Kapitel 2: Kupferrote Katastrophe

Schwaches Sonnenlicht sickerte durch meine Augenlieder und kündigte den Morgen an. Ich gähnte und verkroch das Gesicht in meinem Kissen. Ich war so müde, alles an mir fühlte sich schwer und seltsam aufgebraucht an. Fast schon so wie ein leeres und dennoch verschwenderisch großes Gefäß - vielleicht aus Eisen oder Stahl. Eins das fast schon lächerlich  massiv war und sich mit dieser überflüssigen Eigenschaft mehr selbst belastete als in irgendeiner Weise half. Dieser Gedanke schaffte es, meine Laune zumindest ein bisschen zu heben, der es gar nicht gefiel, dass schon wieder ein neuer Tag angebrochen war. Eigentlich hatte ich nicht kurz geschlafen, doch anscheinend auch nicht lange genug um meinem Körper die Pause zu verschaffen, die er offenbar brauchte. Ich musste einige Male blinzeln, bis ich um mich herum vage die Umrisse meines Zimmers ausmachen konnte. Es war noch immer etwas eingestaubt und müffelte ein wenig. Gestern hatte ich eigentlich noch putzen wollen, doch meine lange Rückreise zu unserer Siedlung hatte mich ziemlich erschöpft. Kaum war ich zuhause angekommen, war ich auch schon in meinem Bett zusammengesackt - wofür ich früher oder später mit Sicherheit Ärger bekommen würde.

Ich streckte mich ein paar Mal um meine tauben Gelenke irgendwie wach zu kriegen. Die Bewegung half, ich wurde tatsächlich weniger schläfrig. Ein Seufzer entwich mir. Wenigstens das.

Mit brummendem Kopf stand ich auf und torkelte aus dem Zimmer. Vor meiner Mutter, Nania und meiner kleinen Schwester, blieb ich für einen Augenblick stehen und beobachtete sie nachdenklich. Beide schliefen noch tief und fest und ich wollte sie nicht stören. Auch das würde zu Ärger führen und zumindest auf den konnte ich gut verzichten. Majvi zitterte ein wenig. Sie war krank – noch immer. Stöhnend rieb ich mir die Stirn. Dabei hatte ich doch alles getan was ich konnte, um sie wieder gesund zu kriegen. Fast einen Monat lang war ich nahezu pausenlos durch die Wälder gestreift um wenigstens etwas halbwegs Nahrhaftes mit nach Hause zu bringen. Ich hatte ihr Kräuter mitgebracht, ständig war ich Holzhacken gewesen, damit ihr wärmer wurde. Gebacken hatte ich, geputzt, sie gewaschen – und doch schien nichts davon zu helfen. Ein wenig besorgt betrachtete ich ihr blasses, zierliches Gesicht. Ihre kleinen kastanienbraunen Kulleraugen waren sanft geschlossen, und doch unruhig, so oft wie sie im Schlaf zuckten. Ihre schlanke Brust hob und senkte sich viel zu schnell und immer wieder keuchte sie, ehe ihr Atem wieder tiefer und langsamer wurde.

Ich presste die Lippen zusammen und atmete einmal tief durch, ehe ich mich umdrehte und ins Erdgeschoss lief, da es ihr nicht half, wenn ich hier herumstand und sie bemitleidete - lieber sollte ich mich nützlich machen. Auch im unteren Geschoss häufte sich alles mögliche ohne Ordnung an: Geschirr, Kleidung, allerlei blutverschmierte Messer, Felle und Beutel. So wie es aussah, war Nania gestern auch nicht mehr zu sonderlich vielem gekommen. Sie musste wohl wieder den ganzen Tag lang unterwegs gewesen sein und nach Arbeit gesucht haben. Nach ihrer Schwangerschaft hatte sie nämlich ihre frühere Stelle verloren, da sie auf uns aufpassen musste und so schwach gewesen war, dass sie es kaum geschafft hatte, sich auf den Beinen zu halten. Dennoch hatte sie sich um uns gekümmert. Zwar mit einiger Unterstützung von unseren Nachbarn – mitunter Lanix – aber immerhin. Ich fragte mich nicht selten, wie sie das geschafft hatte. Sie war trotz ihres jungen Alters bereits verwitwet, hatte zu allem Übel auch noch mitten im Winter ein schwächliches Kind geboren und musste sich um ein weiteres kümmern, das damals gerade einmal alt genug gewesen war, um fließend zu sprechen.

