Kapitel 88
Shawn Mendes - Roses
Es ist Montag - Schule! Zwar bin ich etwas müde, aber die Tatsache, dass ich ihn heute sehen werde, lässt mich förmlich aus dem Bett springen. Es muss sein. Heute und nicht morgen. Bei dem Schritt wird mir etwas mulmig im Bauchbereich, aber ich habe mich nicht zum ersten Mal mit Ardan streiten müssen. Vielleicht streiten wir uns auch nicht und er redet freiwillig mit mir ... was ich aber bezweifele. Ardan war seit meiner Ankündigung in diesen zwei Tagen so aufmerksam wie seit langem nicht mehr. Irgendwie hat er mir leidgetan. Ich weiß, dass es ihn verunsichert, aber ich muss konsequent sein. Trotzdem wollte er nicht telefonieren oder einen Videoanruf starten. Das hat mich total stutzig gemacht. Aus Spaß habe ich ihn gefragt, ob er mich betrügt - ich könnte ihm das niemals zutrauen -, woraufhin er total wütend geworden ist. Ich konnte ihn zwar besänftigen, aber er war trotzdem mürrisch. Die letzten Tage waren durch seine plötzliche Aktivität ziemlich erfreulich für mich. Verständlich, ich konnte endlich wieder mit meinem Freund kommunizieren. Trotzdem ist er kein einziges Mal auf meine Fragen bezüglich seiner Gesundheit eingegangen. Es kam immer nur die Antwort: Mir geht es gut. Wer's glaubt. Aber er entkommt mir nicht. Ich werde heute zu ihm gehen. Er wartet nur darauf, dass ich das anspreche, was ich am Samstag angekündigt habe. Was mich erwarten wird? Ich bin mir noch unsicher, ob ich diesen Schritt gehen soll. Ich will ihn nicht stressen.
Heute nehme ich mir ein grünes Oberteil mit leichtem Rollkragen zur Hand. Vielleicht bringt es mir ja irgendwie Glück. Weniger Glück habe ich beim Einsteigen in meine taillierte Jeans, die ein Loch am Knie hat und wo ich mit meinem Fuß hängen bleibe. Der Gedanke an meinen Schritt macht mich irgendwie nervös. Ich will ihn eigentlich gar nicht machen. Das macht man nicht, aber man verheimlicht auch nichts, wenn man seinem Gegenüber doch vertraut. Aber vielleicht vertraut er mir, hat aber nicht den Mut dazu. Das ist ein so schwieriges Hin und Her. Ich gehe mich seufzend im Bad frisch machen und meine Locken mit dem Diffuser auffrischen. Auch wenn es heute nicht so schön enden könnte, will ich hübsch für uns beide sein und seine Aufmerksamkeit auf meine Locken lenken. Meine Babyhaare, die sich manchmal so komisch nach oben locken, nennt er immer Loopings. Und meine Locken an sich erinnern ihn an Lockenpommes. Das sind alles so liebliche Eigenschaften an ihm, die ich mir immer so gerne in Erinnerung rufe. Er kam gestern aus dem Urlaub zurück. Mir hat er erzählt, dass er mit seinen Eltern in Griechenland war. Da wollte er auch mit mir in den Sommerferien hin, ich erinnere mich noch daran. Es wäre zu schön, um wahr zu sein, wenn ich mit ihm und seinen Eltern nach Griechenland hätte fahren oder fliegen können. Am Ende sind sie ja doch nicht dahingereist und haben es deshalb bestimmt nachgeholt. Ich habe viele schöner Bilder aus Griechenland gesehen. Einmal dort zu sein, wäre bestimmt sehr schön.
