Kapitel 93
Before You Exit - Silence
Ich weiß nicht, wie es heute bei Ardan sein wird. Er ist nicht zum Matheunterricht erschienen, was meinen Optimismus nicht gerade stärkt. Ich kann ihn nicht verstehen. Wieso musste er gestern so plötzlich gegen mich kämpfen und mich beschuldigen? Ich will ihm doch gar nichts Böses. Ich will ihn nur besser verstehen. Ich seufze ganz leise. Zum Glück endet der Unterricht jetzt. Ramzi zieht mich von Yasmin weg, als wir gemeinsam aus dem Raum treten und eilt schon die Treppen hinab. Ich habe das Gefühl, dass er mir sagen will, dass er Ardan von seinen Gefühlen erzählt hat. Wir laufen zu meinem Spind, den ich so gut wie mit allen teile. Yasmin wird sich auch einen Spint mieten, weil meiner schon zu überfüllt ist von allen Büchern. "Was ist?", frage ich, obwohl ich es womöglich weiß. Ramzi fährt sich durch seine hellbraunen Haare. Er zuckt mit seinen Schultern und gibt den Code für meinen Schließfach ein, nur um die Tür zu öffnen und zu schließen. Ich gebe diesmal den Code ein, um meine Mathesachen hineinzulegen. "Ich habe mit Ardan geredet ... an meinem Geburtstag." Ich warte, bis er weiterredet, obwohl ich es schon weiß. "Und worüber?" Man merkt es Ramzi an, dass er sich unwohl fühlt. Wieder zuckt er mit seinen Schultern und hält sich dann den Nacken. "Na ja ... über uns ... beziehungsweise über meine Gefühle." Mein Bauch zieht sich leicht zusammen, weil er immer noch für mich fühlt. "Ouh ... du liebst mich also immer noch?", frage ich vorsichtig. Ramzi errötet. Oh nein, der Arme! "Schon", nuschelt er, während er zu Boden schaut. Ich nehme ihn in den Arm, woraufhin ich ihn dann ganz fest drücke.
Es tut mir so leid, dass er immer noch in dieser Phase steckt. Er verdient es, geliebt zu werden. Ramzi erwidert seufzend meine Umarmung. "Ist es immer noch sehr stark?" "Weniger stark, aber trotzdem vorhanden." Ich kann ihm unmöglich von Ardan und mir erzählen, wenn er noch stark für mich empfindet - wenn er überhaupt noch für mich empfindet. Mein Gesicht zeigt leichte Zerknirschtheit, als ich mich von ihm löse - er schaut ebenso wie ich. "Und wieso hast du es genau Ardan anvertraut und nicht Miran?" "Ich weiß es nicht", seufzt er. "Ardan ist so ... so anders. Ich mag ihn einfach so sehr. Keine Ahnung. Bei ihm habe ich mich am wohlsten gefühlt, was das Beichten angeht." Ich verstehe, was du meinst. Davon werde ich Ardan erzählen, das wird ihn freuen. "Er ist auch ein sehr guter Mensch. Unternehmt ihr auch was miteinander?" Wir laufen langsam wieder durch den Gang. "Wir wollen uns diese Woche treffen und dann gehen wir zu mir, nachdem wir was essen gehen. Er darf bei euch umsonst essen", gibt er am Ende verblüfft von sich. Ich nicke und erzähle ihm vom Schein, den Mama für ihn ausgestellt hat. Wir laufen wieder hoch und warten im Raum. Wieso habe ich meine Mathesachen in den Spint gelegt? Ich gehe doch sowieso zu Ardan ... also er hat nicht zu mir gesagt, dass ich nicht kommen soll. Das würde er auch niemals sagen, egal wie verärgert er ist ... außer er erträgt meine Nähe nicht, weil seine Schuldgefühle zu stark sind.
