11. Herzschlag

... als ich am Zufall (ver-) zweifelte.

„Nicht dein Ernst?! Und du willst mir wirklich sagen, dass du den Brief immer noch nicht geöffnet hast? Es gibt tatsächlich Menschen, die aus Fehlern lernen, du gibst mir allerdings gerade reichlich Gründe, daran zu zweifeln, Jill."

Avas Stimme krächzt mir mehr schlecht als recht durch den Lautsprecher meines Handys entgegen. Wie sie verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammen schlägt, kann ich mir dennoch bildlich vorstellen.

Vor einer halben Stunde ist es mir tatsächlich gelungen, meine Freundin nach etlichen Versuchen ans Telefon zu bekommen, wobei ich sie ganz offensichtlich geweckt habe, was, wie ich im Nachhinein erfuhr, auch seine Gründe hat.

Nach der Party hat es Ava offensichtlich ziemlich erwischt, weshalb sie seit Samstag mit einer heftigen Erkältung im Bett liegt und die meiste Zeit damit verbringt, zu schlafen oder Instant Hühnerbrühe förmlich zu inhalieren. Ob das hilft ist eher fragwürdig.

Mein leichter Ärger darüber, dass sie es nicht für nötig gehalten hat, mir Bescheid zu geben, ist relativ schnell verflogen, seit sie begonnen hat, im Minutentakt zu niesen, zu husten, oder in ein Papiertaschentuch zu schnauben. Von ihrer Stimme will ich gar nicht erst reden.

Und dennoch denkt sie gar nicht daran ihre Stimmbänder zu schonen und hält mir stattdessen gefühlt seit einer geschlagenen Ewigkeit eine heisere Standpauke vom Feinsten, ganz nach dem Motto: „Wie kannst du deine Post nur so lange aufschieben?!"

„Ava, du weißt ganz genau, dass du und Hunt dem Ganzen von Anfang an mehr Bedeutung zugemessen habt, als ich und du weißt auch ganz genau, warum. Ich hab keinen Bock darauf, dass sich die Sache vom letzten Jahr wiederholt."

Ich gebe mir keine Mühe, den genervten Tonfall in meiner Stimme zu verbergen. Ava soll ruhig merken, dass ich mir um Welten bessere Themen vorstellen könnte. So versuche ich, das Gespräch unauffällig in eine andere Richtung zu lenken.

„Apropos Hunter, weißt du etwas von ihm? Er war heute nämlich auch nicht in der Schule."

Am anderen Ende ist es kurz still. „Nein, keine Ahnung, was mit ihm ist. Aber lenk doch nicht ab! Was ist nun mit dem Brief, hast du vor, ihn heute noch zu öffnen?"

Am liebsten würde ich den Brief samt seines Vorgängers so weit weg wie möglich befördern und ich bin mir sicher, dass das Ava durchaus bewusst ist. Ihre Frage war viel mehr ein Appell an mich, den Umschlag endlich zu öffnen.

Trotz dass sich alles in mir dagegen sträubt, fische ich schließlich das kleine Stück Papier aus meiner Schultasche und mache mich mit zittrigen Fingern daran, den Umschlag zu öffnen.

Aus dem Lautsprecher ertönt ein Räuspern dicht gefolgt von dem Geräusch, das entsteht, wenn man mit den Fingernägeln auf eine harte Oberfläche trommelt. Ich ignoriere dies geflissentlich.

Viel zu schnell ist die kleine zusammengefaltete Notiz aus ihrer Hülle gelöst und ich beginne widerwillig das Geschriebene vorzulesen.

Hey Girl,

ich muss zugeben, ich war bis vor Kurzem ziemlich nervös. Das liegt hauptsächlich daran, dass du bis vor ein paar Tagen weder Blau noch Rot getragen hast.

Versteh mich nicht falsch, ich will definitiv nicht wie ein irrer Stalker rüberkommen und trotzdem war ich positiv überrascht, als ich dich letzten Freitag in dem Kleid gesehen habe. Blau steht dir, du solltest es häufiger tragen.

Ehrlich gesagt habe ich kurz gezweifelt, ob das deine Antwort ist, bis ich beschlossen habe, dass ich erstens nicht an Zufälle glaube und zweitens dem Ganzen etwas nachhelfe, wenn nötig. ;)

Ich freue mich also sehr über deine Zusage, dich am 14. Februar auf den Ball begleiten zu dürfen.

Eins noch... Bitte überdenk das alles nicht zu krass, sondern lass es auf dich zukommen. Außerdem wäre es cool, wenn das erst mal unter uns bleibt. Das macht es irgendwie spannender.

~ H

„Spannender- ich glaube, wir haben ziemlich verschiedene Ansichten, was die Bedeutung von 'spannend' angeht.", echauffiere ich mich durch den Hörer in meiner Hand, werde jedoch relativ schnell auf offensichtlich wichtigere Dinge hingewiesen.