Nachdenklich fing ich mit der Hausarbeit an. Ich kümmerte mich zuerst um das Geschirr. Neben der Haustür stand ein großer Wasserkrug aus Metall, mit dem ich eine bleierne Schüssel füllte. Leise vor mich hinsummend, ließ ich die Teller und Becher in das Wasser sinken und schrubbte einige Male daran.

Eigentlich hatte Nania nicht ganz alleine für uns gesorgt. Ich hatte ihr geholfen. Damals war ich zwar noch ziemlich jung gewesen, dennoch hatte ich es geschafft, mir das Jagen beizubringen. Ich musste ein wenig lächeln bei dem Gedanken daran, wie ich durch den Wald geirrt war, mit nichts als einem Messer und einem selbst geschnitzten Speer in der Hand. Damals war ich auf Lanix gestoßen. Er war ein paar Tage zuvor neben uns eingezogen und war mir aus Langeweile hinterhergeschlichen. Als er mich so ungeschickt, wie ich damals war, durch den Wald hatte stolpern sehen, hatte er mich erst einmal ausgelacht. Ich hatte ihn dann angefunkelt und zu einem Jagdduell herausgefordert. Und irgendwie hatte ich dann im Laufe der Jahre diese kleine, manchmal etwas ungeschickte Nervensäge ins Herz geschlossen. Er hatte sich dafür aber auch ganz schön ins Zeug gelegt.

Ein plötzliches Poltern hinter mir, riss mich aus meinen Gedanken. Ich legte einen Teller, mit dem ich gerade fertig geworden war, beiseite und sah mich über die Schulter hinweg um. Nania stand mit müdem, ausdruckslosem Gesicht am Eingang. Aus ihrer Haltung und ihrer Mine war zu lesen, dass sie diese Nacht wohl kaum ein Auge zubekommen hatte, was mich wenig überraschte. Wahrscheinlich hatte sie sich wieder heimlich die halbe Nacht durch mit irgendwelchen Hausarbeiten gequält oder war draußen herumgestreunert - womit sie in letzter Zeit erfolgreich die Schlafenszeit überbrückte. Dabei hatte sie nicht einmal Probleme mit dem Ein- oder Durchschlafen sondern konnte es einfach nicht lassen, zu arbeiten. Entweder fand sie hier im Haus etwas, das sie aufräumen, putzen oder verbacken konnte und wenn nicht, dann ging sie in Richtung Schloss, wo sich in jeder Gasse unzählige Händler tummelten - so sagte sie es zumindest. Manchmal brachte sie von dort auch etwas mit, doch das kam eher selten vor. Uns reichte kaum das Geld, um uns anständige Kleidung zu kaufen. Doch ich zog es sowieso vor, uns selbst welche aus gegerbten Tierfellen zu herzustellen. Ich verstand nicht mehr wirklich, was Nania überhaupt noch in all den Dörfern wollte. Sie ging oft auf Wochenmärkte um Felle oder alte Messer zu verkaufen, doch die wollte kaum einer, da sich die Gesellschaft dort entweder zu reich und eitel war, um mit ihr Geschäfte zu machen (oder zumindest so tat.)

Nania begrüßte mich mit einem angestrengten Lächeln, das ich von Sorge getrübt erwiderte. Sie griff nach einem zweiten Lappen, den ich vor ihr eigentlich hätte verstecken sollen - wie mir nun bewusst wurde.  Vorsichtig schüttelte ich den Kopf. „Ich mach das, Mutter."

