, es war unauffällig, wie sie sich gerade verhielt.
Zu diesem Schluss kamen wohl auch Acheron und seine Frau. Erster schüttelte genervt den Kopf, murmelte leise, er hoffe, Ares neue Bekanntschaft würde nicht zum Frühstück bleiben, dann zog er seine Frau in die andere Richtung. Diese schien eine ganz andere Meinung von der Szenerie zu haben.
„Ach, Acheron, in seinem Alter warst du ebenfalls des Öfteren mit verschiedener weiblicher Begleitung unterwegs. Lass ihm seine Woche. Freue dich, dass er mal wieder jemand kennengelernt hat, der ihn erkannt hat. Vielleicht bleibt sie ja für einige Zeit. Es wäre doch sehr schön, wenn er Mal wieder jemanden kennenlernt. Auch er braucht eine Familie. Eine andere als die deine."
„Sie wird ihn ablenken."
„Soll ich gehen? Ich lenke dich dann wohl auch ab."
„Ich bin nicht der Kriegsgott", widersprach Acheron noch, bevor er und Medeia außer Hörweite waren.
Schließlich löste sich Ares ziemlich widerwillig von seiner Begleiterin. Eigentlich hatte er es viel zu sehr genossen, was gerade passiert war. Auch Otrere wirkte nicht so, als würde es ihr gerade wirklich passen, dass der Kuss und alles andere nun vorbei sein sollte.
„Das war Acheron mit seiner Ehefrau Medeia. Er ist meine rechte Hand. Wir hätten ihm auch die Wahrheit sagen können", murmelte der Kriegsgott ziemlich verlegen.
„Du kannst ihm noch hinterherlaufen."
„Ich klär das auf, wenn ich ihn das nächste Mal sehe."
Zwischen den beiden entstand ein unangenehmes Schweigen. Keiner von den beiden wusste, wie sie jetzt weitermachen sollten. In beiden pochte der Wunsch, sie hätten einfach gar nicht aufgehört sich zu küssen. Es wäre einfacher gewesen, hätten sie den Dingen einfach ihren Lauf gelassen. Jedenfalls für den Moment. Nachdem sie den Dingen ihren Lauf gelassen hätten, wäre es wahrscheinlich noch komplizierter gewesen.
„Und jetzt?", fragte schließlich Otrere, welche ihre Hände noch immer in den Haaren des Kriegsgottes vergraben hatte.
„Wir wollten herausfinden, warum die Frauen benachteiligt werden."
„Klar, unsere kleine Detektivarbeit." Die Finger wurden aus den Haaren gezogen. Erst jetzt wurde Ares klar, dass die Frau sich noch gar nicht richtig zurückgezogen hatte. Vorher hätte er definitiv einfach weiter machen können.
„Ach, scheiß drauf", murmelte Ares. Er drückte seinen Mund erneut auf den der jungen Frau. Diese zögerte gar nicht erst, sondern erwiderte sofort den Kuss. Auch die Hand wurde wieder in den Haaren vergraben.
„Also das hier war jetzt –", begann Ares nach Worten zu suchen, während er die junge Frau neben sich betrachtete.
„Eine einmalige Sache", erklärte Otrere bestimmt. Nein, das hatte der Kriegsgott mit Sicherheit nicht sagen wollen. Er hatte es ganz und gar nicht sagen wollen. Auch wenn er die junge Frau gerade erst kennengelernt hatte, mochte er sie jetzt schon und nur zu gern, würde er sie weiter kennenlernen.
Otrere stand aus dem Bett auf. Ihre Kleidung war auf dem Boden verteilt. Diese sammelte sie wieder ein und begann sich wieder anzuziehen.
„Otrere, ich –", wollte sich der Kriegsgott erklären, wurde allerdings erneut unterbrochen.
„Du hast selber gesagt, eine Woche Teenager sein. Dafür gehst du immer zur Auswahl. One Night Stands. Mehr Teenager kann man wohl nicht sein. Ich hätte dich nicht mit meinen Problemen belästigen sollen. Tut mir leid. Ich werde mich mal, als Augen und Ohren versuchen. Mich kennen sie nicht. Mir gegenüber sind sie wahrscheinlich etwas offener."
„Otrere, du bist sauer, oder?", wollte der Kriegsgott schuldbewusst wissen. Er hätte nie so weit gehen sollen.