Ich stehe etwas unsicher vor seiner Haustür, klingele aber am Ende doch. Da ich kein Essen rieche, kann ich davon ausgehen, dass die Mutter nicht da ist. Roxy ist aber auf alle Fälle da - ihrem Bellen und ihrem Tapsen zu urteilen. Weil sie gegen die Tür tappt, lege ich schmunzelnd meine Hand an die Tür. "Ab, Roxy", höre ich ihn sagen. Mein Herz schlägt unwillkürlich schneller, als er die Tür öffnet. Er trägt seine graue Jogginghose und er sieht gut aus. Seinen Blick kann ich dennoch nicht deuten. "Hallo, Mopsi", begrüßt er mich mit gedämpfter Stimme. Innehaltend trete ich hinein und begrüße die glückliche Roxy, die gar nicht mehr aufhören will, mit ihrer Rute zu wedeln. Sie zieht an den Schnürsenkeln meiner Timberlands und lässt ihre Pfoten immer gegen meinen Schaftvorderteil und -hinterteil tappen, um mir so irgendwie aus den Boots zu helfen. "Roxy, sitz." Ganz aufgeregt tut sie es und schaut zu Ardan hoch, der sie schmunzelnd krault. Ihre Rute hört man auf dem Boden hin und her rauschen. "Ich muss Roxy baden, dann ist meine Mutter sicherlich zu Hause. Wir essen und dann bringe ich dir Mathe bei." Seine Stimme ist so sanft und so vorsichtig - nicht wie gestern abweisend und gegen mich feuernd. Ich nicke und hänge meine Jacke im Flur auf. Innerlich freue ich mich, da Ardan immer mit Roxy in die Wanne steigen muss. "Komm, Roxy." Wir laufen in das Gästebad, wo Roxy jaulend darauf wartet, dass Ardan sich auszieht. Sie ist eine geschickte Hündin, die weiß, wie man die Männer dazu bringt, sich auszuziehen. "Ist ja gut", seufzt Ardan. Roxy hechelt sofort, als Ardan sich das Oberteil auszieht - innerlich hechele ich ebenfalls.
Seine Jogginghose legt er mit seinem T-Shirt auf den Klodeckel und steigt in die Wanne. Er trägt noch die graue Boxershorts, also wird es gleich ein Vergnügen. "Dann wollen wir mal." Ardan setzt sich hin und wird dann von Roxy abgeleckt. "Roxy", lacht er. Seine Hündin ist nicht zu stoppen und springt auf ihn, um jeden einzelnen Zentimeter seines Gesichts abzulecken. Ich schalte schmunzelnd das Wasser an und lasse es über ihr Fell laufen. Absichtlich lasse ich es auch über Ardans Schoß laufen, als ich Roxys Kopf mit dem warmen Wasser nass machen will. Nebenbei trinkt Roxy das warme Wasser und dreht sich auf den Rücken, damit ihr Bäuchlein auch etwas abkriegt. "Ja, das magst du, nicht wahr?", schmunzele ich, während ich ihren Bauch kraule. Ardan schamponiert währenddessen so gut es geht ihr Fell, weil sie nicht aufstehen möchte. Dieses Mal kann sie ruhig verwöhnt werden, ich gönne es ihr. Sie lenkt mich immerhin vom eigentlichen Problem ab. "Komm, Roxy. Auf mit dir." Ardan hebt sie an, damit sie sich aufstellt, um sie dann richtig schamponieren zu können. Es ist einfach nur zu süß, wie Roxy fröhlich ihre Rute gegen Ardans Gesicht schlägt. Zum Teil hat er es ja verdient. "Roxy, etwas ruhiger, bitte", schmunzelt Ardan. Ich kraule sie hinter ihren Ohren und schamponiere ihren Kopf, während Ardan ihren ganzen Rumpf übernimmt. Als sie dann fertig ist, gibt mir Ardan ein blaues Handtuch und die Bürste, mit der ich ihr Fell durchkämme.
