Kapitel 87

Etham - 12:45

Diese Ferien sind eine reine Katastrophe. Ich esse manchmal weniger und bin so oft am Weinen, weil ich an einem Punkt angelangt bin, wo ich vieles weiß, aber genauso viel nicht weiß. Ich kann das nicht mehr. Ich konnte auch nicht Ardans Bitte, Befehl, Wunsch - was auch immer - nachgehen und bin am nächsten Tag sofort ins Krankenhaus gefahren ... nur haben sie keinen Ardan Nemir aufgenommen. Er ist urplötzlich weg. Ich schaue mir so gut wie jeden Tag die Nachricht an, dass seine Eltern und er im Urlaub sind. Er ist im Urlaub, also muss es ihm doch besser gehen, oder? Ich will nicht so naiv denken, aber das hilft mir, keine Schmerzen im Brustbereich zu kriegen. Ich bete stets, dass es ihm gut geht und dass der Urlaub ihm guttut. Vielleicht ist es ja eine Kur? Ich weiß es nicht. Es hat mich aber glücklich gemacht, dass er mir diese Nachricht geschrieben hat. Er hat sich auch für meinen Text zu seinem Geburtstag bedankt, der ihn aufgeheitert hat. Ardan hat mir sogar ein Foto seines lächelnden Gesichts geschickt, wo beide Grübchen zu sehen waren. Ich schaue mir dieses Bild oft an. Oftmals lächele ich und oftmals steigen mir die Tränen auf. Ich bin stolz auf mich, dass ich ihn zum Lächeln gebracht habe. Trotzdem bin ich nicht glücklich. Es geht ihm nicht gut und dass er wieder so distanziert von mir ist, bricht mir das Herz. So oft Mama oder Baba mit mir reden wollten, ich habe es abgelehnt.

Sein Schreien ... ich kriege es nicht aus dem Kopf. Sein schmerzerfülltes Schreien ist ein Fluch, er will nicht aus meinem Gedächtnis verschwinden. Das kann doch nicht nur allein von dem Diabetes kommen. Es gibt so vieles, was er haben könnte. Ich will nicht vom Schlimmsten ausgehen, auch wenn man bei Krebs Schmerzen erleidet. Es könnte auch durch Stress entstehen - das hat er auf jeden Fall. Es kann auch eine Muskelerkrankung sein, sowas ähnliches habe ich doch. Und die Mutter ... sie so zu sehen, macht es mir umso schwerer, gute Gedanken zu fassen. Wie schlimm es für eine Mutter sein muss, wenn das eigene Kind vor Schmerzen schreit. Übermorgen beginnt die Schule schon. Ich kriege meine Klausuren wieder und werde ein weiteres Mal Ardan zur Rede stellen. Ich kann das nicht mehr. Ich will keine Steine mehr im Weg haben. Wenn ich ihn frage, was er hat, dann antwortet er mir nicht, aber auf alles andere antwortet er mir gerne. Er schreibt mir, dass er mich vermisst, aber möchte nicht telefonieren oder auf videoanrufe eingehen. Es kommt mir wie ein Wunder vor, dass er mir überhaupt das Foto seines Lächelns geschickt hat. Ich schreibe öfter mit seiner Mutter, als mit ihm. Sie hört sich so traurig an, wenn wir telefonieren. Gefällt ihr der Urlaub nicht? Oder ist es doch eine Kur? Sie meinte, dass es ihm besser geht, er sich aber nicht belasten darf. Deshalb weiß sie nicht, wann Ardan bereit ist, zu reden. Er selber möchte nicht reden, aber seine Mutter ist da anderer Ansicht. Sie hält zu uns beiden. Ich mag die Mutter echt.

Ich frage mich, wann genau Ardan entlassen wurde. Offensichtlich blieb er nur für wenige Stunden auf Station, dass er nach einem Tag nicht mehr da war. Oder wurde er gar nicht dort eingeliefert? Das kann auch sein, aber das Krankenhaus, indem meine Eltern arbeiten, ist das nächste. Wieso sollten die Eltern dann extra weiter wegfahren? Das würden sie nicht tun. Ich verliere langsam die Lust daran, über Depressionen zu recherchieren. Er meint zwar, dass es sowas ähnliches ist, aber wenn es nicht dasselbe ist, bringt es nicht so viel für mich. Ich will gerade die Seite schließen, als mir die physischen Symptome von Depressionen ins Auge stechen. Atembeschwerden, Schwindelgefühle, sogar Herzprobleme! Gott bewahre ihn davor ... aber ich will nichts davon ausschließen. Ich google nach Krankheiten, die Atemnot als Symptome haben. Ich will mich nicht auf eine einzige Krankheit einlassen. So offensichtlich es auch ist, Lungenprobleme habe ich überhaupt nicht in Betracht gezogen, weil mich die Gedanken so überhäuft haben. Ich überspringe neurologische Erkrankungen, Blutarmut, Herzinfarkte und weiteres, weil mich der Teil interessiert, was bei Atemnot zu tun ist. Ich kenne zwei Körperhaltungen, die man in diesem Falle einnehmen sollte, aber weil Ardan davon betroffen ist, will ich alles für den Fall der Fälle auffrischen.