Diese jedoch gab nicht so schnell nach - warum auch, ich hatte bisher nur eine offensichtliche Tatsache geäußert, die sie in dem Moment bereits bemerkt hatte, als sie den Raum betreten hatte.
„Zusammen sind wir schneller", murmelte meine Mutter und wollte sich an mir vorbeiquetschen, doch ich versperrte ihr den Weg. Tatsächlich war ich in letzter Zeit ordentlich gewachsen und überragte sie mittlerweile sogar, was vor ein paar Jahren noch ganz anders ausgesehen hatte.

„Liva, bitte."

Ich seufzte und ließ meinen Teller sinken. „Nur wenn du mir versprichst, dass du dich danach nochmal hinlegst."

Nania nickte nur stumm und half mir, den Abwasch abzutrocknen. »Konntest du was auf dem Rückweg finden?«

Bedauernd schüttelte ich den Kopf. »Wir waren viel zu erschöpft zum Jagen. Außerdem wollte ich euch nicht noch länger alleine lassen.«

Wieder nickte sie nur, doch mir entging nicht wie sie vor Enttäuschung den Kopf sinken ließ. Sie wandte sich ab, trug die gewaschenen Teller zu unserem kleinen, etwas abgenutztem Esstisch und fing wortlos an, zu decken. Ihr Schweigen zog auch meine Stimmung in Richtung Abgrund. Ich folgte ihr mit unserem Brotkorb, in dem nicht mehr als zwei vertrocknete Scheiben und ein paar Krümel lagen, die wohl schon einige Tage alt waren. Wieder einmal musste ich über Nania den Kopf schütteln. Warum verschwendete sie so viel Zeit in den Dörfern wenn es doch Zuhause so viel zu tun gab? Sie hätte stattdessen backen oder sich um Majvi kümmern können. Doch lieber stand sie auf unzähligen Wochenmärkten rum mit irgendwelchen alten Gegenständen, die eh keiner haben wollte. Und dann lag es an mir, mich um meine kleine Schwester zu kümmern, wobei wir dringend Essen brauchten. Ich musste dringend wieder jagen gehen.

Als der Tisch fertig gedeckt war, ging Nania kurz ins Dachgeschoss, vermutlich um Majvi zu wecken.

Kurz darauf schoss meine kleine Schwester mit wippender goldbrauner Mähne ins Esszimmer. Sie trug noch ihr Nachthemd, das aber zur Hälfe schon geöffnet war. Anscheinend hatte sie sich Nania entrissen und war nach unten gestürmt. Ich musste ein wenig schmunzeln bei dem Anblick ihrer wild leuchtenden, braunen Augen. Sie war zwar schwach, aber dennoch ein echter Wirbelwind. Niemals würde sie sich ihrer Schwäche hingeben. Das machte sie zwar stark, war manchmal aber auch besorgniserregend, da ich nie genau wusste wann es ihr schlecht ging. Oft erfuhr ich das erst wenn sie zusammenbrach.

»Majvi, langsamer«, rief Nania von oben. Ihre Stimme zitterte mal wieder vor Sorge, doch die Kleine ignorierte sie.

Ihr Blick fiel nun auf mich und sogleich fingen ihre Augen an zu leuchten. Sie hüpfte aufgeregt zu mir an den Esstisch, setzte sich jedoch nicht hin. »Gehst du wieder auf den großen Bären reiten?«

Mein Schmunzeln wurde breiter als ich die Begeisterung in ihrem Blick sah. Meine Schwester hatte ein wirklich merkwürdiges Verhältnis zu Lanix. Solange er ein Bär war bewunderte sie ihn und wollte unbedingt Zeit mit ihm verbringen. Doch als Mensch konnte sie ihn gar nicht leiden. Wie viele kleine Mädchen war sie fest entschlossen, Jungs einfach nur aus Prinzip zu hassen.

