Kapitel 1: Alte Legenden

Ein Farbenspiel aus rotem und goldenem Licht zog sich über den Himmel, das von einem warmen, sonnigen Tag zeugte - oder wie man in unserem Reich zu sagen pflegte - von einem guten Tag. Einem Tag, der pralle Weizenfelder versprach und einen zufriedenstellenden Handel zwischen jenen Weizen und Münzen, also zwischen Gold und Gold, das daraufhin unzählige Male weiter getauscht wurde bis irgendwann einer der vielen Taschpartner einen großen Gewinn daraus zog - natürlich auf Kosten aller anderen. Dieser glückliche Jemand war in der Regel schon von Geburt an dazu privilegiert, von allem immer nur das schönste und beste zu haben und seinen Mitmenschen hin und wieder gnädigerweise lästigen Überdruss zuzuwerfen, der in seinem überfüllten Schloss keinen Platz mehr fand - um es dem Beschenkten dann nach Belieben wieder abzuziehen.

Ich schnaubte leise in mich hinein und unterdrückte ein Schmunzeln. Natürlich durfte ich jetzt nicht denken, dass irgendetwas davon dreist wäre - Dreistigkeit lässt sich schließlich nicht mit den „Hochwohlgeborenen" vereinen, die irgendwo zwischen Wind und Wellen am Rande Sellatas' hausten und dort wohl auch ihren Regierungssitz hatten. Die „Krönchen" - wie ich sie nannte - waren schließlich übermenschlich perfekt, weshalb man stets Respekt vor ihnen und ihrem edlen Geschlecht bewahren sollte. Selbstverständlich war es deshalb untersagt, in aller Öffentlichkeit ihren Namen zu beleidigen (den ich bis heute in seiner vollen Länge nicht auswendig konnte). Noch weniger sollte man eine solche Beleidigung lauthals rufen.

„Laanixx, aufpassen, die Krönchen kommen!"

Ich saß am Feuer und beobachtete mit zuckenden Mundwinkeln wie mein Ruf sein Ziel erreichte und einen verlorengegangenen Lanix herbeilockte, der bis gerade eben noch orientierungslos über die
Wiese gerannt war. Selbst jetzt bei seinem Rückweg von seiner elend langen Sucherei kam er nicht umhin, immer wieder stehen zu bleiben und etwas aufzuheben, ehe er weiterlief. Und ich wartete – bis er keuchend wieder bei mir ankam. Er wirkte ebenso fröhlich wie fast schon niedlich verwirrt. „Wo?"

Ich schenkte ihm ein Lächeln. „Nirgends. Hab ich nur gesagt, damit du endlich wiederkommst."

Lanix wirkte weniger überrascht, als ich es erwartet hätte. Anscheinend kannte er mich doch besser, als ich dachte. Er strahlte noch immer bis über beide Ohren und hielt mir zwei braune Klumpen vor die Nase. »Okay. Schau mal - Die hab ich gefunden. Der rechte Ton gehört dir.«

Ach, wie genau der Gute doch wusste, dass ich einen Faible fürs Töpfern hatte. Und das pflegte er als Ausrede dafür zu verwenden, dass er ständig ohne Vorwarnung davonstürmte. Um mir Materialien für meinen Schmuck zu suchen. Ist klar.

Doch heute würde ich ihm eine Lektion erteilen. Nur eine winzige, harmlose Lehre die mein Bedürfnis besänftigte, ihm dafür in den Hintern zu treten. Blitzschnell schnappte ich seine Hand und ließ sie mitsamt des Tons auf sein Gesicht klatschen.

Diesmal war ich diejenige, die grinste.

»Aaah, was - « Er brach ab und wischte sich mit den Händen übers Gesicht. Als nächstes warf er sich ins Gras und versuchte dort den Schlamm loszuwerden. Doch das einzige, was er damit erreichte, war, dass sein Gesicht mit all dem paniert wurde, was sich nun mal auf einer Wiese befindet.