Mama hat für uns schon unten Kelloggs für Aiman und Adam und für mich mein Brot fertig auf den Tisch gelegt. "Wie geht es meinen Kindern?" Bei Adams und Aimans müden Gesichtern kichert sie. "Meine Tochter sieht heute sehr gut aus. Erwartet dich heute jemand?" Ehrlich gesagt ... ja. Ich lächele verlegen zu Boden. "Aber meine Söhne sind natürlich auch wunderschön. Ihr habt nicht umsonst mein X-Chromosom." Mama ist total gut gelaunt und umarmt uns innig. Sie hat keinen BH an - das bemerke ich, als sie mich bei ihrer Umarmung fast mit ihren Brüsten erstickt. Wachsen die Dinger immer noch?! Habe ich irgendwie das falsche X-Chromosom abgekriegt oder was stimmt hier nicht? Ich kriege langsam das Gefühl, dass ihre Brüste so groß werden wie mein Po ... wow. Ich würde gerne wissen, ob Ardan Brüste oder den Po bevorzugt. Aber andererseits ist er doch offen für alles, also mag er beides ... ich habe ihn echt vermisst. Die letzten Wochen waren so mühselig. Sie vergingen zu langsam und es war stockend zwischen Ardan und mir. "Fährst du bei mir oder bei Aiman mit?" "Bei dir", antworte ich Adam. Aiman hat vor Adam Schluss, sodass Aiman mich auf gar keinen Fall erwischen kann. Aiman wirkt heute sowieso etwas träger als sonst. Anscheinend ist er nicht so früh schlafen gegangen. Adam wirkt da wacher und ist auch schneller mit seinem Frühstück fertig.
Die Fahrt zur Schule endet schnell. Schneller, als gewohnt, obwohl Adam wie immer fährt und der Verkehr sich auch nicht wirklich geändert hat. Hm, komisch, komisch. "Hab ihr euch gestritten?" "Nein", murmele ich. "Was war denn die letzten Wochen los?", fragt er vorsichtig. Ich seufze. "Ich weiß es selber nicht. Mal gucken, wie es heute sein wird." "Wirst du mit ihm reden?" "Ja." "Aber er tut dir nichts an ... oder?" Ich verneine es. "Das würde er nicht tun." "Ich würde es ihm nicht zutrauen, aber als du so traurig warst, habe ich die ganze Zeit überlegt, was passiert sein könnte. Wenn er dir nichts angetan hat, ist es besser für ihn." Sein mürrischer Satz lässt mich schmunzeln. Ardan würde mich körperlich niemals verletzen. Er hat mich zwar einmal mit Wucht auf sein Bett geschmissen und meine Unterarme haben deshalb gepocht, aber es tut mir mehr weh, indem er mich anschreit. "Und wie läuft es mit dir und Dilan?" "Ganz gut. Sie hat sich sehr über mein Geburtstagsgeschenk gefreut." Apropos Geburtstag. Ramzi wird in wenigen Tagen 18. Für ihn müssen wir auch noch ein Geschenk holen. "Was sollen wir Ramzi überhaupt holen?" "Er freut sich über jeden Scheiß. Ich glaube, er würde einen Pappaufsteller von Ardan vergöttern." Oh ja, er würde mit diesem Aufsteller schlafen gehen. "Meinst du, er würde eine Halloweenparty daraus machen? Wenn er schon an Halloween Geburtstag hat, dann würde das doch thematisch passen." "Ich würde es ihm zutrauen. Er gibt uns die Tage ja Bescheid." Oh Mann, was soll ich Ramzi kaufen?
Irgendwie finde ich es schade, dass ich weniger Ahnung für die Geschenkewahl bei meinem besten Freund habe, als bei meinem Freund, den ich nicht einmal halb so lange kenne. Aber Ardans Interessen sind konkreter als die von Ramzi. Ich kriege diesen Pappaufsteller nicht aus dem Kopf. Das ist etwas, was Ramzi lieben würde. Wir steigen aus dem Auto. Vom weiten sehe ich schon unsere Bande, die über irgendetwas redet. Auch er ist da. Er sieht gut aus. Nicht irgendwie krank oder müde. Wo auch immer er war, es hat ihm gutgetan. Ramzi steht auf, um Adam innig zu umarmen, obwohl sie sich in den Ferien regelmäßig getroffen haben. Dann wendet er sich zu mir zu, um mir ganz formell die Hand zu schütteln. "Äußerst erfreut, Sie wiedererblicken zu dürfen. Tee mit Milch?" "Und bitte vergessen Sie den Honig nicht", schmunzele ich. Ramzi lacht ganz trocken, wie es die Adligen tun, wenn sie in irgendeiner Serie nachgeahmt werden. "Sie sind immer für einen guten Witz zu haben, meine Liebe." Ramzi wirkt ein wenig tuntig, als er meine Hand tätschelt. Tuntig, aber lustig. "Was wünschst du dir zum Geburtstag?", frage ich. Ohne zu zögern greift er nach Ardan. "Den süßen Mann für wenigstens eine Nacht." Ardan schaut verdutzt zu Ramzi, der sich nicht scheut, sich an ihn zu reiben. "Ich kann gerne mal bei dir übernachten", lächelt Ardan. "Mh, übernachten und vieles mehr", schnurrt er. Dass er in Ardans Nippelchen beißen will, lässt meinen Freund zurückzucken.
