10. Herzschlag

... als ich gern farbenblind gewesen wäre.

Das Wochenende verlief ziemlich ereignislos. Die meiste Zeit benötigte ich, um die Ereignisse der vergangenen Party, zugegeben länger als nötig, Revue passieren zu lassen, nur um sie anschließend doch noch fein säuberlich in dem hinteren Teil meines Gedächtnisses zu verstauen. Selbstverständlich nicht ohne ein imaginäres Neon-Post-It, das mich wahrscheinlich auch noch die nächsten Tage penibel an letzten Freitag erinnern wird.

Das blaue Glitzerkleid, das seit besagtem Tag über der Lehne meines Schreibtischstuhls hängt, hat diesem Zustand nicht wirklich viel entgegen zu bringen.

Nachdem sich Ava irgendwann glücklicherweise über meine Anweisung weiter zu tanzen, statt mich auf die Toilette zu begleiten, hinweg gesetzt hat, musste ich mir wohl oder übel eingestehen, dass ich ohne sie in dieser Situation ziemlich aufgeschmissen gewesen wäre.

Natürlich, Thomas ist mir keineswegs fremd, da er nicht nur mein Mitschüler ist, sondern zu einer früheren Zeit tatsächlich mal zu meinem engsten Freundeskreis zählte. Heute ist er, genau wie Trisha und Colton einfach nur noch ein Teil der großen Gruppe, wobei seine Freundschaft zu Letzterem sicher nicht ganz unschuldig daran ist.

Ich hätte mir bessere Gegebenheiten vorstellen können, um nach längerer Zeit mal wieder allein mit ihm zu reden, sofern man das als Reden bezeichnen kann. Letztendlich war es doch eher ein 'körperliches' Zusammentreffen.

Doch trotz der Tatsache, dass ich mir unsicher bin, wie ich mich ihm gegenüber mittlerweile verhalten soll, hätte es um einiges unangenehmer werden können. Beispielsweise hätte ich ihn auch halb nackt vorfinden können. Dem Universum sei Dank war dies nicht der Fall, denn bereits angezogen hat er es unweigerlich geschafft, sich für diesen Abend in meinen Kopf zu schleichen. Für diesen Abend und noch etwas länger...

Und doch hatte nicht nur Ava beschlossen, mich nach längerer Abwesenheit zu suchen, sondern offensichtlich hatte auch Colton seinen Freund vermisst. Denn während mich meine beste Freundin überschwänglich aus Thomas' Armen direkt in ihre Eigenen beförderte, nahm der Blonde seinerseits seinen Kumpel in Beschlag.

Unsere kleine, aber nicht minder unangenehme Versammlung in Sallys Badezimmer löste sich recht schnell wieder auf, was Thomas Green allerdings nicht daran hinderte, mich eine Stunde und einige weniger harmlos gefüllte Plastikbecher später, von hinten anzutanzen.

Ich weiß bis heute nicht, was mich dazu veranlasst hat, auf sein Spielchen einzugehen. Vielleicht war es Colton Hill, dem es bei unserem Anblick doch nicht ganz gelang sein Pokerface aufrecht zu erhalten. Vielleicht auch Ava, die mir verschwörerisch und gleichzeitig auffordernd zuzwinkerte, während ihr Blick mir unwiderruflich zu verstehen gab, ich solle mich einfach mal gehen lassen.

Oder aber vielleicht die unterschwellige Enttäuschung darüber, dass der Schwarzhaarige und ich bei was auch immer unterbrochen wurden, gegen die ich mich zwar wehrte, die ich allerdings dennoch nicht ganz verdrängen konnte.

Und so ließ ich es zu, dass der junge Mann hinter mir, mich zwischen flackernden Neon-Scheinwerfern und Schwarzlicht dicht an seine Brust drückte und unsere Körper zum Beat der Musik bewegte.

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Wie vorausgesagt begleiten mich die Überreste meiner Tagträumereien selbst jetzt, als ich den gelben Bus verlasse. Von meinen zwei besten Freunden ist nichts zu sehen, weshalb ich beschließe, mich allein auf den Weg zu unserer fest eingesessenen Gruppe zu machen.

Meine Hoffnung, die Beiden dort vorzufinden, wird allerdings mit jedem Meter, den ich mich der Gruppe nähere, zunichte gemacht. Denn weder Avas auffälliger Rotschopf, noch Hunters hellbraune Locken sind zwischen den anderen Köpfen auszumachen.

Olivias Winken macht es mir allerdings unmöglich, auf halbem Weg umzudrehen und so bleibt mir nichts Anderes übrig, als mich wie ursprünglich geplant einfach dazu zu stellen.