Ich lachte als ich sah, wie hilflos und verärgert er war. Meine arme, unschuldige Nervensäge. Meine Laune hob sich von Sekunde zu Sekunde mehr. Doch ich war so sehr in meiner Schadenfreude versunken, dass ich die Krallen nicht bemerkte, die aus seinen Fingern schossen. Erst als ein dichter Pelz anstelle der Kleidung, die er noch vor wenigen Sekunden getragen hatte, seinen Körper bedeckte, erkannte ich, dass er sich verwandelt hatte. Doch es war bereits zu spät. Er hatte schon seine volle Gestalt angenommen und ehe ich reagieren konnte, war er über mir. Als ein riesiges, dunkelbraunes Ungeheuer. Aber ich hatte keine Angst.

Nicht einmal als das Biest den Rachen aufriss und mir seine Fangzähne zeigte, verließ mich der Mut. Der Bär brüllte mich an und ich brüllte zurück. Lachend schlug ich Lanix' Pranken beiseite und rollte unter seinem Bauch hinweg über die Wiese. Ich kullerte den Abhang hinab, wie ein schwerer, losgetretener Stein. Grashalme kitzelten mein Gesicht und ich sah hin und wieder über mir die Alpen schwanken. Weiden, Ackerland und Tannen hüpften in meinem Blickfeld auf und ab, immer schneller und schneller. Bald verschwammen sie zu einer einzigen, bunten Masse.

Dumpfes Poltern erklang über mir und als ich endlich zum Stillstand kam, spürte ich Hände an meiner Schulter. »Lektion gelernt?«

Ich öffnete versuchshalber ein Auge, kniff es aber sogleich wieder zusammen, als mich das grelle Tageslicht wie ein Blitzschlag traf. »Niemals«, murmelte ich und schlug seine Hände beiseite.

»Ach ja, du willst mehr?«, forderte er mich heraus, »Bären können gefährlich werden.«

Ich schmunzelte bei seinen vergeblichen Drohversuchen. »Du bist wenn schon ein übergroßer, tollpatschiger Teddybär, mehr nicht.«

Mein Grinsen wurde breiter, als sich eine Idee in meinem Kopf formte. Teddy... Das wäre doch mal ein passender Spitzname. Ich hatte mir schon so viele Kosenamen für Lanix überlegt, aber keiner schien passender als dieser.

Ich wälzte mich wieder zur Seite und schloss die Augen.

Früher hatte mir Lanix Gestaltenwechsel zwar keine Angst bereitet, aber zumindest Unruhe. Ich war skeptisch gewesen - und das eine ganze Weile lang. Als der damals unbekannte braunhaarige Junge in unsere Siedlung gezogen war, war er für mich ein laufendes Rätsel gewesen. Durch Zufall hatte ich ihn beim Gestaltenwandeln erwischt, und daraufhin auf ihm herumgehackt - dabei wusste der Gute selbst nicht, was es mit dem Bärenkörper auf sich hatte. Er meinte nur jedes Mal, wenn ich ihn danach fragte mit einem Schulterzucken, dass er so geboren wurde - und sonst führte er auch ein völlig normales Leben.

Mein Misstrauen ihm gegenüber war erst verschwunden, als ich bemerkt hatte, dass er als Bär ein ebenso harmloser Trottel war, wie als Mensch.

Mittlerweile wussten auch Mutter und meine kleine Schwester Majvi von seinem eigenartigen Geheimnis, aber ansonsten teilten wir es mit keinem - und Lanix versuchte auch, sich nur dann zu verwandeln, wenn er sich unbeobachtet fühlte.

Mein bester Freund zog erneut an meiner Schulter. »Komm schon, steh auf. Es dauert jetzt nicht mehr lange. Und wenn wir zu spät kommen dann essen die anderen uns noch alles weg.«

Essen. Natürlich. Mehr hatte er nicht im Kopf. »Dann wäre unsere lange Reise ja ganz umsonst gewesen«,  entgegnete ich mit gespielter Bestürzung und hielt mir die Hand vor den Mund wie ein entgeistertes Krönchen.