„Ist das das Einzige, was bei dir hängen geblieben ist?! Jill, überleg doch mal, er muss auch auf der Party am Freitag gewesen sein und er muss dich ganz offensichtlich gesehen haben. Vielleicht war er sogar ganz in deiner Nähe, ohne, dass du es wusstest."

Avas Worte regen mich zum Nachdenken an. Hastig nehme ich den Brief wieder auf, den ich eben temperamentvoll auf meinen Schreibtisch gepfeffert habe, und suche nach dem Absatz, in dem der Unbekannte die Feier anspricht.

Beinahe sofort werde ich fündig und überfliege besagte Textzeilen erneut. Ich stocke jedoch, als ich den letzten Teil des Abschnitts lese.

Blau steht dir, du solltest es häufiger tragen.

Der Satz rüttelt an etwas in meinem Gedächtnis. Ich brauche allerdings einen Moment, bis ich weiß warum.

„Ava, Thomas Green hat heute so was Ähnliches zu mir gesagt, als wir zusammen auf dem Schulhof standen. Er-„

„Ihr ward heute zusammen auf dem Schulhof? Du meinst nur ihr zwei? Und du wolltest mir nicht zufällig etwas davon erzählen, vor allem wegen Freitag? Ich hab mich bis jetzt mit meinen Fragen echt zurückgehalten, was auch immer ihr dort im Badezimmer getrieben habt, aber jetzt-„

Diesmal bin ich es, die meine Freundin unterbricht, zu unser beider Wohl. Denn während ich mich vor einer weiteren Peinlichkeit rette, bewahre ich sie davor, an einem erneuten Hustenanfall zu ersticken, natürlich ganz uneigennützig.

„Nein, wir waren zusammen als Gruppe auf dem Schulhof und er stand eben neben mir. Und nur zu deiner Info, wir haben nichts im Badezimmer getrieben und wenn es okay für dich ist, würde ich diesen Vorfall, so peinlich er doch war, einfach gern stillschweigend vergessen. Danke. Aber mal im Ernst, denkst du, es ist möglich, dass er hinter den Briefen steckt? Ich meine 'Green' und seine Hose an diesem Abend, dazu noch die Tatsache, dass er mich auffällig oft auf die Farbe meiner Kleidung anspricht- bisschen viel Zufall auf einmal, nicht?"

Während meiner Überlegung habe ich mich immer weiter in diese Möglichkeit hineingesteigert, wobei ich nicht nur schneller, sondern auch um eine Tonlage höher gesprochen habe und nun selbst aufpassen muss, keinen plötzlichen Hustenkrampf zu erleiden. Ava spinnt meine Theorie jedoch heiser weiter.

„Du meinst er steckt hinter all dem? Das könnte natürlich auch sein plötzliches Interesse an dir erklären."

In meinem Kopf setzt sich das Bild zusammen, wie Ava süffisant die Augenbrauen in die Stirn zieht.

„Und trotzdem wundert es mich. Ich meine, er ist einer von Coltons engsten Freunden und ihm hätte das doch auffallen müssen, was zur Folge hätte, dass er Green mit allen Mitteln daran hindern würde, meinst du nicht?"

Die Unsicherheit in ihrer Stimme ist unverkennbar, was zur Folge hat, dass sie mich unweigerlich damit ansteckt. Ich bin mir dabei allerdings nicht sicher, ob es an unserem noch zum Reißen gespannten Freundschaftsband, oder tatsächlich nur an der banalen Überlegung liegt, dass Thomas Green womöglich tatsächlich die Lösung all dieser verwirrenden Fragen sein könnte.

♡︎♡︎♡︎

Selbst nachdem ich meine beste Freundin irgendwann davon überzeugt habe, ihre Stimme zu schonen, natürlich nicht ohne vorher die aktuelle Situation, samt aller möglichen bis unmöglichen Szenarien durchzukauen, konnte ich meine Unsicherheit nicht ganz verdrängen.

So liege ich mittlerweile in meinem Bett und starre mal wieder gedankenversunken an die Zimmerdecke.

Die Überlegung, dass tatsächlich der Schwarzhaarige der Verantwortliche für meine Grübeleien sein könnte, lässt mich nicht los und bereitet mir gleichzeitig Kopfschmerzen. Nicht, dass er eine schlechte Begleitung wäre, aber irgendetwas an dem Ganzen passt noch nicht. Denn so sehr ich mich auch bemühe, ich bekomme das Gefühl nicht los, etwas Offensichtliches übersehen zu haben.

Doch selbst, wenn Thomas es nicht ist, fällt es mir schwer, dem letzten Absatz des Briefschreibers Folge zu leisten, und nicht alles zu überdenken.

Ich bin fast eingeschlafen, als mir plötzlich wie Schuppen von den Augen fällt, was genau an all dem nicht passt.

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