„Nein, das bin ich nicht. Diese Nacht war nur ein Fehler. Lass sie uns einfach vergessen. Du bist der Kriegsgott, deine Armee läuft nicht, wie sie sollte. Deine Armee, deine Verantwortung. Du hast genug zu tun. Also was hast du jetzt vor?"
„Zuerst werde ich das Problem erkennen", meinte Ares verunsichert. Er hatte nicht das Gefühl, die Ereignisse gerade würden einfach vergessen werden und damit war wieder alles Gut. Otrere kam ihm ziemlich wütend vor.
„Sexismus. Das Problem ist erkannt."
„Nein, das ist das Symptom, welches wir sehen können. Ich kann das Symptom heilen, doch nicht die unbekannte Krankheit. Also, was passiert, wenn ich es geheilt habe? Es kommt ein Neues. Und noch eines. Immer mehr. Ich kann sie alle bekämpfen. Manche einfacher, manche schwerer. Oder ich werde einmal gegen die Krankheit vorgehen."
„Also lässt du jetzt eine Menge Frauen einfach ablehnen?", rief die junge Frau erzürnt.
„Ja, das tue ich. Es ist die bessere Alternative. Wenn die Krankheit bekämpft ist, können sie sich gerne erneut bewerben."
„Das kann Jahre dauern!"
„Wenn ich nicht schnell den Auslöser finde, wird es das. Allerdings sind es mittlerweile genug Lager, sodass man vielleicht herausfinden kann, was die Ausbilder gemeinsam haben. Ich sehe mir gleich mal die Akten an."
„Heute noch?", fragte die junge Frau ungläubig, weshalb Ares nickte.
„Ja, heute noch. Ich will nur ungern die Kontrolle über meine Friedenswächter verlieren. Momentan beschützen sie uns, aber es kann sich ändern." Otrere seufzte leise. Sie wusste genau, die nächsten Worte würde sie wahrscheinlich bereuen.
„Soll ich dir helfen?"
Auf dem Boden von Ares Zimmer lagen ein Haufen Akten, die von einer Hauselfe dorthin gebracht worden waren, auf 26 Stapel verteilt. Zum einen nach den dreizehn Ländern geordnet, doch auch danach, in welchen Lagern Sexismus aufgekommen war und in welchen nicht.
„Also bei Hades herrscht das größte Problem. In fast fünfzig Prozent der Lager", stellte Otrere mit einem kurzen Blick auf die Stapel fest.
„Hades mag es, wenn ein bisschen Chaos herrscht. Das begünstigt vermutlich den Auslöser für den Sexismus", tat es Ares ab. Er konnte sich nicht vorstellen, dass der andere Gott etwas damit zu tun hatte. Er wollte es sich auch gar nicht vorstellen.
„Und wenn es nicht an Hades Führungsstil liegt, sondern an Hades selbst?" Der Kriegsgott sah ziemlich empört zu der jungen Frau herüber, welche noch immer die Akten musterte. Ihm gefiel es gar nicht, wie selbstverständlich sie einen anderen Gott beschuldigte.
„Das überhöre ich jetzt einfach. Hades ist vielleicht ein wenig grummelig, doch mit Sicherheit nicht der Feind." Der andere Gott und er hatten sich gerade wieder halbwegs zusammengerauft, das wollte er nicht durch Anschuldigen wieder kaputt machen.
„Und wenn du falschliegst? Wenn er doch etwas damit zu tun hat. Da wo ich aufwuchs, kamen immer sehr viele Händler. Sie erzählten immer viele Geschichten aus allen Königreichen. Auch aus dem von Hades. Ich weiß, du kennst ihn persönlich und auch schon wesentlich länger, aber vielleicht bist du deshalb auch ein wenig voreingenommen", stellte die junge Frau fest.
„Es gibt keine Beweise dafür. Solange wir die nicht haben, werde ich ihn nicht beschuldigen. Das Letzte, was wir momentan gebrauchen können, ist ein beleidigter Hades. Ich kann ihn höchstens bitten, mal bei sich im Land genauer hinzusehen."
„Wodurch er gewarnt wäre."
„Daher suchen wir nach Beweisen."
„Otrere, soll ich dir eine neue Akte geben?" Die junge Frau antwortete dem Kriegsgott nicht. Daher drehte sich Ares zu ihr. Otrere lag auf Ares Sofa. Eine Akte lag auf ihrem Bauch. Sie war eingeschlafen.