Ich falte das Tuch auf und stelle erfreut fest, dass es ein Bademantel für Hunde ist. "Oh Gott, wie süß!" Roxy in diesem Bademantel zu sehen ist einfach nur ein Geschenk. Sie sieht so unfassbar süß aus. Ich muss sie drücken. "Du bist unfassbar süß!" Ich lasse sie los, als die Tür aufgeschlossen wird und drehe mich zu Ardan um, der sich gerade die Jogginghose anzieht ... er trägt schwarze Boxershorts ... ouh. Jetzt zieht er sich sein T-Shirt über und hilft mir hoch. Er war also gerade nackt hinter mir. "Sollen wir reden?", murmelt er. Ich nicke zögernd. Wenn ich mich nur einen Moment umgedreht hätte, dann hätte ich ihn nackt gesehen. Seine Mutter begrüßt lachend Roxy. "Ardan, hast du deine Medikamente eingenommen?" Ich trete verlegen mit ihm aus dem Bad. Die Mutter scheint mit meinem Besuch nicht gerechnet zu haben, aber dennoch freut sie sich. "Hallo, Liebes." Sie nimmt mich in den Arm und drückt aufmunternd, wegen der gestrigen Sache, zu. "Ich fange gleich mit dem Kochen an. Hast du deine Medikamente eingenommen?" Ardan nickt. "Gut. Habt ihr irgendetwas vor?" "Ich bringe ihr Mathe bei." Ardan tätschelt meinen Kopf und nimmt meinen Rucksack aus dem Flur. Ich weiß nicht so recht, wie das Gespräch aussehen soll. Ich habe nicht sonderlich viel zu sagen. Ich setze mich auf sein Bett, nachdem ich sichergegangen bin, dass mein Oberteil meinen ganzen Hintern bedeckt, und schaue ihn abwartend dabei zu, wie er leise die Tür schließt. Er ist nicht wirklich entspannt - das merkt man ihm sofort an. Was kommt jetzt? "Cana ... gestern ..." Er kratzt sich den Nacken.
"Ich habe nicht verstanden, wieso du so plötzlich wütend auf mich warst." Ich verschränke meine Arme vor meiner Brust. Ardan scheint nicht wirklich eine Begründung für sein gestriges Verhalten zu haben. "Es kam einfach aus mir raus. Meine Emotionen sind mit mir übergegangen. Das ..." Er schaut seufzend zur Seite. "Ich kann es nicht erklären. Das sind Dinge, die mich wütend machen." "Es macht dich also wütend, wenn ich mehr von dir erfahren will?", frage ich leicht argwöhnisch. Er steckt sich die Hände in die vorderen Hosentaschen und nickt. Das verstehe ich nicht. Ich entknote meine Arme wieder. "Aber ich kann doch nicht einfach unwissend bleiben." "Du bist nicht unwissend. Du weißt vieles." Ich halte kurz inne. "Du weißt, was ich meine, Ardan. Es war schon scheiße für mich, dass ich nicht wusste, was du hattest. Abgesehen davon, dass du mich sogar angelogen hast." Er zieht seine Augenbrauen zusammen. "Wann?" "Du meintest, du hättest etwas, das Depressionen ähnelt, nur um aus dem Schneider zu sein." "Ich mag es einfach nicht, über mein Leid zu reden", gibt er nun etwas gereizt von sich. "Und ich mag es nicht, wenn man mich anlügt und ohne Grund angreift", keife ich. Wieso schaut er jetzt so missbilligend? Ardan möchte etwas ansetzen, tut es dann aber nicht. "Ich will nicht weiter darüber reden", sagt er dann ruhig und beherrscht, ehe er sich neben mich setzt. "Es sind Dinge, die ich erst dann ansprechen kann, wenn ich mich wirklich bereit dazufühle. Das ist wie bei dir und deinem Brustkomplex", erklärt er sanft. Ouh ... so habe ich es noch nie betrachtet.