Ich legte ihr liebevoll eine Hand auf die Schulter. »Wenn Mutter es zulässt, dann schon. Ich werde dir auch was mitbringen, versprochen.«

Majvi quiekte vor Freude und sprang im Kreis. Ihre roten Locken hüpften auf und ab. »Will mitkommen«, bettelte sie, »will mitkommen.«

Ich kam zu keiner Antwort, da auf einmal Nania hinter uns stand und sie fahrig zu ihrem Stuhl scheuchte. »Du gehst nirgendwo hin! Nicht solange du mindestens drei Tage ohne einen Zusammenbruch überstanden hast.«

Wie erwartet wand sich Majvi sofort unter ihr. »Geh weg«, murrte sie, »ich will aber nicht zu Hause bleiben.«

»Das wirst du aber.«

»Nein!«

Nania fing ihre Schläge ab und hielt sie an den Händen fest. »Beruhige dich mal. So erreichst du gar nichts.«

Majvi wimmerte erst, dann schlich sich in ihr Gesicht ein Grinsen und ehe Nania oder ich auch nur erahnen konnten, was sie vorhatte, hatte sie ihr auch schon in die Finger gebissen. Meine Mutter gab einen Schmerzenslaut von sich und blieb für einen Moment fassungslos stehen.

Majvi nutzte diesen Moment, sprang auf und rauschte nach draußen.

Sofort eilte ich ihr hinterher.

Sie warf sich kichernd ins Gras und haschte nach einigen Schmetterlingen, die um ihr kleines, blasses Gesicht wuselten. »Will Schmetterlings, will Schmetterlings«, rief sie, »fang die mal, Liva.«

Als ich zu ihr rannte, leuchten ihre Augen vergnügt auf und plötzlich war sie wieder auf den Beinen und rannte weiter. »Du kriegst mich nicht, du kriegst mich nicht!«

»Majvi, bleib stehen«, zischte Nania, die nun hinter mir stand und die Verfolgung aufnahm. Auch ich raste hinter ihr her, doch immer wenn ich sie erreichte, wich Majvi mir flink aus oder machte eine Kurve.

»Majvi, hör auf«, keuchte ich, »das ist echt nicht witzig.«

Und da geschah es wieder. Meine kleine Schwester fing auf einmal an zu husten, doch so verbissen wie sie war, rannte sie trotzdem weiter. Dann röchelte sie und als nächstes fiel sie wie ein schlaffer, schwerer Sack in sich zusammen.

Nania schrie entsetzt auf, rannte zu ihr hin und warf sich neben ihr ins Gras. »Oh Gott«, stöhnte sie und rieb sich die Stirn. Sie rüttelte an ihr und fühlte ihren Puls ab. »Sie atmet regelmäßig«, murmelte sie, ob zu mir oder sich selbst, wusste ich nicht genau.

Ich seufzte und blieb neben ihr stehen. Majvi lag mit geöffneten Lippen und schlaffen Gesichtszügen da und das einzige was man von ihr hörte, war ein leises Wimmern. Nania presste vor Sorge die Lippen aufeinander und strich ihr liebevoll und doch bedauernd mit der Hand über das farblose Gesicht. »Warum tust du mir das an, Kleine?«, murmelte sie.

Dann straffte sie ihre Schultern und warf mir einen dunklen Blick zu. »Komm, tragen wir sie ins Haus.«

Ich nickte knapp und nahm Majvi ächzend an den Armen hoch. Nania half mir, wobei sie unter ihrem Gewicht schwankte. Ich runzelte besorgt die Stirn. Auch wenn Nania das vielleicht niemals zugeben würde - sie war selbst viel zu dünn geworden und es war fast schon ein Wunder, dass sie nicht ebenso krank war wie ihre Tochter. Vielleicht versuchte sie sich selbst so etwas vorzumachen.

Wir trugen Majvi in ihr Bett und deckten sie mehrfach zu. Nania setzte sich neben sie auf die Bettkante und streichelte mit unergründlichem Gesicht ihren Handrücken. Ich beobachtete die beiden für einen Augenblick und fragte mich, wie es so weitergehen sollte. Wie konnten wir so nur überleben, geschweige denn glücklich werden?

