Prolog: Im Nebel gefunden
Kälte legte sich über das Land, behutsam wie ein Schleier aus Schnee. Sie ließ die Welt erstarren. Alles war ruhig, alles war still. Nichts regte sich. Man könnte meinen, das Land wäre eingeschlafen, wie die Tiere an diesem eisigen Frühlingstag. Tiefe Spuren des Winters lagen noch in der Luft, zwischen den Tannen, im Herzen des Waldes. Er ruhte noch im Winterschlaf, so wie alles andere auf dieser kalten Lichtung. Der Boden wirkte wie von weißer Watte bedeckt. Und in diese Watte hatte sich ein Mädchen eingekuschelt, als suche es Schutz vor dem Frost. Auch sie schlief. Friedlich. Still. Nur ihre Brust hob und senkte sich. Die Kleine hatte sich verirrt in der Unendlichkeit des Nebels. Nun würde sie warten müssen, bis das Land wieder klarer wurde, um nach Hause zu finden. Doch noch schlief sie mit der Kälte, als wäre ein tiefes Band zwischen ihr und dem Frost.
Und auf einmal zerriss der eiserne Schleier. Der Schlaf, der Frieden wurde von einem schrillen Schluchzen unterbrochen. Das Mädchen erwachte langsam mit dem Wald. Es blinzelte verwirrt und rieb sich die Augen. Dunkelrote Flecken tupften das Gras. Sie wurden zu einer Spur, die in die Leere des Nebels führte. Einer Spur, der man niemals hätte folgen dürfen. Doch die Kleine war neugierig und ihre Neugier sollte ihr eines Tages zum Verhängnis werden. Sie führte sie wie eine böse Kraft durch den Nebel, immerzu den Blutstropfen nach. Sie sah die Gefahr nicht und sie würde sie niemals sehen. Denn sie war tief versteckt in dem teuflischen Weiß. Und so stapfte sie munter weiter und weiter und summte dabei ein Lied, das ihr eines Tages als Trauergesang dienen würde. Erst als die Blutspur endete, blieb sie stehen. Inmitten der weißen Hülle kauerte die verschwundene Prinzessin. Überall im Reich sprach man vor ihr, jeder suchte sie. Doch nun war sie da. Die junge, Hübsche, die das ganze Land in Auffuhr brachte. Dabei wirkte sie so klein und arglos, so schwach und gebrochen. Sie weinte leise in ihre Knie hinein, ihr Kleid wehte wie düstere Schatten um sie herum. Schatten, in denen das Böse schlummerte. Ihre Verfolgerin näherte sich ihr, und als die Prinzessin zu ihr aufsah, sie mit ihren tiefblauen, verweinten Augen anblickte, spürte sie eine starke Verbundenheit zu ihr. Sie waren so unterschiedlich und dennoch gleich. Jägerin und Prinzessin. Beide verloren, die eine mehr als die andere. Die Zeit verging mit der Kälte und die zwei Mädchen konnten nicht aufhören, sich anzustarren. Und so saßen sie beide da, in einem Land aus Kälte und Stille, einsam aber irgendwie auch nicht und suchten den Trost in den Augen der anderen. Die Tränen der Prinzessin trockneten langsam, ihr Schluchzen verklang mit der Zeit. Es schien so als wären es die Augen der Jägerin, die sie beruhigten und von ihrer Trauer ablenkten. Vielleicht brauchte sie die Jägerin. Doch der Nebel verschwand bald, und nun konnte eine der Beiden nach Hause zurückkehren. Fröhlich stand die junge Jägerin auf und wollte sich ihres Weges machen. Aber dann sah sie die Einsamkeit in den Augen ihres Gegenübers, das noch immer die Ruhe in ihrem Blick suchte. Die blonde Prinzessin starrte sie weiterhin an. Sie konnte nicht nach Hause zurückkehren. Sie würde warten müssen.
Unschlüssig blieb das Mädchen stehen und wägte ab zwischen umkehren und bleiben. Hoffnung lag in dem Gesicht der Blonden und endlich, nach Stunden, Tagen, sagte sie etwas. »Bitte nicht weglaufen.«
Ihre Stimme war krächzig und schwach. So schwach, dass das Mädchen aus dem Lande Mitleid bekam. Sie konnte nicht mehr umkehren, zu tief war der Schmerz in den Augen der Prinzessin.