Als er mich anschaut, muss ich verlegen die Schultern anheben. "Obwohl ich deine Brüste überhaupt nicht schlimm finde, bist du anderer Meinung und verhältst dich kontrastiv zu mir. Dasselbe Problem habe ich auch und du kannst es nicht verstehen, weil du mich mehr akzeptierst, als ich es tue." Sein sanfter Blick liegt auf mir und er nimmt meine Hand in seine. Ich bin von seinen Worten überrumpelt, weil sie so viel Wahrheit beinhalten. "Ich kann verstehen, wieso du viel wissen magst und dass du auch wütend deshalb bist, auch wenn ich gestern eher rücksichtslos rüberkam, aber hab bitte Verständnis für mich." Ich nicke sofort. Ich will Verständnis für ihn haben, weil früher niemand Verständnis für ihn hatte. Ich will ihm eine Hilfe sein und ihm die guten Gefühle geben. "Also werde ich mich niemals an deine Brust lehnen können?", murmele ich. Ardan verzieht leicht sein Gesicht. "Okay", murmele ich wieder. Das gefällt mir gar nicht, aber was soll ich dagegen tun? "Du kannst dein Gesicht ja in meiner Halsbeuge vergraben. Meine Halsschlagader kann ja ein Ersatz sein." "Es ist aber dennoch nicht dasselbe", murre ich. "Mopsi, nicht grimmig werden." Plötzlich ist die Stimmung wieder lockerer. Es ist alles wieder gut. Er zieht mich in seine Arme und legt uns hin. In seinen Armen zu liegen, macht alles viel besser. Ich fühle mich sofort viel freier. "Und wann wirst du mir wieder etwas über dich erzählen?" "Mopsi", stöhnt er. "Ich muss es wissen", quengele ich. Aus dem Nichts fängt Ardan an, theatralisch zu seufzen und sich auf mich zu rollen. Mann, er wiegt ganz schön viel, obwohl er so schlank ist.
"Du fette Kuh!" "Das gefällt dir doch", raunt er. "Du presst mein ganzes Blut aus mir", pruste ich. Er fängt an zu lachen und schaut verwirrt zu mir hinab. "Wie kommst du darauf?", lacht er. "Bei Druck fließt oft eine Welle an Gebärmutterschleimhaut raus. Das habe ich oft, wenn ich niese", erzähle ich am Ende forschend. Ardan hebt mit gespielter Begeisterung seine Augenbrauen. "Wow, das ist aber toll. Dann musst du einen Tag nur niesen und dann bist du am nächsten Tag deine Periode los, du Stempel." Oh Mann, muss er wieder damit ankommen? Jetzt muss ich wieder an den Fleck auf seinem Schoß denken. Ich sehe ihn entgeistert an, was er gekonnt ignoriert. Stattdessen kauert er sich auf mir zusammen und beginnt zu schnarchen. Mit einem Ruck drehe ich uns um und lege die Decke auf uns. Ich habe ehrlich gesagt gar keine Lust für Mathe zu lernen, aber was sein muss, muss sein - aber zuerst muss ich essen und das dauert noch. Ich bemerke, wie Ardan seinen Kopf auf meiner Brust ablegen will, mich davor jedoch fragend ansieht. Ich nicke und schlinge meine Arme um seinen Hals, bevor ich seine Kopfhaut kraule. "Zu Anfang unserer Beziehung habe ich es uns nicht zugetraut, dass wir uns streiten. Ich dachte, wir würden streitfrei leben." Er summt. "Was hat dich auf diesen Gedanken gebracht?" "Deine ruhige Ader." Ich streiche über seine Schläfe. "Jetzt hast du bemerkt, dass auch ich die Fassung verlieren kann." Nun summe ich. Ich finde es jedes Mal aufs Neue ungewohnt, wenn Ardan seine Fassung verliert und wütend wird. Das passt nicht zu ihm. Der Frieden und die Ruhe machen ihn aus.