Ich habe seine Blicke in Spanisch die ganze Zeit auf mir spüren können - er sitzt auch in meiner Reihe. Erst im Unterricht ist mir eingefallen, dass er mich nach Hause fährt und mich danach wieder zur Schule fährt. Das heißt dann wohl, dass eine Möglichkeit besteht, dass die Fahrten unangenehm werden. Bis jetzt fühle ich mich nicht unwohl, aber Ardan wird bestimmt wissen wollen, was ich ansprechen will. "Du siehst hübsch aus." Ardan schnallt sich nach seinem Kompliment an, startet jedoch nicht sein Auto. Er beobachtet lieber mein Profil. "Danke und du siehst gesund aus." Nun erwidere ich seinen Blick. Mir war es irgendwie klar, dass er nach dieser Bemerkung überall hinschaut, nur nicht in meine Augen. "Griechenland war schön ... das Meer und das Wetter." Ich verziehe fast mein Gesicht bei seiner murmelnden Tonlage. Er fährt schweigend los. Ob er wirklich in Griechenland war, bezweifele ich jetzt. Aber wenn er wirklich dort war: ist Roxy dann auch mitgereist? Ich kann mir verdammt gut vorstellen, wie sie eine Sonnenbrille trägt oder wie sie ins Wasser rast - wie sehr ich sie vermisst habe. "Magst du heute etwas gewisses essen wollen? Ich ... ich kann versuchen etwas zu kochen." Mir tut seine Unsicherheit so leid. Er verdient so eine Maßnahme, aber dass er so zerbrechlich wirkt, lässt mich meine zukünftige Tat wirklich in Frage stellen. Soll ich es wirklich tun? "Nein, danke." Er fragt mich nach meiner Note in der Spanischklausur, obwohl ich sie ihm schon im Unterricht gesagt habe. Das macht er nur, weil er den Kontakt zu mir sucht. "Eine Zwei und du eine Drei." Er nickt. Bei seinem gepressten Lächeln stechen seine Grübchen hervor.
Der ganze Schultag war komisch und irgendwie kam mir alles so zögernd vor - abgesehen von Ardan. Vor allem Ramzis Zögern hat mir Sorgen gemacht. Hat er irgendetwas bemerkt? Ich hoffe nicht. Ich muss es ihm immer noch erzählen, aber ich will ihn davor noch zu seinen Gefühlen mir gegenüber fragen. Wenn er immer noch Gefühle für mich hat, will ich es ihm nicht antun. Ardan bittet mich ins Haus hinein. Nichts steht ihm besser, als graue Jogginghosen. Sie lassen ihn länger wirken und betonen seinen Schoß. Ich liebe Jogginghosen an Ardan - und wenn er T-Shirt oder Leinenhemden trägt, die seine schönen Oberarme so toll betonen. "Magst du etwas trinken? Mama hat wieder Limonade gemacht." Beim Hinsetzen nicke ich. "Ja, gerne." Seine Mutter macht immer so tolle Limonade. Kann man das überhaupt noch als Limonade bezeichnen? Es schmeckt immer fruchtig-sauer und nicht so süß. In beiden Gläsern schwimmt das Fruchtfleisch der Zitrone. In seinem Glas ist auch noch ein wenig Schale drin. Zitronen sind sehr gut bei Krebs unter anderem ... ich sollte aufhören und lieber das Zitronenwasser genießen. Ich höre Roxys Hecheln und ihre Pfoten, die schnell über den Boden tapsen. Ardan nimmt mir schnell das Glas weg, weil er anscheinend vorhergesehen hat, dass Roxy mich mit höchster Passion anspringt, sodass ich platt auf dem Sofa liege. "Roxy", lache ich. Sie leckt mir den Nacken und die Wange ab, tapst mit ihren Pfoten auf meinem Bauch herum und weiß nicht, wann sie stillhalten kann. Ihre Freude ist herzerwärmend und ziemlich feucht. "Ich freue mich auch, dich zu sehen." Schmunzelnd schüttele ich ihre Pfote, bevor ich mir das Gesicht wasche.