Lanix stöhnte über mein Verhalten. »Du weißt, dass ich das nicht meinte. Ich bin nur den ganzen Tag gelaufen.«

»Nicht nur du, mein Lieber.«

Mit einem herausfordernden Grinsen riss ich mich los und fuhr mir mit den Händen durch meine wilden, braunen Locken. Lanix' kastanienbraune Augen leuchten im Sonnenlicht wie Bernstein und ich sah, wie sie meinen Spott spiegelten. »Gelaufen?«, lachte er, »du hast dich von mir tragen lassen!«

Da hatte er wohl recht. Mir rutschte das Grinsen schlagartig aus dem Gesicht - eine Diskussion verlieren war wohl nicht meine Stärke.

Lanix musste das bemerken, denn er schmunzelte. »Und? Bin ich immer noch verfressen?«

Vor dem Diskussionen verlieren, stand wohl das Nachgeben auf der Liste der Dinge, die ich absolut nicht konnte. Also sagte ich einfach gar nichts mehr zu unserem Gesprächsthema und setzte mich stattdessen in Bewegung. »Na dann wollen wir mal.«

Er seufzte zufrieden und eilte voraus. Keuchend und schnaufend stürmten wir den Hang hinauf. Der Geruch nach Brot und Punsch war wie ein Wegweiser für uns. Als das Land endlich wieder flach wurde, machten wir erst mal eine Pause, in der wir Kraft und Atem sammelten. Meine Muskeln brannten von dem schnellen Aufstieg, doch noch immer kribbelten meine Hände und Füße vor lauter Tatendrang. Eine offene Wiese breitete sich vor mir aus, und egal wohin ich blickte – ich sah kein Ende. Überall war nur dieses ewige Grün, abgesehen von den paar Holzhäusern, die sich wenige Meter vor mir zusammengedrängt hatten, als suchten sie Schutz vor der Weite. Molja. Das Dorf der Sterne. Fels zog sich an manchen Stellen über den Boden, der hin und wieder von Rinnsalen durchbrochen wurde.

Mein Herz schien Freudensprünge zu machen. Wir sind da. Ich ließ keine Sekunde vergehen, ehe ich in das Dorfzentrum hineinraste. Lanix eilte mir nach, doch davon bekam ich kaum etwas mit. Mein Blick war auf die vielen bunten Abendlichter gerichtet. Kerzen brannten in einigen Grundstücken und warfen ihre warmen gelben Strahlen auf das Gras. Laternen hingen an gefühlt jedem Haus. Mein Herz war erfüllt von Farbe und Licht. Ich hörte Lanix neben mir staunen. Mein Begleiter stand mit offenem Mund da und betrachtete begeistert das Farbenspiel der Lichter. »Wow, das ist der Wahnsinn«, brachte er hervor. Ich lächelte ihn von der Seite an. »Stimmt. Warum sieht es bei uns nur nicht so aus?«

Lanix zuckte mit den Schultern. »Ist schon okay so.«

Nein, ist es nicht. Auch wir sollten uns so etwas leisten können, sagte ich im Stillen. Stattdessen lebten wir in Armut, mussten täglich um jedes bisschen Essen kämpfen.

Schon nach einigen Metern endete das Dorf. Es öffnete sich, sodass wieder die Berge sichtbar wurden. Ich seufzte glücklich und rannte über die Wiese. Einsam, inmitten des Grüns knisterte ein Lagerfeuer, um das sich eine kleine Gruppe an Menschen versammelt hatte. Fröhliche Musik klang aus der Ferne, gemischt mit dem Gelächter der Feiernden. Sie alle hatten sich zusammengetroffen, um den Vollmond zu begrüßen, wie jeden Monat. Man sah ihn hier als ein Zeichen der Göttin, Novalie, für Frieden und Glück. Er ist der König des Nachthimmels, und der Nachthimmel ist das, was Molja am meisten ausmacht. Die Leute glaubten an ein Leben nach dem Tod und dass der Geist eines Verstorbenen im Paradies weiterlebt. Und die Sterne sind in ihren Augen Spuren des Paradieses, die die Geheimnisse der Totenwelt offenbaren.