"Ich hätte nicht gedacht, dass du so reagieren würdest, als ich dir von meiner Krankheit erzählt habe. Ich dachte, du würdest wütend werden, weil ich es dir verheimlicht habe." "Meine Angst war zu groß. Ich war gar nicht wütend, glaube ich. Es ist einfach nur schockierend gewesen. Dir geht es doch jetzt besser, oder?" Er zuckt mit seinen Schultern. "Ich muss bis zum nächsten Belastungs-EKG warten." "Und dann wird entschieden, was du wieder machen kannst?" Er summt bestätigend. "Auch ... Sex?", nuschele ich verlegen. Seine Mundwinkel heben sich sofort und er blickt mich verschmitzt an. "Mopsi, du Unersättliche. Denkst du nur an das Eine?" "Nein, gar nicht", murre ich. Jetzt muss er mich natürlich necken. Ich halte ihm schmunzelnd den Mund zu, damit er bloß nicht weiterreden kann. Wer weiß, was noch alles aus seinem hübschen Mund kommen kann. Es ist etwas kühler im Raum, weshalb ich mich enger an Ardan kuschele und die Decke enger um mich schlinge. Laut meiner winzigen Recherche kann auch Kälte eine Angina Pectoris auslösen. "Ist dir nicht kalt?" "Nein", nuschelt er unter meiner Hand, die ich nun entferne. "Mir ist warm. Soll ich die Klimaanlage für dich anschalten?" "Wenn du nicht anfängst zu schwitzen." Anschließend zucke ich mit meinen Schultern. Er steht grinsend auf und nimmt sich die Fernbedienung zur Hand. "Es könnte dir dann zum Vorteil werden, wenn ich mich dann ausziehen muss." Oh ja, da hat er recht. Mein Armband schmeichelt seinem Handgelenk echt gut. Ardan wirkt ein wenig dünner. Wahrscheinlich vom fehlenden Training.
"Du und Ramzi trefft euch im Laufe der Woche?" "Ja, am Freitag wollen wir etwas unternehmen, aber ich weiß nicht, ob ich ihn fragen soll, ob er bei mir übernachten will." Ardan lächelt verlegen, als er wieder zu mir kommt und seinen Kopf auf meiner Brust ablegt. "Wieso denn nicht? Er würde es sich nicht entgehen lassen." "Das kann schon sein, aber wegen den Knöpfen bin ich mir nicht sicher und Roxy jault die Tage oft, wenn ich nicht da bin oder nur kurz ins Bad gehe und sie nicht mitnehme, weshalb ich nicht weiß, wie es wird, wenn ich etwas länger weg bin. Du weißt ja, wie sehr sie mich liebt." Wenn ich an Roxy denken muss, dann muss ich immer lächeln. Sie ist eine so besondere Hündin. "Hat es einen Grund?", frage ich. Ardan hält inne. Seine Hand drückt für einen kurzen Moment meine Haut am Bauch zusammen. Lächeln verschwindet augenblicklich. "Ardan?" "Ich hatte einen kleinen Schwächeanfall." "Warst du alleine?" Ich drücke Ardan sofort an mich. Wann genau hatte er den Schwächeanfall? "Meine Mutter war im Garten und ich wollte die Treppen aufsteigen. Ich habe aber auch noch nichts gegessen." "Warst du beim Arzt?" "Meine Mutter hat mich ja quasi zum Arzt gezerrt. Es ging schon wieder." Ich werde durch diese Information ganz unruhig. Meine Hände tasten seinen ganzen Hinterkopf, Rücken und seine Arme ab. Verdammt, das macht mich richtig sensibel! "Das ist nicht gut, wenn es bei Treppen zu solchen Problemen kommt", murmele ich. "Es geht mir wieder gut, Cana. Wirklich." Er legt seine Hand auf meine Wange und streichelt sie mit seinem Daumen. Seine Augen blicken besorgt in meine.