Ardan mustert mich, als ich aus dem Gästebad trete. Sein Blick ähnelt dem traurigen Blick von Rocky, wenn er sein Lieblingsfutter nicht kriegt. Seine Augen sind groß und sorgen für ein Schuldgefühl in mir. Meine Maßnahme zu ergreifen fällt mir nun urplötzlich verdammt schwer. Ich halte inne. "Was wolltest du ansprechen?" Jetzt fühle ich mich wie Ardan, der jetzt an meiner Stelle schweigen und sogar aufs Zimmer gehen würde. Aber es muss sein. So geht das nicht mehr! "Ich ... ich wollte dein Verheimlichen ansprechen." Er schluckt. Seine verschränkten Arme entknotet er und schiebt sich stattdessen die Hände in die Seitentaschen seiner Jogginghose. "Da gibt es nichts-," "Hör auf zu Lügen, Ardan. Ich bin es leid." Meine feste Stimme lässt ihn innehalten. Das ist gut. Genau das wollte ich erreichen. "Ich will mir das nicht länger antun müssen. Ich will mich nicht noch mehr Wochen mit deiner Distanz und den Sorgen plagen, was du haben könntest. Ich kann das nicht mehr." Ich weiß nicht, was genau in Ardan gerade vor sich geht, aber er reagiert nicht. Er schaut mich nur an und denkt nach. Ich habe meine eigentliche Maßnahme gar nicht ergriffen, aber vielleicht muss ich das auch nicht. "Es ist ... es ist nichts Schlimmes. Ich habe dir doch schon davon erzählt", erwidert er neutral und durchbricht damit die Stille. "Ist es auch wirklich die Wahrheit? Was ähnelt Depressionen und ruft solche Zusammenbrüche, Anfälle oder was auch immer du vor zwei Wochen hattest, hervor?" Bei der Wiedererweckung dieser schlimmen Erinnerung zuckt sein Kiefer.
"Kannst du dich nicht einfach damit zufriedengeben, was ich dir gebe?" Mein Gesicht zeigt Empörung und Entgeisterung. Das hat er doch nicht ernsthaft gesagt. "Ich?" Fassungslos lache ich auf und zeige dabei auf mich. "Ich soll mich mit Lügen zufriedengeben? Soll das gerade dein Ernst sein?" Meine Wut steigt auf, aber ich unterdrücke sie. Ich darf keines Falls vergessen, dass ich Ardan nicht stressen darf - auch wenn er mich stresst. "Ich belüge dich nicht. Ich ... ich habe etwas, aber das habe ich dir auch erzählt." Seine Augen versuchen irgendwie Ruhe zu stiften, aber seine Worte richten nur Schaden an. "Du hast mir gar nichts erzählt! Erst nachdem ich dich auf Depressionen angesprochen habe, hast du mir eine winzige Erkenntnis gegeben, dass da noch etwas ist. Was es ist, weiß ich nicht und wieso? Weil du es mir verheimlichst." "Ich bin nicht verpflichtet, dir meine ganze Leidensgeschichte zu erzählen." "Dann müssen wir diese Beziehung gar nicht weiterführen, wenn wir nur stehenbleiben!", rufe ich erzürnt. Verdammt! Mir rutscht das Herz in die Hose. So wollte ich mich gar nicht ausdrücken, auch wenn das meine Maßnahme sein sollte. Ich wollte mich eigentlich viel sanfter ausdrücken und es eher als Pause betiteln. Mein Körper steht still, meine Hände verharren in ihrer Position, sowie Ardan steif in seiner Position verharrt. Sein Mund ist geöffnet, seine Augen schockiert. Ich habe - glaube ich - einen Fehler gemacht. Aber in meinen Gedanken erschien mir diese Maßnahme nicht so heftig ... vielleicht, weil ich es mir auch schöngeredet habe.