Kaum waren wir angekommen, wurden wir auch schon in ein wildes Durcheinander aus Gelächter und Geschwätz hineingezogen. Von allen Seiten wurde geredet – oder wohl eher gegen die bis zum geht-nicht-mehr aufgedrehte Musik angeschrien. Lanix und ich stolperten durch die Menge und quetschten uns schließlich an einen noch freien Platz. Sofort wurde uns Punsch in die Hand gedrückt. Eine junge Frau mit hellen, schulterlangen Haaren, Sommersprossen und großen Eulenaugen lächelte uns von der Seite an. Auf den ersten Blick erkannte ich sie nicht, doch dann ging mir ein Licht auf. Solin. Natürlich. Wir kennen uns schon ewig, wie konnte ich sie vergessen? Wir hatten uns zu lange nicht mehr gesehen.

Ich schüttelte meine Verwirrung ab und erwiderte freundlich ihren Blick. Sie lächelte uns noch immer an und rief uns über die Köpfe ihrer viel zu lauten Kameraden hinweg zu: »Hallo zusammen. Wie ich sehe habt ihr den Weg heil überstanden.«

Sie lachte, doch ich zuckte nur mit den Schultern. »Ja, warum nicht?«

»Nun ja, im Wald lauern überall Gefahren.« Sie wirkte für eine kurzen Moment nachdenklich, schien dann aber ihre Gedanken - worüber sie auch immer waren - zu verdrängen und sagte schließlich um einiges gefasster: »Aber um euch sollte ich mir da wohl keine Sorgen machen. Ihr werdet schon mit dem fertig, was dort draußen schlummert, da bin ich mir ganz sicher.«

Lanix nickte eifrig. »Natürlich werden wir das. Nichts kriegt uns unter. Stimmt's Liva?«

Ich verdrehte die Augen und stichelte: »Nur wenn ich auf dich aufpasse.«

Doch er hörte mir bereits nicht mehr zu sondern drängelte sich zur Tanzfläche vor - er hatte wirklich eine fast schon faszinierend kurze Aufmerksamkeitsspanne, was manchmal lustig, manchmal aber auch nervig war. Er wirkte winzig im Vergleich zu den riesigen Männern, die dort wo er nun war mit ihren Gläsern herumtorkelten und sich über die dröhnende Musik hinweg anbrüllten. Das letzte was ich von ihm sah, waren seine braunen Haare, ehe auch diese hinter ein paar massigen Gestalten verschwanden. Bald sah ich nur noch eine auf und ab wippende Masse, in der Lanix irgendwo drinnen steckte und vermutlich auch nicht mehr raus kam ohne dabei halb zerquetscht zu werden.

»Uh, möchtest du ihn da nicht rausholen?«, lachte Solin, »die sind ziemlich wild für ihn.«

Nun musste auch ich lachen. »Oh, Lanix ist auch wild, keine Sorge. Außerdem kriegt ihn doch nichts unter, stimmt's?«

»Wie konnte ich das nur vergessen.«

Wir saßen noch eine Weile da und beobachteten die untergehende Sonne. Das Licht verschwand allmählich mit ihr hinter den Berggipfeln, und bald schon schützten uns nur noch das Lagerfeuer und die funkelnden Sterne vor der völligen Finsternis. Der Zeitpunkt war erreicht, an dem die Musik mit dem Licht in der Ferne verschwand und die Menschen leise wie Schatten ans Feuer glitten. Sie setzten sich auf die vielen Kissen und Decken, die auf der Wiese ausgebreitet waren und sahen gebannt nach vorne. Alle in dieselbe Richtung.