„Da muss wohl jetzt jemand ins Bett." Ares legte seine neue Akte wieder auf den Stapel. Stattdessen hob er die schlafende Frau hoch, um sie wieder in sein Bett zu legen. Kaum lag sie wieder dort, wachte sie allerdings wieder auf.
„Ares?", murmelte sie verwirrt.
„Schlaf einfach weiter. In ein paar Stunden beginnt schon wieder das Training. Dort solltest du nicht im stehen einschlafen", flüsterte der Kriegsgott zurück und begann sie zuzudecken.
„Willst du nicht auch schlafen?", wurde er gefragt.
„Ich brauche nicht so viel Schlaf. Meine Magie lässt mich problemlos ein paar Nächte durchmachen."
„Na gut." Die junge Frau kuschelte sich an den Kriegsgott. Kaum hatte sie das gemacht, war sie schon wieder eingeschlafen. Ares seufzte leise. Seine Lust, sich von ihr zu befreien, war verschwindend gering. Vielleicht sollte er auch ein paar Stunden schlafen. Es konnte nicht schaden.
Als Ares am nächsten Morgen aufwachte, war das Bett neben ihm leer. Von Otrere war keine Spur mehr zu sehen. Auf ihrem Weg nach draußen hatte sie nur einen Stapel mit Akten umgeschmissen.
Der junge Kriegsgott seufzte leise. Eigentlich hatte er gehofft, Otrere würde bei ihm übernachten. Dass sie wenigstens bis zum Frühstück blieb. Doch offensichtlich hatte sie die Flucht ergriffen. Und so wirklich verübeln wollte Ares es ihr nicht.
Die meisten hielten es nicht lange so nahe bei einem Gott aus. Es war anstrengend. Ständig war Ares in Schlachten unterwegs, machte die Nächte durch, um Schlachtpläne zu entwickeln und die Armee zu verwalten. Eine Woche im Jahr hatte er frei. Den meisten reichte es nicht. Doch eigentlich hatte er gehofft, wenn Otrere mit ihm arbeitete, würde sie ein wenig länger bleiben. Dass er sie vielleicht davon überzeugen konnte, ganz bei ihm zu bleiben, so wie es bei Acherons Familie seit Generationen der Fall war.
Missmutig stocherte Ares in seinem Frühstück herum. Eine Katze hatte sich zu ihm gesellt. Diese streichelte er liebevoll mit einer Hand.
„Na du? Spionierst du mir ein wenig für Artemis hinterher?" Ein liebevolles Mauzen war die Antwort.
„Du kannst Artemis sagen, ich bin noch immer der gleiche, alte Idiot. Sie baucht sich keine Hoffnung zu machen." Die Tür zum Speisesaal wurde geöffnet. Acheron, Medeia und dessen gemeinsamer, zweijähriger Sohn kamen herein.
„Ares, du bist noch hier? Nicht bei den anderen Rekruten?", fragte die Ehefrau von Ares rechter Hand.
„Nein, habe zu viel zu tun. Ich lasse sie dieses Jahr doch ausfallen."
„Vernünftige Entscheidung", kam es von Acheron. Medeia allerdings schüttelte entsetzt den Kopf.
„Aber er hat sich so darauf gefreut. Wo ist eigentlich deine Freundin von gestern Abend?"
„Fort. Hat sich nicht einmal verabschiedet. Ich bin in meinem Zimmer, arbeiten. Falls ihr mich dringend braucht, sagt mir Bescheid. Ansonsten würde ich es vorziehen, den heutigen Tag alleine zu verbringen." Ares stand von seinem Platz auf. Das nicht einmal angerührte Ei ließ er einfach stehen.
„Du hast nicht einmal aufgegessen", rief ihm Acherons Ehefrau besorgt hinterher.
„Ich habe keinen Hunger. Ich wünsche euch noch einen schönen Tag. Acheron, die Woche bleibt für dich natürlich trotzdem frei. Genieße die Zeit mit deiner Familie."
Ares hatte mittlerweile ungefähr dreiviertel der Akten durchgelesen. Dabei war eines deutlich geworden. Sämtliche Lager, in denen es ein Sexismusproblem gab, bekamen in den letzten drei Jahren mindestens einen neuen Ausbilder, welcher vorher eine hohe Stellung in Hades Königreich innehatte. Je mehr Ausbilder, die diesem Kriterium entsprachen, in einem Lager lebten, desto größer war auch das Problem. In den Lagern, in denen ausschließlich Ausbilder mit diesem Merkmal existierten, gab es kaum noch Frauen, die von ihnen erwählt wurden. Es schien so, als hätte Otrere recht gehabt. Der andere Gott hatte wohl wirklich seine Finger im Spiel.