Erst als ich müde wurde, gelang es mir, jegliche Sorgen abzuschütteln. Höchste Zeit, etwas zu unternehmen, dachte ich und sammelte schon einmal Pfeil und Bogen ein, die in meinem Zimmer verstreut lagen. »Ich sollte uns mal was zum Essen besorgen«, rief ich Nania über meine Schulter hinweg zu. Zwar hatte ich vorhin noch etwas anderes vorgehabt, aber das war vor Majvis Zusammenbruch gewesen. Nun sah ich ein, dass es uns nicht half, tatenlos zuzusehen wie es jedem von uns Stück für Stück schlechter ging bis es irgendwann gar niemanden mehr gab, der dem entgegenwirken konnte. In Wahrheit hatte ich absolut keine Zeit, Nania babyzusitten und aufzupassen dass sie sich auch ja nicht wieder überforderte.

Einen Moment lang sagte diese gar nichts und als ich mich zu ihr umdrehte, sah ich, dass sie langsam den Kopf schüttelte - offenbar hatte nicht nur ich meine Meinung geändert. »Nein«, murmelte sie mit matter Stimme, »du musst heute hier bleiben und auf Majvi aufpassen. Ich muss Arbeit finden. So geht das nicht weiter.«

Ich presste die Lippen zusammen. Sie hoffte also noch immer auf eine Arbeitsstelle. Dabei hätten ihr die vielen gescheiterten Versuche, eine solche zu finden, zeigen sollen, dass ihre Suche vergebens war. Sie musste endlich damit aufhören!

»Du willst schon wieder ins Dorf«, brummte ich gereizt und hoffte, sie würde von alleine bemerken, wie dumm diese Idee war. Doch Nania merkte gar nichts. Sie nickte nur und stand auf. »Mir bleibt keine andere Wahl.«

***

Für eine Weile verbrachte ich meine Zeit mit irgendwelchen Hausarbeiten. Ich putzte, sah mehrmals nach Majvi und spülte das Geschirr. Eigentlich wollte ich auch backen, doch als ich in unsere Vorratskammer ging und den Getreidesack öffnete sah ich, dass wir kaum mehr etwas dahatten. Sämtliche Vorräte hatten wir im Winter aufgebraucht. Mittlerweile war es wieder wärmer geworden, doch das brachte uns nichts wenn Nania mich nicht jagen ließ!

Ich schnaubte frustriert und leistete wieder meiner kleinen Schwester Gesellschaft, die mittlerweile die Augen geöffnet hatte und an ihren Haaren spielte. Als sie mich sah, verschwand der gelangweilte Ausdruck aus ihrem Gesicht und sie zappelte ein wenig, schaffte es aber nicht, sich aufzustützen. »Warst du jagen?«, wollte sie sofort wissen.

Ich lächelte ein wenig und setzte mich zu ihr aufs Bett. »Wie soll ich jagen wenn ich auf meine kleine, übermütige Schwester aufpassen muss?«

Sie blinzelte nur und zeigte dann mit großen Augen auf den Schrank hinter uns. »Gib mir mal die Schmetterlings. Mir ist langweilig.«

Mit »die Schmetterlings« meinte sie ihre Schmetterlingssammlung. Sie hatte die armen Viecher in ein paar alte Marmeladegläser gesperrt in die sie einige Löcher gestochen hatte. Ab und an ließ sie ihre kleinen Freunde auch durch ihr Zimmer flattern, sammelte sie dann aber immer wieder ein, wobei auch einige draufgingen. Ich erfüllte ihr ihren Wunsch, da ich wusste, dass sie sonst selbst aufspringen und sie sich holen würde. Und ich wollte nicht, dass sie noch einmal zusammenbrach. Einmal am Tag ist wirklich genug!

Rumps!

Etwas verwirrt hob ich den Kopf und sah mich um. Unter mir ratterte es leise und ich spürte, wie die Wand ein wenig erzitterte. Auch Majvi sah mit großen Augen auf und hatte die Schmetterlinge anscheinend schnell vergessen. Ich stellte das Glas ab und lief zum Fenster. Als ich es öffnete, sah ich unter mir Lanix, der an unserer Tür herumhantierte.