Seine Miene verändert sich schlagartig. Es flackert Wut in seinen grünen Augen, die nun mich schlucken lässt. "Du willst mich also verlassen?" Ich zucke zusammen, als er sich so plötzlich vom Sofa abstützt. "Mich verlassen? Du hast mir versprochen, dass du mich nicht verlassen wirst!", schreit er. Wieso bin ich nicht mehr in der Lage, zu sprechen? In diesem Moment fühle ich mich wie paralysiert. Ardans Gefühle wirbeln im Sturm. Er ist fassungslos, aufgrund meiner Aussage. "Das hätte ich nicht von dir gedacht, Cana. Ich dachte, du liebst mich!" Seine Wut und Trauer umschlingen mich und drücken langsam zu. Ich weiß nicht, was zu tun ist. Ich weiß nicht, wie ich meinen beschleunigten Herzschlag regulieren und diese unangenehme Hitze loswerden kann. "Tue ich doch", schaffe ich es dann hervorzupressen. "Was soll dieses Ultimatum dann?", brüllt er. Seine Halsader sticht hervor und er wird langsam rot im Gesicht. Es zieht in meiner Brust, weil er mich so anschreit, aber ich muss mit den Konsequenzen meiner Maßnahme klarkommen. Trotzdem zucke ich zurück, als er schreit. "Wenn du dich nicht zu mir öffnest, dann hat das keinen Sinn! Ich habe es satt, nur die Hälfte vom Großen und Ganzen zu wissen. Du weißt nicht, wie verrückt es mich diese Wochen gemacht hat. Du weißt nicht, wie viel Angst ich um dich habe. Du weißt gar nicht, was du mit dem Verheimlichen eigentlich anstellst!" Mir steigen schon die Tränen bei meinem Gebrüll auf. Ich darf ihn nicht stressen! Aber was tue ich denn gerade?
Ich sehe, dass seine Atmung sich beschleunigt. Meine Angst steigt. Habe ich es übertrieben? Habe ich seiner Gesundheit geschadet? Ardan senkt seinen Blick. Er hat die Augenbrauen zusammengezogen und lässt nachdenklich seinen Kiefer in langsamen Abständen zucken. Seine Augen schließen sich für einen Moment. Ich will die Beziehung nicht beenden. Wenn er auf die Maßnahme eingeht, dann habe ich ein dummes Eigentor geschossen. Aber was bleibt mir bitte für eine andere Wahl? Ich bin es leid, die ganze Zeit das große Etwas nicht zu wissen. Er hat Probleme, er hat leichte Zwänge, wie soll ich da noch stumm sitzen? Das geht einfach nicht. Er atmet stockend durch die Nase, als er den Blick anhebt. Sein Blick ist gemischt. Die sanft-markanten Gesichtszüge sind leicht verzogen, als ob er gleich weinen würde. Seine Augen überwältigen mich mit den Gefühlen. Was kommt jetzt? Ich muss auf alles gefasst sein. "Ich bin nicht verpflichtet, mich für etwas rechtfertigen zu müssen , wofür ich nichts kann." Ich halte inne. Wofür kann er nichts? Ich will noch nicht zum Reden ansetzen. Vielleicht kommt da noch mehr. Doch, da kommt mehr. Ich sehe es ihm an. Ardan wirkt so, als ob er platzen würde, so viel Last, wie er in sich trägt. Sein Oberkörper bebt, seine Arme wirken ganz angespannt. "Meine große Liebe will immer meinen Herzschlag abtasten und ihm lauschen. Ich habe am Weltherztag Geburtstag, kriege dort die Nachricht, dass jemand anderes das Herz dringender braucht und habe ein Herz, das bald nicht mehr schlagen kann." Mir bleibt die Luft weg. Nein. Nein, nein, nein. Das kann nicht sein. Nein, niemals.