Es klopfte an der Tür.
„Herein", rief der Kriegsgott. Er sah dorthin, woher das Geräusch gekommen war. Medeia stand im Türrahmen. Sie betrachtete den jungen Gott mit einem liebevollen Lächeln.
„Du hast die Frau von gestern wirklich gerne, nicht wahr? Seit wann kennst du sie?", wollte die Ehefrau von Ares rechter Hand wissen.
„Seit gestern", murmelte der junge Gott.
„Du verliebst dich wirklich schnell, Ares. Wie bist du sie so schnell wieder losgeworden?" Wie selbstverständlich bahnte sich die Frau ihren Weg durch die Akten bis zu de Kriegsgott, welcher inmitten der Papierberge auf dem Sofa saß.
„Ich denke, sie hatte das Gefühl, dass ich sie nur als One-Night-Stand gesehen habe", gab Ares ziemlich kleinlaut zu. Er wusste genau, er hatte es irgendwie selbst mit Otrere verbockt.
„Dann hättet ihr mit manchen Dingen vielleicht warten sollen, Ares."
„Ich habe es schon der Katze gesagt. Ich bin ein Idiot."
„Dann solltest du es ihr sagen. Sag ihr, dass du sie gern hast und du sie gerne wieder sehen willst. Und führe sie dieses Mal vielleicht aus, anstelle sie in dein Schlafzimmer zu bringen. Los, lass die Arbeit sein und geh zu ihr", wurde der Kriegsgott aufgefordert. Dieser seufzte leise. Er wusste genau, die Blondine hatte recht, aber er wollte es sich noch nicht eingestehen.
Ares atmete noch einmal kurz durch, bevor er die Hand hob, um anzuklopfen. Er war wieder in Gestalt Dasios zu Otrere gegangen, in der Hoffnung die junge Frau würde noch einmal mit ihm sprechen. Und in der Hoffnung, sie würde noch immer hier wohnen.
Drinnen blieb alles still. Der Kriegsgott sah noch einmal auf seine Uhr. Sie müsste eigentlich schon von dem Training zurück sein. Auch zu Fuß hätte sie den Weg dreimal geschafft.
„Zenon? Ich bin es. Können wir bitte reden?" Dieses Mal hörte man drinnen leise Schritte. Schließlich wurde die Tür geöffnet. Otrere steckte immer noch in Jungengestalt den Kopf heraus. Sie musterte kurz ihren Besucher, dann sah sie sich auf dem Gang um. Doch bis auf Ares war niemand hier.
„Warum warst du nicht beim Training?", wollte sie sichtlich verstimmt wissen.
„Ich habe mich um meine Probleme gekümmert. Warum bist du in der Nacht einfach abgehauen?", stellte Ares die, seiner Meinung nach, viel interessantere Frage.
„Wie bitte?" Jetzt schien Otrere wirklich wütend auf den Kriegsgott. Sie verschränkte abwehrend die Arme, während sie ihn ansah, als hätte er etwas Unverschämtes gefragt.
„Du hast mich schon verstanden."
„Und du bist offensichtlich zu faul zum Lesen. Ich habe dir einen Brief hingelegt. Auf deinen Nachtisch." Ares wusste genau, die junge Frau log nicht, allerdings wusst er auch etwas anderes ganz genau.
„Da war kein Brief", protestierte er.
„Komm rein. Das erklärt vermutlich schon einiges." Die junge Frau trat bei Seite und öffnete die Tür etwas weiter, sodass Ares eintreten konnte.
Neugierig sah sich der Kriegsgott in dem Zimmer um. Es war klein und nur spärlich mit wackeligen Holzmöbeln eingerichtet. Ein Bett, ein kleiner Schrank, ein Tisch mit einem Stuhl, mehr war in dem Raum nicht. Von einem Fenster aus sah man den beginnenden Wald. Vor diesem war eine junge, blonde Frau bewusstlos zusammengesackt.
Die Frau musste ungefähr im Alter von Ares und Otrere sein. Doch es war schwer zu sagen, wie alt sie genau war. Ihr Körper war übersät mit verschiedenen Wunden. Manche von Magie, anderen von Schwertern. Jemand hatte sie gereinigt und versucht sie zu heilen, doch wirklich viel Erfolg hatte diese Person damit eher nicht gehabt.
