6. Herzschlag

... als ich mein Vertrauen an die Zeit weitergab.

„Jill", ein Wort, das den Gedanken an die zwei Turteltäubchen sofort verblassen lässt.

Mein Blick schweift über die Gesichter der Jungen und Mädchen rund um den beladenen Tisch, auf dem sich die Tabletts nur so stapeln.

Da sind Freude, Unsicherheit, Überraschung, Zweifel und- Enttäuschung? Bevor ich das Gefühlschaos vor meiner Nase ordnen kann, bleibt mein Blick an dem Avas haften. Der Quelle meines geflüsterten Namens.

Auch ihr steht die Unsicherheit unwiderruflich ins Gesicht geschrieben und drängt somit die Freude und Überraschung über meine plötzliche Anwesenheit in den Hintergrund.

„Können wir-" Sie stockt, während ihre Augen in Richtung Ausgang huschen. Und plötzlich fällt mir auch wieder ein, dass ich ihre Nachricht noch nicht gelesen, geschweige denn geöffnet habe, was zumindest einen Teil ihrer Unsicherheit erklärt.

In der Runde wird es plötzlich ganz still, als wären die Personen am Tisch und in dessen unmittelbarer Nähe wie durch eine unsichtbare Blase von den restlichen Geräuschen der Mensa abgeschirmt.

Und trotz der Tatsache, dass mein Gehirn jede Regung der Anwesenden registriert, verarbeitet und abspeichert, gilt meine ganze Aufmerksamkeit dem Mädchen vor mir. Meiner besten Freundin. Selbst die kurze Funkstille zwischen uns konnte nichts an der Fähigkeit, uns blind zu verstehen, ändern.

Und so nicke ich nur einmal unmerklich mit dem Kopf, nachdem mir Liv neben mir aufmunternd den Ellenbogen zwischen die Rippen schob, und setze mich in Bewegung, Ava dicht hinter mir.

In einem ruhigen Seitengang lassen wir uns an den gegenüberliegenden Wänden auf den Boden gleiten und hängen für einen kurzen Moment unseren jeweiligen Gedanken nach.

Solange, bis ich die ohrenbetäubende Stille nicht mehr aushalte.

„Warum erst jetzt?" Ich räuspere mich, um meiner Stimme ein wenig mehr Sicherheit zu verleihen. „Warum hast du mir ein Dreivierteljahr dabei zugesehen, wie ich mich offensichtlich zum Eimer mache und warum musstest ausgerechnet du mir die Nachricht überbringen, dass mir wohl doch das nötige Talent fehlt, unsere Football-Mannschaft anzufeuern?!"

„Jill, ich-" Ihre Stimme klingt verzweifelt, was meinen Zorn, den ich so sehr versuche zu unterdrücken, wieder hochbrodeln lässt.

„Hör mir zu-" „Nein du hörst mir jetzt mal zu.", unterbricht sie mich plötzlich aufbrausend und von diesem unerwarteten und vor allem für sie so untypischen Ausbruch geschockt, verstumme ich. Normalerweise bin ich der temperamentvolle Part in unserer Freundschaft. Doch ihre langen roten Haare scheinen ihr in diesem Moment nur so wie Flammen um den Kopf zu wirbeln und aus ihren grünen Augen blitzt der Kampfgeist.

Dass sie für alles, was ihr am Herzen liegt, einsteht, ist mir keinesfalls neu, aber so aufbrausend wie jetzt, habe ich sie noch nie erlebt.

„Jill, ich weiß, dass du stinksauer, wütend und enttäuscht bist. Und bitte glaub mir, ich habe volles Verständnis dafür. Mir würde es an deiner Stelle nicht anders gehen. Was passiert ist, tut mir unendlich leid." Die letzten beiden Worte betont sie Silbe für Silbe, ganz so, als wolle sie sicher gehen, dass ich sie mir besonders gut einpräge.