Diese brauchte mehrere Atemzüge, in der sie wahrscheinlich Mut fasste, um weiterzusprechen. »Verzeihe, es war nicht meine Absicht, dich zu stören. Aber ich hab Hunger. Hast du was zum Essen?«
Doch das Landmädchen schüttelte den Kopf. Natürlich fühlte sie mit ihr mit, aber sie wusste auch, dass ihre Familie ebenso hungerte. Sie fühlte den Hunger, in jeder Sekunde erinnerte er sie an das Elend zuhause. An die kranke Schwester, die gemeine Mutter, die das arme Kind ständig ausschimpfte, obwohl es nicht wusste, wieso. Es war zwar jung, dennoch konnte es die Verzweiflung seiner Mutter nicht übersehen. Auch wenn sie versuchte, sie zu verbergen.
Doch das war alles eine Lüge.
Grimmig dachte das Mädchen an den letzten Abend zurück, an dem sie ihm mit verweinten Augen erzählt hatte, dass es ihr gut ging. Dass sie glücklich war.
Das Mädchen hatte mehrmals »Fühlst du dich schlecht, Mama?«, gemurmelt und sie dabei mit schiefgelegtem Kopf genauestens beobachtet. Es war in den Garten gerannt, hatte ihr Blumen gepflückt, doch dann war seine Mutter wütend geworden und hatte es angeschrien.
Noch einmal bettelte die Prinzessin, und wieder schüttelte das Landmädchen den Lockenkopf. »Nein. Nicht genug.«
Die Entschlossenheit in ihrer Stimme ließ die gebrochene Schöne zusammenzucken. »Oh. Entschuldigung.« Dann senkte sie den Kopf.
Trotz ihrer Unterwürfigkeit redete die Jägerin unbeirrt weiter. »Geht zurück, ich weiß was passiert ist.«
Die Augen der Prinzessin weiteten sich und sie schüttelte heftig den Kopf. »Niemals«, betonte sie.
»Ihr müsst aber zurück, hier verhungert Ihr bloß.«
Diesmal ließ sie die Schultern hängen und flüsterte: »Ich weiß.« Ihr ganzer Körper zitterte.
Nachdenklich betrachtete die Braunhaarige sie, wobei sie buchstäblich vor ihren Blicken zurückzuckte. Dann drehte sie sich um und ging. Hin und wieder kamen Schuldgefühle, doch sie verdrängte sie schnell. Sie hatte sie gewarnt, mehr konnte sie nicht tun.
Doch dann spürte sie einen Windrausch hinter sich.
Keuchen, dann ein fester Griff um ihre Schulter. Das Mädchen wirbelte herum und sah sich in den riesigen Pupillen der Prinzessin wieder. Einen kurzen Moment lang starrten sie sich unbewegt an, dann sprangen sie beide auseinander. Mit einem dumpfen Schlag landete das Landmädchen auf dem Boden, über ihr schwankten die Baumkronen. Blätter schwebten über ihr Gesicht hinweg, sodass sie tief seufzte. Ihr wurde leicht schwindelig und sie kuschelte sich in das dichte Laubbett. Dann aber sah sie wieder diese unheilvollen starrenden Augen über sich, die an ihrem Nacken zu kleben schienen.
Auf ihrem Zeichen...
Diesem kleinen, unbedeutenden Muster, das dort schon immer war. Woher es kam, wusste sie nicht, doch sie hatte sich nie von ihm stören lassen, niemand hatte es interessiert. Nur dieses eine Mal fühlte sie sich unwohl damit. Sie funkelte die Prinzessin an und strich sich die Haare vor das Tattoo. »Was ist?«, fragte sie scharf.
Wieder zuckte ihr Gegenüber zusammen und als die Prinzessin sah, was sie angerichtet hatte, brach sie erneut in Tränen aus. »Oh je«
Ihre Bestürztheit rief das Mitleid in der Jägerin wieder hervor, das sie widerwillig entgegennahm. »Alles gut«, murmelte sie barsch.
Endlich schaute die Prinzessin auf. »Wirklich?«
Ihr Gegenüber beäugte sie noch mit einem weiteren argwöhnischen Blick und brummte: »Geht jetzt.«
Diesmal war sie zu verwirrt um zu widersprechen. Sie stotterte: »G-gut« und das letzte was man von ihr hörte, war das Rascheln der Sträucher. Doch ihr bohrender Blick verblasste nie.
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