"Was hat der Arzt gesagt?" Er seufzt. "Ich muss bald wieder in die Klinik. Die Werte ... ich will dir keine Angst machen." Mit diesem Satz macht er mir nur mehr Angst - er ruft mir winzige Tränen in die Augen. "Was ist mit den Werten?", flüstere ich. Geht es ihm nicht gut? Was ist mit ihnen? "Sie sind etwas schlechter gewesen, als ich nach meinem Schwächeanfall dort war und am nächsten Tag war keine Besserung und ... ich weiß nicht." Ich fahre wieder ganz unruhig seine Arme auf und ab, halte seine Wangen in meinen Händen und streiche durch sein Haar in den verschiedensten Kombinationen, um mich irgendwie zu beruhigen, aber es wühlt mich umso mehr auf. Unpassender Weise kommen mir seine gestrigen Zitate in den Sinn. Da es bald vorbei ist. Hat er nicht mehr lange? Ich schaue ihn keuchend an, als mir der Gedanke in den Sinn kommt. "Wie steht es um deine Gesundheit?" "Ich bin nicht in akuter Gefahr, Cana. Beruhige dich bitte. Es ist nicht schlimmer als vor einem Jahr." Die Mutter ruft uns im unpassenden Moment. "Und jetzt komm. Lass uns runter und essen." Ardan lächelt mich an und küsst meine Schläfe, bevor er aufsteht. Ich habe Angst, dass Ardan zu viel von seiner Gesundheit vor mir verheimlicht. Geht es im wirklich gut? "Ich komme nach", flüstere ich. Sein besorgter Blick macht mich nur emotionaler, weshalb ich meinen Blick senke. "Gib mir nur fünf Minuten oder so." "Okay." Ich muss Mama zu den Lebenserwartungen fragen. Ich muss Mama alles fragen, wenn sie wieder zurück ist.
Ich will nicht schnüffeln, aber ich brauche mehr Informationen über Ardan. Ich schaue in seinen Schränken nach, finde aber nichts. Auch in den Schubladen an seinem Schreibtisch ist nichts vorhanden. Ich öffne die Schublade seines Nachttisches, wo ich ebenfalls nichts finde. Nur einige Bilder von uns beiden ... ich nehme sie heraus. Das sind die Bilder, die am See entstanden sind. Die wunderschönen Bilder. Er wollte doch ein Fotoalbum erstellen, wenn ich mich recht erinnere oder war es doch die Idee der Mutter? "Cana?", ruft Ardan von unten. Meine enttäuschende Suche beende ich an diesem Punkt, atme tief durch und steige etwas gefasster die Treppen hinab. Mich stört es, dass ich nichts finden konnte. Ardan wird mir nichts sagen und seine Mutter wird sicherlich ihm zuliebe ebenfalls schweigen. Fängt jetzt wieder die Phase an, in der ich immer an Ardan und seine Probleme denken muss? "Komm, Cana. Magst du Lachs?", fragt mich die Mutter. "Ich weiß nicht. Ich habe ihn nie wirklich gegessen." Aber die Kartoffeln und den Salat mit dem Schafskäse von ihr schon. "Wenn du willst, kann ich dir auch etwas anderes machen." "Nein, danke. Ich komme schon klar damit." Ich bin gerade sowieso nicht hungrig, weil ich zu Hause schon eine Kleinigkeit gegessen habe. Ich lasse mich neben Ardan nieder, der für mich meinen Teller auffüllt. Seine Hand drückt meinen Schenkel. "Was ist los?", fragt die Mutter. Ich schüttele nur seufzend den Kopf. "Nichts, ich bin nur etwas nachdenklich ... ach, wen mache ich hier etwas vor?" Mit gesunkener Laune esse ist die Ofenkartoffeln.