„Und wenn ich könnte, würde ich das alles rückgängig machen, glaub mir. Andererseits bin ich der Meinung, dass es richtig war, es dir zu sagen. Ich könnte dich nicht weiter belügen und dir etwas vormachen, was so gar nicht existiert. Es dir allerdings erst jetzt gesagt zu haben, ist falsch. Ich will mich weder rausreden noch verteidigen. Ich hab einfach nur gesehen, wie viel Spaß du während des Vorturnens hattest. Nach der Sache- du weißt schon, hab ich dich ewig nicht mehr aufrichtig lachen sehen, doch da auf dem Platz hast du so gelöst und frei gewirkt, weshalb ich Sally schließlich davon überzeugen konnte, dich im Team aufzunehmen. Wir hätten dir keine Hoffnungen machen dürfen."

Sie hält kurz in ihrer Rede inne und ich warte geduldig, bis sie schließlich mit etwas ruhigerer Stimme fortfährt.

„Ich möchte außerdem, dass du weißt, dass du dich nicht zum Eimer gemacht hast, denn dann hätte ich weder Sally überzeugen können, noch hätte ich das überhaupt erst in Erwägung gezogen, nur um dich anschließend, als deine beste Freundin ins offene Messer laufen zu lassen. Das war nicht mein Zeil. Es ist einfach so, dass wir festgestellt haben, dass deine Umsetzung der Figuren stets leicht von Unseren abwich. Das ist ja auch völlig okay, nur wird es dann schwerer, für absolute Synchronität zu sorgen. Ich weiß, dass wir dich damit sehr, sehr verletzt haben und ich kann nur immer wieder sagen, wie leid es mir- wie leid es uns allen tut. Du bist und bleibst ein unersetzbarer Teil unserer Gruppe. Ich hatte so Angst, dich zu verlieren. Wir hatten nämlich ursprünglich die Hoffnung, wenn ich es dir, als deine beste Freundin sage, würdest du es vielleicht einfacher aufnehmen. Im Nachhinein haben wir eingesehen, dass das völliger Schwachsinn ist."

Ein paar stumme Tränen rinnen ihre Wangen entlang, bevor sie kaum hörbar hinzufügt: „Es tut mir unendlich leid, bitte verzeih mir."

Während ihrer gesamten Rede habe ich sie nicht einmal unterbrochen. Und nun, da ich etwas sagen will, bringe ich kein Wort heraus, da der schmerzhafte Kloß in meinem Hals mich am Reden hindert. Ebenfalls mit Tränen in den Augen nicke ich zaghaft.

Ich bin immer noch super enttäuscht. Dieser Sport liegt mir zu sehr am Herzen, als dass ich all das emotionslos über mich ergehen lassen könnte. Aber zumindest ist mein Zorn verraucht. Und die Tatsache, dass ich Ava die Chance gegeben habe, ihre Sicht der Dinge zu beleuchten, nimmt mir bereits einen beträchtlichen Teil der Last, die sich in den letzten Tagen auf meinen Schultern angestaut hat.

Ich möchte Verständnis für die Worte der Rothaarigen aufbringen. Ich möchte es wirklich, so sehr. Aber im Moment fällt mir das noch reichlich schwer. Und dennoch werde ich zumindest versuchen, meiner besten Freundin so entgegenzukommen, wie sie es für mich tut. Wir kennen uns schon seit unserer Kindheit und seitdem sind wir so ziemlich unzertrennlich. Ein Streit wie dieser kommt sehr selten vor. Wir sind es uns also irgendwie schuldig, das Ganze wieder geradezubiegen, auch wenn wir dabei stark auf die Macht der Zeit angewiesen sind.

„Danke für deine Ehrlichkeit, Ava. Ich denke, du weißt, dass ich das Ganze nicht einfach vergessen und vergeben kann, aber ich werde mich nicht weiter von euch abschotten. Ihr seid meine Freunde und auch, wenn wir als Cheerleader-Team versagt haben, bedeutet das nicht, dass wir es als Freunde nicht schaffen, uns zusammenzuraufen. Du bist mir unglaublich wichtig, schon immer. Und du wirst mich keinesfalls verlieren. Soweit lasse ich es gar nicht erst kommen. Falls du also vorhattest, mich loszuwerden, solltest du dich beim nächsten Mal etwas mehr anstrengen."

Ich zwinkere ihr schalkhaft zu, was sie mit einem belustigten Hicksen quittiert, bis ich wieder zu gebührender Ernsthaftigkeit zurückkehre. „Allerdings bitte ich dich dennoch, mir Zeit zu geben. Ich kann nicht so tun, als wäre nichts gewesen und ich gebe zu, dass du mich mehr als verletzt hast, nicht zuletzt mit der Aussage von gestern."