Auch in ihrem aschblonden Haar klebte an einigen Stellen noch getrocknetes Blut. Jemand hatte versucht, es raus zu waschen, weshalb sie noch ganz nass waren, doch trotzdem kräuselten sie sich schon wieder. Normalerweise hatte sie wahrscheinlich wunderschöne Naturlocken.
„Was ist mit ihr passiert?", fragte Ares besorgt.
„Friedenswächter", murmelte Otrere, welche schon wieder in Richtung der jungen Frau lief.
„Sie werden mit Sicherheit einen guten Grund –", versuchte der Kriegsgott seine Arme zu verteidigen.
„Ares, der einzige Grund dafür ist, dass sie eine Frau ist. Sie hat sich im Nachbarlager beworben, wurde aber am ersten Tag schon rausgeworfen. Sie hat rumgestochert, wollte den Grund erfahren. In der Nacht sind dann Friedenswächter nach ihr suchen gegangen. Das war der Grund. Nur das und nichts anderes." Der Kriegsgott seufzte leise. Er hatte mit genau dieser Antwort gerechnet, doch trotzdem wollte er sie nicht hören.
„Wie heißt sie? Und woher kennst du sie?"
„Nefeli. Man könnte sie als meine kleine Schwester bezeichnen. Wir sind im gleichen Waisenhaus aufgewachsen." Der Blondine wurde liebevoll über die Haare gestrichen.
„Ihr seid Waisen?", rief Ares überrascht. Er wusste eigentlich gar nichts über Otrere.
„Ja, ich wurde, als ich sechs war, am Strand meines Heimatdorfes angespült. Mit meinem Schwert. Aber mehr als meinen Namen wusste ich nicht mehr. Ich kenne noch immer nicht mehr. Aber ich konnte noch immer mit dem Schwert umgehen. Das muss ich von meinen richtigen Eltern gelernt haben." Mittlerweile hatten Ares und Otrere Nefeli wieder in das schmale Holzbett verfrachtet.
„Du solltest nie wieder versuchen, jemanden zu heilen, Otrere. Ein Wunder, dass du es nicht schlimmer gemacht hast", versuchte Ares die Stimmung irgendwie aufzulockern.
„Kannst du sie heilen?" Otrere schien nicht wirklich dankbar für den Versuch des Kriegsgottes zu sein.
„Nein, wir müssen sie zu dem Heiler in meinem Schloss bringen", gab Ares zu. Zwar war er sehr mächtig und konnte eigentlich auch ganz gut heilen, doch wenn es die Möglichkeit gab, überließ er es lieber jemand anderem.
„Nein, er kann uns verraten."
„Mein Heiler ist ein Hauself. Sie sind sehr treue Wesen. Er würde uns nicht verraten. Außerdem hattest du wohl Recht. Alle Lager, in denen Sexismus herrscht, wurden in den letzten drei Jahren mit neuen Ausbildern besetzt. Alle Ausbilder waren in Hades Königreich, hatten einen hohen Rang und somit sehr wahrscheinlich auch Kontakt zu ihm. Es ist noch kein Beweis, aber ein sehr starker Hinweis. Die Hauselfe war nie dort. Wir bringen sie in einen geheimen Raum unter dem Schloss. Dort hole ich die Elfe hin. Ihr seid dort sicher. Das verspreche ich euch."
„Hier kann sie nicht bleiben. Daher, in Ordnung. Aber ich halte es für eine schlechte Idee."
Ares breitete vorsichtig die Decke über der bewusstlosen Nefeli aus. Jakrey, Ares Heiler und einer der vielen Hauselfen im Schloss, saß auf einem Sessel. Eine Kiste mit vielen Tränken stand neben ihm.
„Wird sie wieder gesund werden, Jakrey?" Der Kriegsgott sah besorgt zu dem Heiler herüber. Wenn Nefeli irgendwelche bleibenden Schäden davontragen würde, könnte der Kriegsgott es sich wahrscheinlich niemals wirklich verzeihen, die Kontrolle über seine Armee verloren zu haben.
„Zweifelt ihr seit neusten an meinen Fähigkeiten, Ares?", fragte der Hauself belustigt. Eigentlich wusste er, der Gott hielt sehr viel von seinen Fähigkeiten, ansonsten hätte er ihn nicht geholt.