Auch Lanix kroch, der offenbar doch einen Ausweg aus dem Trubel gefunden hatte, krabbelte zu mir unter die Decke, die ich nur wiederwillig teilte. Seine Augen leuchteten mit den Sternen mit und er zischte mir zu: »Mann, das war Hammer! Du hättest kommen sollen. Wirklich. Das war - «

»Schsch«, unterbrach ich ihn ungeduldig und nickte nach vorne, auf den alten Mann mit langem Bart, der vor der funkelnden Kulisse aus Sternen und Feuer auf und ab schritt und seinen ruhigen, von unzähligen Jahrzehnten gebleichten Blick über unsere Gesichter schweifen lies. Jorek. Es schien so als würden sich in seinen Augen die Weisheit und die unerreichbaren Geheimnisse der Sterne widerspiegeln.

Der alte Mann erhob seine tiefe Stimme: »Seht zum Himmel hinauf, denn er steckt voller Geschichten. Eine davon handelt von einem Mädchen. Die Sternmuster verraten nicht viel über sie. Ihre Vergangenheit und ihre Persönlichkeit bleiben in den Weiten des Universums verborgen. Was man über sie weiß, ist dass sie rannte. Sie rannte, schluchzte und schrie. Ihr Weg führte durch einen düsteren Wald. Die Kleine meinte sie wäre gefangen in einer nie enden wollenden Finsternis. Doch sie fürchtete sich nicht und lief immer weiter und weiter. Und sie hörte nie auf zu weinen, bis sie ankam. Sie war wochenlang gerannt, ohne eine einzige Pause. Nun blieb sie völlig erschöpft stehen. Sie war so müde, dass sie all ihre Trauer, all ihren Zorn vergaß. Und dann stand sie da. Auf einmal ganz ruhig und fertig. Ihre Tränen waren getrocknet, ihre Augen rot und glasig. Sie war dreckig, verschwitzt und verstrubelt. Langsam stieg sie in das eiskalte Wasser eines Teiches und ließ sich dann von den sanften Wellen gleiten. Ihre Müdigkeit besiegte sie. Das Mädchen schlief ein und sank. Seine Augenlieder öffneten sich wenige Male, doch es konnte nichts als Wasser sehen. Irgendwann verlor sich das Licht in der Ferne und es verschwand in völliger Dunkelheit. Die Kleine wäre gestorben. Doch es geschah ein Wunder. Die Strömung trieb sie aufwärts. Schon bald spürte sie einen harten Schlag. Sie war gegen einen Baumstamm gestoßen. Doch anstatt erneut zu sinken, wurde sie nach oben gespült. Wie von einer unsichtbaren Kraft. Das Mädchen bekam endlich wieder Luft, doch es schien wie in Trance. Es versuchte nicht einmal aufzustehen. Die Strömung drückte es an eine riesige Weide. Und plötzlich fingen die Wurzeln an, sich zu bewegen. Sie schlangen sich um das arme Mädchen, das sich nicht einmal wehren konnte und fesselten es an Ort und Stelle. Nun verlor das Kind immer mehr das Bewusstsein. Es lag einfach nur da, ließ das Leben an sich vorbeiziehen. Jeden Tag beobachtete es das Morgenrot, jede Nacht den Mond. Es schaute im Frühling den Knospen beim Wachsen zu, hörte die Vögel ihre Lieder singen und sah die Schneeflocken im Winter tanzen – und das alles ohne einen einzigen Gedanken. Jahre vergingen. Das Mädchen wurde älter und vergaß sich immer mehr. Es wurde ruhiger und ruhiger. Irgendwann hatte es alle Erinnerungen an sich und sein Leben verloren. Der Körper der nun jungen Frau schien wie eine leere Hülle. Ihre Haut war grün geworden und Blätter wucherten um sie herum. Sie schloss die Augen. Man könnte meinen, sie wäre gestorben, so tief und fest wie sie schlief. Doch sie atmete noch. Nun veränderte sich die Frau auch äußerlich. Sie wurde immer schöner und das Grün auf ihrer Haut verschwand mit der Zeit. Der Teich wanderte in den Himmel. Sobald er sein Ziel erreicht hatte, war es vollbracht – Unsere Göttin war geboren. Die guten Geister schenkten ihr den Namen ‚Novalie'. Und nun herrscht sie über den gesamten Himmel und verschönert die Welt mit ihrer Güte und Liebe.«