"Was ist denn?" Ardan drückt meinen Schenkel erneut. "Ardan macht mir Sorgen. Das ist ... sein Herz und sein Schwächeanfall und dass er deshalb die elfte Klasse wiederholen musste und dass ich nicht weiß, ob er noch gute Chancen hat, wenn seine Werte weiterhin so schlecht bleiben und dass er seine negativen Gedanken weiterhin in sich drin behält und ... und ..." Ich schluchze, meine Stimme bricht bei einem neuen Ansatz. "Cana, nicht doch." Ich kann ihr Gesicht durch meine Tränen nicht erkennen, die vor Sorge aufsteigen. Es tut mir nicht gut, mehr über seine Gesundheit zu erfahren, aber ich kann mich durch meine Neugierde einfach nicht bremsen. Ardan zieht mich in seine Arme. Instinktiv fasse ich an seine Brust, auch wenn er es nicht mag. Es macht mich einfach nur fertig, wenn ich daran denke, dass er ernsthaft krank ist. "Cana, stress dich bitte nicht. Das macht mich fertig." Ich muss an sein Zitat denken. Er hat recht. Ich stresse ihn nur mehr, wenn ich weine. "Cana, mach dich bitte nicht fertig deshalb. Ich weiß, dass es schwer für dich ist, aber es gibt immer noch die Hoffnung auf ein Spenderherz. Ardan ist oben auf der Liste." Die Mutter hockt vor mir nieder und wischt mir meine Tränen weg. Es kann also doch sein, dass er eins kriegt? In kurzer Zeit? "Wann würde er eins kriegen?", frage ich brüchig. Seine Hände schlingen sich von hinten um mich. Ich stelle mir vor, wie ich seinen Herzschlag gegen meinen Rücken pochen spüre. "Das wissen wir leider nicht, aber wenn ein Herz zur Verfügung steht, dann kriegt er es."
Ich kralle mich hoffnungsvoll an seinen Händen fest, die meinen Bauch umschlingen. "Es heißt nur: warten", sagt sie sanft. Ich will nicht warten. Ich bin zu ungeduldig, um zu warten. Die Zeit soll so schnell wie möglich vergehen. "Komm, iss etwas", fordert Ardan sanft. Plötzlich habe ich ganz großen Hunger und schneide große Stücke vom Lachsfilet ab. Ich fühle mich plötzlich so anders. Ich bin noch aufgewühlt, aber ich sehne mich nach Essen und nach Wärme. Ich esse schnell, weshalb ich Schluckauf kriege und nehme noch Kartoffeln und Salat zu mir. Ich bin gerade unersättlich, aber ich will nicht alles wegfressen. "Willst du mehr?", fragt Ardan mich. Ich verneine es, obwohl ich gut noch etwas vertragen könnte. "Sicher? Du kannst dir ruhig mehr nehmen. Für Cihan koche ich sowieso nach, also nimm dir ruhig mehr. Soll ich dir noch ein Filet anbraten?" Ich hebe verlegen die Schultern an und nicke. Ich habe totalen Hunger plötzlich. Ich will noch vieles mehr essen. Mein Schluckauf macht mich irgendwie hibbelig und mein Bein wippt. Alle drei Sekunden schaue ich zu Ardan, bis ich mich entscheide, mich ganz zu ihm zu drehen. "Alles in Ordnung?" Ich nicke. Seine sanfte Stimme benebelt mich. "Und bei dir?" Er nickt. "Danke der Nachfrage." Er ist so höflich. Ich liebe ihn. Meine Hand gleitet über seinen Schenkel, doch ich ziehe ihn schnell zurück, weil die Mutter noch in unserer Nähe ist. Meine Tat lässt ihn überrascht gucken. Ich weiß doch auch nicht, was plötzlich los mit mir ist.