Kaum erwähne ich eben jenes gestrige Zusammentreffen in der Toilette, fängt sie bereits an, mit weit aufgerissenen Augen ihren Kopf zu schütteln, wobei ihr ihre rote Mähne erneut seidig ums Gesicht fällt.

„Ich weiß, das muss völlig falsch rübergekommen sein und zugegeben hätte der Zeitpunkt kaum ungünstiger sein können. Nur habe ich gesehen, wie stark dich das kurze Gespräch mit ihm getroffen hat und ich wollte einfach für dich da sein. Ich hätte bei meinen Fehlern anfangen müssen, bevor ich solche Ansprüche stelle."

Die Aufrichtigkeit in ihrem Blick lässt mich kurz stocken. Es ist nichts mehr von den anfänglichen Tränen zu sehen. Nur noch pure Entschlossenheit, das neu zu errichten, was sie eingerissen hat.

Und ohne zu zögern springe ich auf, ziehe sie gleichzeitig mit mir auf die Füße und verwickle sie in eine sauerstoffraubende Umarmung. Wie sehr mir das gefehlt hat. In dieser Sekunde weiß ich mit Sicherheit, dass wir das Schlamassel zwischen uns kitten können.

„Alles wird gut!", flüstere ich, woraufhin sie mich noch etwas fester an sich drückt, bevor sie mich im nächsten Moment erschrocken auf Armeslänge entfernt hält.

„Mist, wie spät ist es?! Ich komme noch zu spät zu Geschichte und du weißt, wie Mr Roberts ist! Wir sehen uns, ja? Du glaubst nicht, wie froh ich bin, dich nicht verloren zu haben."

Nachdem sie mir flink einen Kuss auf die Wange gedrückt hat, hastet sie in Richtung Abzweigung, ganz am Ende des Flures, an der sie mit einem letzten Winken verschwindet.

Und so eile auch ich in Richtung des Biologie-Zimmers, in dem ich meine nächste Stunde habe, als ich plötzlich zwei aufgeregte Stimmen vernehme. Der Lautstärke und des Tonfalls nach zu urteilen, geht es hier nicht um kleine belanglose Pausengespräche, zumal beide Personen offensichtlich um jeden Preis vermeiden wollen, belauscht zu werden.

Ganz vorsichtig spähe ich um die Ecke und halte unwillkürlich den Atem an.

„Komm schon, du zierst dich doch sonst nicht so." Der Junge beugt sich stürmisch vor und drückt dem Mädchen, dass er gierig an der Hüfte festhält, einen Kuss auf die Lippen. Das Mädchen wiederum scheint mit sich zu hadern und hin- und hergerissen zu sein, ob sie den Kuss erwidern, oder ihr Gegenüber von sich stoßen soll.

Nachdem sie für einen kurzen Moment ihren Mund genauso leidenschaftlich gegen seinen bewegte, legt sie die Handflächen auf seine Brust und drückt ihn mit sanfter Gewalt von sich.

„Ja, normalerweise bist du es, der sich ziert, Cole. Was ist also passiert, dass du so aufgewühlt bist?! Ich erkenne dich ja kaum wieder. Nein- ich meine es ernst! Hör auf damit!"

Den erneuten Versuch sie zu küssen abwehrend, tritt Trisha einen Schritt zurück und sieht Colton Hill wütend in die Augen. Mit einem letzten Kopfschütteln macht sie auf dem Absatz kehrt und lässt ihn wortlos stehen.

Auch ich habe genug gesehen, um meinem Herzen und meinem Kopf genügend Material zu liefern, mir das Leben zur Hölle zu machen. Denn auf diesen einen jungen Mann reagieren sie beide verlässlich wie auf Knopfdruck. Nur blöd, dass mir diese Reaktion das Gefühl gibt, Stück für Stück innerlich zu zerfallen.

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Hier ist es also, das Kapitel, dem ich schon länger entgegenfiebere und mit dem ich hoffe, euch zumindest etwas von Ava überzeugen zu können. Was sagt ihr dazu? :)

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