Es fühlt sich so an, als ob mir der Boden unter den Füßen weggezogen wird und ich in einem dunklen Raum lande. Alles um mich herum verblasst. Ardans Unterlippe zittert, genau wie sein Atem. "Selbst mein Nachname ist die Pure Ironie. Nemir, der Unsterbliche und dreimal dürfen alle raten, wer nicht mehr lange zu leben hat." Ich ... ich fühle gerade gar nichts. Ich dachte, dass sich mein Herz schmerzhaft zusammenziehen würde, aber ich fühle mich einfach nur taub. Mein Mund bleibt offen, mein Blinzeln ist träge. Herz. Er ist Herzkrank. Er braucht ein Transplantat. Er ist mein Herzensdieb. Wahrscheinlich hatte er etwas Ähnliches wie einen Herzanfall vor meinen Augen. Manchmal hat er das Wort Herz in den Kontext gebracht. Schade, wie soll ich mit diesem Herzensleid nur klarkommen? Herzenswunsch. Das mache ich mit Herzen. Dann sollte ich die Tage besonders auf mein Herz aufpassen. So viele Szenarien kommen mir in den Kopf und ich habe es nicht einmal in Erwägung gezogen, das Herz in Betracht zu ziehen. Ich kann nicht reagieren. Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Er ist Herzkrank ... mein Ardan ist Herzkrank. Langsam steigen mir die Tränen auf. Er ist krank. Seine Gesundheit ist stark gefährdet. Ich denke wieder an vergangene Szenarien. Mein Kopf schießt zu ihm hoch. "Hast du überhaupt Diabetes?" Er senkt beschämt den Blick. "Wieso hast du mich angelogen?", flüstere ich. Die hinabkullernden Tränen stören mich nicht. Ich habe so viele Zeichen nicht realisiert. Ich habe doch so oft über Herzerkrankungen in letzter Zeit gelesen und jetzt erfahre ich, dass er Herzkrank ist.
"Weißt du, wie viel Angst ich hatte, als ich auf die neue Schule kam? Ich wurde deshalb nicht akzeptiert ... sie nannten mich einen Krüppel, ich hätte ein Krüppelherz." Sein Gesicht verzieht sich traurig. Meine Augen tränen immer mehr. "Ich hatte es als Kind verdammt schwer mit meiner Krankheit. Kinder haben sich in der Grundschule vor mich gefürchtet, weil ich mit Langzeit-EKGs oder mit einem Sauerstoffgerät in die Schule gehen musste. Sie haben gesagt, dass ich gruselig bin und dass sie Angst haben, auch so krank zu werden, wie ich. Auf dem Gymnasium haben sie mich wegen meinen Einschränkungen ausgeschlossen. Sie haben mich so dastehen lassen, dass ich mit meiner Erkrankung Aufmerksamkeit erregen will." Seine Unterlippe bebt immer stärker, aber er versucht alles, um nicht in Tränen auszubrechen. "Du weißt nicht, wie viel Angst ich hatte, dass ich jemals umkippe und kein einziger Schüler mir helfen würde. Du weißt nicht, wie sehr es mich geprägt hat, dass ich sogar meine Krankheit verleugne, damit ich akzeptiert werde. Du weißt gar nicht, wie sehr mich das belastet, Cana." Ich schluchze auf. Meine Gefühle übermannen mich erst jetzt. Ich taste keuchend seinen Herzschlag ab. So oft habe ich es getan und er hat meine Hand immer von dort weggeführt, aber ich habe nie realisiert, dass es einen Hintergrund deshalb gibt. Dieses Mal legt er seine Hand auf meine, drückt sie sogar fester gegen seine Brust. Sein Herz hat damals schon so langsam geschlagen und ich habe es falsch gedeutet. Ich wusste all das nicht. Deshalb kann er auf keine schnellen Geräte. Deshalb muss er auf seine Ernährung achten. Deshalb musste er die elfte Klasse wiederholen. Ardan zieht mich in seine Arme. "Es tut mir leid. Es tut mir so verdammt leid", flüstert er gebrochen. "Ich verzeihe dir, Ardan. Hör auf zu weinen." Er schluchzt plötzlich heftig.
"Du weißt nicht, wie groß meine Angst ist, dich bald zu verlieren."
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Wenn ihr euch jetzt Herzensdieb wieder durchlest, dann werden euch die Anspielungen ins Auge stechen ... oder ins Herz
- Helo
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