Ich esse mich so satt, dass mir schon schlecht ist, aber es hat sich gelohnt. Die Kräutersoße war aber auch zu gut. "Komm, Mopsi. Die Treppenstufen schaffen wir", schmunzelt Ardan. Ich stehe ächzend auf und lege mein Geschirr in die Spüle, ehe ich die Treppen hinauf watschele. Ich will kuscheln. "Brauchst du etwas?" Ich schubse Ardan wortlos aufs Bett und lege mich vorsichtig auf den Bauch, was sich als nicht so gut entpuppt. Also drehe ich mich ächzend auf den Rücken und lege die Decke auf uns. "Schlafen", murmele ich. "Wolltest du nicht lernen?" "Ich bin zu unkonzentriert. Wir verschieben es auf morgen." "Ist mir recht. Ich kann irgendwie auch nicht so recht denken." "Und wieso?" "Ich weiß es nicht. Mich beschäftigt so wenig, aber dieses Etwas, was ich als wenig betitele benötigt mehr Raum zum Denken als vieles, was für mich als banal gilt, für andere aber womöglich die Welt ist." Er schaut hoch an seine Zimmerdecke, während er mir durch mein Haar fährt. "Man braucht eigentlich wenig, um glücklich im Leben zu sein. Unsere Konsumabhängigkeit macht es uns nur schwer. Nicht jedem natürlich, aber es gibt Jugendliche, die ein so hohes Taschengeld kriegen und anfangen zu schmollen, wenn sie das Paar Schuhe nicht kriegen. Das heißt nicht, dass so etwas überhaupt nicht glücklich machen soll, aber ich kann auch glücklich sein, wenn ich einmal alle sechs Monate ein neues Paar Schuhe kriege und dann länger strahle als schmolle, beim Warten. Wieso also machen es sich Menschen mit so banalen Dingen schwer im Leben? Manchmal denke ich, dass diese Menschen mehr Probleme haben, als ich. Das habe ich auf dem Gymnasium erkennen können."
Ich frage ihn, was er erkennen konnte, während ich ihm verträumt über den Bauch streiche. "Sie waren einfach so ... unzufrieden mit sich selber. So unzufrieden, dass sie ihre Attribute auf mich reflektiert haben." "Projektion. Das habe ich gerade in der Pädagogik. Unerwünschte, eigene Eigenschaften werden schlechtgeredet, obwohl die Personen diese unerwünschten Eigenschaften selber besitzen." "Genau das ist es! Sie waren so ... Gott, unmöglich! Ich frage mich, von wo sie dieses Verhalten erlangt haben. Die eine weint, weil sie diese Wellensteyn Jacke nicht bekommen hat, während ich mit meinen Rückschlägen klarkommen musste. Zu dem Zeitpunkt habe ich ASS-Tabletten plötzlich nicht mehr vertragen und meine Werte waren sowieso schlecht. Du weißt nicht, wie froh ich war, als sich meine Werte in der elften Klasse verbessert haben. Ich war so dankbar wie noch nie, als es mir besser ging und ich das eine oder andere Mal etwas essen konnte, wo ich nicht daran denken musste, dass ich wieder ins Krankenhaus muss. Ich ..." Ardan seufzt tief. "Es ist eigentlich nicht meine Angelegenheit, aber der Mensch lebt von Neugierde und Aufnahme von Reizen. Es ist schwer zu überhören, wenn man es in der Klasse herumbrüllt." "Ich verstehe dich. Du forderst wenig und kriegst trotzdem nicht das, was du dir geduldig erhoffst." "Ich will seit meinem Geburtstag nicht mehr hoffen, aber ich hatte davor auch keine Hoffnungen und plötzlich hatte ich dich und wirkliche Freunde." Auf seinen zarten Zügen erscheint ein sanftes Lächeln. "Ich bin gerne bei dir, Ardan." Wir reden weiter, wobei ich Ramzis Worte erwähne, bis wir irgendwann schweigend einschlafen.
Ich träume davon, wie ich mein Herz zur Transplantation an Ardan spende.
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