»Hey!«, rief ich nach unten, »was treibst du da?«

Der Kerl hielt sofort inne als er mich hörte und grinste etwas schuldbewusst zu mir empor. »Ich versuche reinzukommen, aber du hast mich nicht gehört.«

Ich schnaubte, ob vor Belustigung oder Empörung, wusste ich nicht so genau.

»Und deshalb demolierst du mein Haus? Tolle Taktik.«

Er kratzte sich verlegen am Kopf und nickte dann nach hinten. »Ich hab gehört was mit deiner Schwester passiert ist. Olita geht gleich Kräuter sammeln. Willst du mitkommen?«

Kräuter... Etwas unschlüssig sah ich zu Majvi, die sich mittlerweile aufgerichtet hatte. Anscheinend war sie wieder zu Kräften gekommen.

Ich beugte mich wieder aus dem Fenster. »Ich muss auf Majvi aufpassen.«

»Das kann ich für dich übernehmen«, rief Lanix sogleich zurück, »kümmere dich du lieber um die Kräuter. Die kann Majvi wohl ganz gut gebrauchen.«

Majvi war sofort hellhörig geworden und schüttelte trotzig den Kopf. »Iiih der Junge soll wegbleiben.«

Ich musterte sie nachdenklich. Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, sie alleine zu lassen. Aber Lanix würde ja auf sie aufpassen. Und ich würde auch nicht lange wegbleiben.

Ich drehte mich wieder zu ihm um. »Na gut«, gab ich nach, »danke.«

***

Lanix' Mutter wartete bereits mit einem hübsch verziertem Brotkorb auf mich, den sie um ihr Armgelenk gehängt hatte. Sie trug ihre langen dunkelbraunen Locken heute ausnahmsweise offen. Olita war eine echte Meisterin, was Frisuren anging. Sie konnte aus den widerspenstigsten Haaren traumhafte Flechtfrisuren zaubern und auch ihre eigene Mähne verflocht sie liebend gerne. Obwohl ihre Haare offen fast schon am schönsten waren.

Ich lächelte ihr zur Begrüßung zu. Auch mich hatte sie schon oft frisiert. Sie liebte es, mir hübsche Federn, Perlen oder gar Knochen in die Haare zu flechten, manchmal machte sie das sogar Stunden lang während sie mir Geschichten aus ihrer Jugend erzählte. Oder Geschichten die sie von Mojla kannte. Sie war in dem Sternendorf aufgewachsen und kannte allerlei Legenden über Novalie und die Entstehung des Himmels.

Olita gab mir ihren Korb und dann ging es los. Gemütlich schlenderten wir in den Wald hinein. Nebel hatte sich über die Bäume gelegt, wie ein sanftes, weißes Tuch, das alles um sich herum blasser erscheinen lässt. Einige Vögel zwitscherten, doch die Bäume, auf denen sie hausten waren so groß, dass ihre Laute aus weiter Ferne zu kommen schienen.

Olita sah sich um und winkte mich zu einem kleinen, stacheligen Busch, dem sie einige Beeren entnahm. »Ich habe deine Mutter getroffen«, murmelte sie ruhig, »sie hat mir erzählt, was mit Majvi geschehen ist. Geht es ihr wieder besser?«

Ich nickte und half ihr beim Pflücken. »Sie ist aufgewacht – zum Glück. Aber ich weiß nicht, wie sie jemals wieder gesund werden soll wenn das alles so weitergeht.«

Die mitteljährige Frau sah blinzelnd zu mir auf.