„Nein, das tue ich natürlich nicht. Aber ich weiß durchaus, deine Magie hat Grenzen. So wie jede Magie", murmelte der Kriegsgott abwesend. Dass Jakrey es nicht ernst gemeint hatte, war an ihm komplett vorbeigegangen.
„Sie wird gesund, Ares." Der Hauself wandte sich Otrere zu.
„My Lady, darf ich mir ihren Arm ansehen? Er sieht nicht gut aus", bat er die Rekrutin, welche rot anlief. Eine Lady war sie nun wirklich nicht.
„Bitte nenne mich Otrere. Ich trage nicht den Titel einer Lady."
„Das können wir ganz schnell ändern!", rief Ares eilig.
„Nein, denn ich darf nicht in deine Armee und kann mir somit auch nicht meinen Titel verdienen", entgegnete Otrere spitz. Sie wollte nichts von dem Kriegsgott geschenkt bekommen, weil sie eine Nacht zusammen verbracht hatten, sondern sich alles ehrlich erarbeiten.
„Ich bin dabei mich um das Problem zu kümmern. Ich lasse dich und deine Schwester nun allein. Ich muss noch arbeiten. Auf wiedersehen, Otrere und wünsche Nefeli von mir gute Besserung, wenn sie aufwacht." Ares verließ den Raum fluchtartig und lief bis zum Ende des Geheimganges. Jetzt gerade wollte er einfach Abstand zwischen sich und die Frau bringen. Er hatte nicht das Gefühl, dieses Gespräch würde irgendwann in eine Richtung gehen, die ihm wirklich gefallen würde.
„Ares! Warte bitte!", hörte er hinter sich Otrere rufen. Der Kriegsgott drehte sich wieder um.
„Kann ich noch etwas für dich tun, Otrere?", fragte er ungeduldig.
„Du bist zu mir gekommen, um zu reden. Was wolltest du?", fragte die Rekrutin, welche endlich bei dem Kriegsgott ankam.
„Ich wollte wissen, warum du einfach in der Nacht abgehauen bist. Auch wenn ich schon eine Vermutung habe", murmelte Ares. Jetzt gerade hatte er wirklich keine Nerven für eine weitere Abfuhr der jungen Frau.
„Nefeli hat um Hilfe gerufen", versuchte sie Otrere zu erklären, doch Ares schüttelte nur leicht den Kopf.
„Wirklich? Und warum hast du mich dann nicht geweckt? Wenn sie in Gefahr war, als du gegangen bist, wäre es logisch gewesen mich zu wecken. Nicht mir einen Brief zu schreiben und einfach zu ihr zu rennen", entgegnete der Kriegsgott.
„Ich bin nicht gerannt. Ich habe mir einen Granianer von dir geborgt, der friedlich im Schlosshof spazieren war. Nachdem ich Nefeli ins Gasthaus gebracht hatte, lief er wieder zurück. Hoffe ich jedenfalls." Auch wenn Ares mit Sicherheit mehr als nur eines von den geflügelten Pferden besaß, wäre er bestimmt wütend, wenn eines der Tiere jetzt gerade dank ihr irgendwo durch das Dorf rannte.
„Das beantwortet nicht, warum du mich nicht geweckt hast."
„Weil du dich um deine Armee kümmerst und ich mich um meine Schwester. Deine Armee, deine Verantwortung. Meine Schwester, meine Verantwortung!", rief die junge Frau. Sie verstand nicht, warum Ares damit anscheinend ein solch großes Problem hatte. Sie hatte sich schon, seit sie ins Waisenhaus gekommen war, um Nefeli gekümmert, damit würde sie doch jetzt nicht aufhören oder ständig jemanden um Hilfe bitten.
„Ich hätte dir geholfen. Genauso wie du mir bei meinem Problem mit den Friedenswächtern helfen willst", stellte der Kriegsgott fest.
„Dann werde ich dich das nächste Mal wecken, anstelle dir einen Granianer zu klauen", schlug Otrere vor. Auch sie hatte eigentlich keine Lust, eine Grundsatzdiskussion über das Aufteilen der Probleme zu führen.
„Also schläfst du noch einmal bei mir? Und bleibst vielleicht mal bis zum Frühstück? Also, wenn nicht gerade deine Schwester gerettet werden muss."
„Ja, ich denke, das werde ich." Ein breites Grinsen machte sich auf dem Gesicht des Kriegsgottes breit. Sein Herz machte unkontrollierte Sprünge. Genau das hatte er hören wollen.
„Ich muss jetzt los. Die letzten Akten durchsehen."
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