Bei den Anderen angekommen, werde ich von den meisten mit einer einfachen Umarmung oder einem kurzen High five begrüßt. Nur der blonde Schönling und sein nicht weniger blondes Anhängsel, sind so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie meine Ankunft nicht einmal zu bemerken scheinen.

Nicht weiter auffällig, sollte man meinen. Allerdings wirken sie heute weniger so, als hätte man ihre Körper heimlich mit Super-Kleber bestrichen, sondern mehr wie zwei gleich gepolte Magnete. Beiden ist anzusehen, dass sie unsicher sind, ob sie sich nun um den Hals fallen oder doch lieber ignorieren sollen.

Sofort schießt mir wieder die Szene von beiden im Schulflur vor Augen, worauf ich mir heute wie letztens keinen Reim machen kann. Prompt werde ich von einer Hand auf meinem unteren Rücken aus meinen Gedanken gerissen. Eine Person schiebt sich in die Lücke zwischen einem der Footballspieler und mir und ehe ich mich an das warme Gefühl gewöhnen kann, ist die Hand so schnell wieder verschwunden, wie sie erschienen ist.

Ohne mich zur Seite drehen zu müssen, weiß ich, wer soeben neben mich getreten ist, denn Olivias anzügliches Wackeln ihrer Augenbrauen spricht Bände. Spätestens Thomas Greens leise Stimme in meinem rechten Ohr, verrät ihn.

„Der Hoodie steht dir, auch wenn ich das Kleid vom Freitag etwas vermisse. Du solltest öfter Blau tragen, Jill."

Das plötzliche Läuten der Schulglocke erspart mir glücklicherweise eine Antwort auf diesen Kommentar, die ich zugegeben ohnehin nicht parat habe. Mit deutlich geröteten Wangen schnappe ich mir also kurzerhand Olivias Arm und ziehe sie mit mir auf das große Schulportal zu.

Das Bild seiner grauen Augen, der Klang seines amüsierten Lachens, dass mir auf dem Weg zum Eingangsbereich leise hinterherschallt und die Art und Weise, wie er meinen Namen ausgesprochen hat, haben sich allerdings hinter meiner Stirn festgesetzt.

Wann habe ich es aber auch zugelassen, dass mein Umfeld den Farben in meinem Leben so viel Bedeutung zumisst?

♡︎♡︎♡︎

Den Großteil des Schultages schaffte ich es, dem Dunkelhaarigen und seinen engeren Freunden, Colton eingeschlossen, aus dem Weg zu gehen. Das macht diesen Montag jedoch keinesfalls zu einem besseren Tag.

Ava und Hunt sind immer noch nicht aufgetaucht und halten es beide offensichtlich auch nicht für nötig, auf eine meiner zahlreichen Nachrichten oder Anrufe zu reagieren. So langsam mache ich mir wirklich Sorgen.

Und als wäre das noch nicht genug, verschont mich Thomas zwar mit seiner körperlichen Anwesenheit, geht mir jedoch zu allem Übel einfach nicht mehr aus dem Kopf. Dass ich, egal wo ich hingehe, nur noch Grün und Blau sehe, macht es zu meinem Leidwesen auch nicht besser.

Gerade stehe ich vor meinem Schließfach, die Stirn an das kalte Metall gelehnt, und bin dabei, meiner besten Freundin erneut zu texten. Ich habe meine Nachricht bereits zur Hälfte verfasst, als ich resigniert aufgebe, mein Handy in die Tasche stecke und mich aufrichte, um meinen Spint zu öffnen.

Mitten in der Bewegung halte ich jedoch inne, da ich aus dem Augenwinkel erkennen kann, wie eine kleine Gruppe Jungs durch den Gang auf mich zugesteuert kommt. Unter ihnen Thomas Green.

Dieser kann es sich offenbar nicht verkneifen, mir im Vorbeigehen zuzuzwinkern und im Anschluss, als wäre nichts gewesen, mit seinen Freunden um die nächste Ecke zu verschwinden. Mein Blick, der sich unweigerlich in seinen Rücken brennt, ist ihm sicher.

Ich brauche einige Sekunden, um mich ins Hier und Jetzt zurückzurufen und an mein ursprüngliches Vorhaben zu erinnern. Doch als ich das kleine Vorhängeschloss löse und meine Schranktür öffne, stocke ich erneut.

Ganz oben auf meinen Blöcken und Büchern liegt unschuldig ein kleiner Briefumschlag, als hätte er nie einen anderen Platz gehabt.

Und sofort habe ich Gewissheit, dass der erste Brief seinen Empfänger wohl doch nicht nur durch Zufall und aus Versehen erreicht hat, sondern dass von Anfang an ich das Ziel dieses unbekannten Briefschreibers war.

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