Seine Worte verklangen und es schien so, als würde sie der eisige Nachtwind davontragen. Ich starrte ihn an, noch immer von dem Bann der Geschichte gefangen. Sie schien so fern, so unerreichbar wie seine Augen. Dieses eigenartige Funkeln, das in seinem Blick lag und in dem sich die Sterne widerspiegelten. Doch kaum war die Geschichte zu Ende, verschwand er wieder zwischen den Reihen. Was blieb waren die Sterne. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte ihre Muster zu entschlüsseln, doch ich verlor mich sofort in der Unendlichkeit der vielen Lichtpunkte. Sie waren zu viele, zu komplex, zu außerirdisch. Ich würde sie nie verstehen...

Trampelnde Schritte ertönten hinter mir. »Liva, Liva, komm mal, das musst du dir anhören!«, keuchte Lanix, der sich offenbar wieder unbemerkt davongeschlichen hatte.

Ich sah ihn befremdet an und suchte das Sternenlicht in seinen Augen, doch dort war nichts.

»Komm schon«, drängte er und zog mich mit sich mit, zu einer kleinen Gruppe, die sich zu einem Halbkreis zusammengedrängt hatte und aufgeregt tuschelte.

Erst als ich Jorek in der Mitte sah, wurde das Gespräch für mich interessant. Ich entriss mich Lanix rasch und quetschte mich neben ihn. Dann sah ich die vielen, verschreckten Gesichter der Anderen. Überall wurde geflüstert.

»Warum hat sie das getan?«

»Wieso wohl! Weil sie sonst verhungert wäre!«

»Unsinn. Der Wald hat mehr Nahrung zu bieten als jeder Adelstisch der Welt.«

»Und wie soll sie die Nahrung erkennen, wenn sie sich nicht auskennt?«

»Oh nein, der Hunger hat sie krank im Kopf gemacht«, jammerte eine Frau.

»Du denkst doch nicht wirklich, dass ihr ihre Familie etwas antun würde, oder?«

Jorek hob das Kinn und donnerte seinen Holzstock auf den Boden. »Schweigt. Wer weiß was einer hungrigen Königtochter, die vor ihrem eigenen Vater flieht so durch den Kopf geht. Wir können nichts an ihrer Entscheidung ändern, sondern nur das Beste für sie hoffen.«

Ich runzelte die Stirn. Sprechen die etwa von Prinzessin Sinula Noval? Etwas Hartes streifte meinen Arm und als ich nach unten blickte sah ich Lanix mit vor Aufregung riesigen Augen zu mir emporstarren. »Jetzt hast du es auch gehört. Diese Prinzessin will wohl nochmal kämpfen. Kaum zu glauben.«

Doch ich konnte seine Begeisterung nicht teilen. Ich erinnerte mich noch genau an den eisigen Frühlingstag, an dem ich sie im Wald getroffen hatte. Die Trauer in ihren Augen begleitete mich täglich. Sie hatte sich also an ihr Versprechen gehalten und war nach Hause zurückgekehrt.

»Warum redest du vom Kämpfen, Kleiner«, erklang Joreks ruhige Stimme neben mir, »sie ist zurückgekehrt weil ihr der Schutz und ihre Heimat gefehlt haben. Nicht um zu kämpfen.«

Eine junge hübsche Frau mit vor Sorge gerunzelter Stirn trat nach vorne. »Aber wer kämpft dann?«

Jorek seufzte und sah wieder zu den Sternen. »Wenn ich das nur wüsste.«

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