»Ich mein, ich muss ständig auf sie aufpassen und kann dementsprechend nicht jagen«, redete ich weiter, »Nania sucht nach einer Arbeit, die sie nicht finden wird, aber sie hört ja nicht auf mich. Und selbst wenn ich oft genug jagen gehen könnte, würde ich nicht genug finden um uns lange genug zu ernähren. Außerdem können wir nicht nur Fleisch essen - Majvi zur Zeit überhaupt nicht!«

Olita nickte verständnisvoll. »Ich kann verstehen, dass du dir Sorgen machst. Hier scheint ihr nicht wirklich zurechtzukommen.« Sie blinzelte nachdenklich. »Vielleicht ist diese Siedlung einfach nicht der richtige Ort für euch.«

Überrascht sah ich sie an. »Was? Aber wo sollen wir denn sonst hin?«

Doch darauf konnte sie mir keine Antwort geben. Sie suchte nur konzentriert weiter und ich folgte ihr mit einem unguten Gefühl im Bauch durch den Wald. Was wenn sie Recht hatte? Was wenn es hier wirklich keine Zukunft für uns gab? Aber was sollten wir dann machen?

Wir kamen an einem schmalen Bach vorbei, der friedlich vor sich hin plätscherte. Olita riss einige Blätter nahe des Wassers ab und legte sie zu den Beeren hinzu. »Wir brauchen nicht mehr viel«, erklärte sie, »das hier sollte deiner kleinen Schwester schon helfen.«

Ich nickte und dann ging es weiter. Wir drangen immer tiefer in den Wald ein, während die Sonne langsam sank. Irgendwann erreichte ihr goldenes Licht nur noch die Stämme der Bäume und einige Büsche.

»Wir sollten bald zurückkehren«, bemerkte nun auch Olita, die ein mir unbekanntes, spitzes Kraut pflückte. Ich sammelte meinerseits noch einige der Beeren von vorhin und legte sie in ihren Korb.

Mit einem unguten Gefühl im Bauch dachte ich an Majvi. Was wenn es ihr schon wieder schlechter ging? Würde Lanix wissen, was er zu tun hatte?

Als wir umkehrten, lief ich ungewohnt schnell. Olita musste meine Sorge spüren, denn sie lief dicht neben mir und führte mich zügig aus dem Wald hinaus. Ich fragte mich, ob Nania bereits zurückgekehrt war. Ihr würde es ganz und gar nicht gefallen, dass ich Majvi zurückgelassen hatte, auch wenn Lanix bei ihr war. Und sie würde mir das ganz bestimmt deutlich machen. Ich seufzte schwer, als sich der Wald nach einer letzten, kurzen Biegung öffnete.

Als ich auf der Lichtung ankam, ging bereits die Sonne unter. Olita gab mir mit einem besänftigenden Lächeln den Korb und winkte mir zum Abschied zu. Dann verschwand sie in ihrer kleinen hölzernen Hütte. Für einen Moment sah ich ihr noch nach und dankte ihr im Stillen dafür, dass sie mich für ein paar Stunden von meinem dunklen, eingestäubten Häuschen befreit hatte.

Es tat mir immer gut, rauszukommen. Ich hasste es, drinnen rumsitzen und mich in sämtlichen Sorgen und Ängsten wälzen zu müssen. Mein Haus fühlte sich für mich nicht nach Heimat an, sondern eher nach der Quelle allen Übels. Es roch nach Krankheit, Hunger und Elend. Nach all dem, dem ich tagtäglich zu entkommen versuchte. Deshalb liebte ich es, mit Lanix durch die Wälder zu streifen und zu jagen. Somit konnte ich zumindest für eine Weile vergessen, dass meine Schwester mager und krank war, dass wir kein Geld hatten und nicht einmal die Möglichkeit, welches zu verdienen.

Doch nun waren alle Ausreden aufgebraucht, mit denen ich mich nach draußen flüchten konnte. Ich musste also wieder zurückkehren und mit dem, was auch immer mich drinnen erwarten würde, irgendwie zurechtkommen.

Vielleicht ging es Majvi ja auch inzwischen besser. Vielleicht konnte sie sogar schon wieder aufstehen und laufen und würde mich mit irgendwelchen davongeflogenen Schmetterlingen nerven.

Doch als ich eintrat, wartete eine ganz andere, bittersüße Überraschung auf mich.

Da war kein kränkelndes Kind.

Doch ebensowenig war da ein gesundes Kind.

Was mich erwartete, war ein verlassenes, stilles Haus.

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