"Cana?" Baba klopft an meiner Tür und wartet, dass ich ihn hineinbitte. "Ja?" "Komm runter und iss etwas." Er tritt mit besorgtem Blick zu mir ins Zimmer. "Willst du immer noch nicht darüber reden?" Ich verneine es. "Brauchst du Hilfe? Tut dir jemand was?" Wieder verneine ich es. Nicht physisch. "Was recherchierst du da?" Er dreht meinen Laptop zu sich, um sich die Hilfestellungen bei Atemnot durchzulesen. "Wofür brauchst du das? Hast du Atemprobleme?" "Nein, einfach nur so." Ich zucke mit meinen Schultern. "Es gibt auch neurologische Erkrankungen, die Atemnot hervorrufen können." Er nickt mir lächelnd zu. "Die Lähmungen der Atemmuskulatur kann durch Muskel- oder Nervenerkranungen entstehen. Wenn deine Zwerchfellnerven zum Beispiel beschädigt werden." Baba pikst mir in den Bauch, während er mich mit sanfter Stimme lehrt. "Aber deinem Zwerchfell geht es gut." Ich nicke. "Und deinem Kopf auch, oder?" Ich weiß, dass er versucht, mich aufzuheitern. Baba benutzt immer eine kindlichere Tonlage, wenn er uns aufheitern will. "Ja", lächele ich. "Dann kannst du auch sicherlich mit mir nach unten kommen und etwas essen, oder? Da kann ich einmal meine Arbeit zu Hause erledigen und nebenbei kochen und meine Tochter will nicht?" Er hat recht. Wenn er schon hier ist, dann will ich die Zeit mit ihm verbringen können. "Na komm." Er nimmt mich in den Arm und zieht mich so hoch. Dass er mich loslassen kann, lässt er außer Acht. "Baba, ich kann laufen", schmunzele ich. "Mein Gehirn will grad nicht hören." Plötzlich hebt er mich hoch. Ich kreische kichernd und halte mich schnell an seinen Schultern fest.

"Die Prinzessin auf der Erbse beglückt uns mit ihrem Besuch." Adam geht vor uns auf die Knie. Auch er hat versucht, mit mir zu reden, genau wie Amir - sogar Aiman wollte mir helfen. Von ihm will ich wirklich als letztes Hilfe, so dankbar ich ihm auch bin. Er ist manchmal zu streng. Mit Adam konnte ich nicht viel bereden, weil ich nicht weiß, was los ist. Es käme mir falsch vor, ihm von Ardans Zusammenbruch zu erzählen, deshalb habe ich es verschwiegen. Amir habe ich immer angesprochen, wenn ich mehr zu psychologischen Problemen und ihren Symptomen wissen wollte. Durch mich war er super auf seine letzten beiden Klausuren vorbereitet. Mama hat die Spätschicht und kommt erst um 22:00 Uhr nach Hause. Wenn nicht, sogar später. Heute hat sie noch eine OP. "Wollt ihr eigentlich mal unbedingt irgendwohin?", fragt Baba uns. Mir ist sowas recht egal. Ich kann auch gerne in die Heimatstädte meiner Eltern, solange es angenehm ist. Manchmal finde ich die deutsche Hitze weniger erträglich als die Kurdische. Ich weiß nicht wieso. Dort werde ich nicht braun, obwohl 45 Grad schon Standard in den kurdischen Städten ist, aber hier bin ich schon das eine oder andere Mal braun geworden. Wie das wohl bei Ardan ist? Wird er in der Türkei schneller braun als hier in Deutschland? Er ist nicht wirklich braun. Er ist mehr blass, als gebräunt, aber nicht so blass, wie Dilan es ist. Niemand kann Dilan und Tante Saliha mit ihren blassen Hauttönen toppen.

Adam und Aiman schlagen Spanien vor. Amir würde gerne mal England oder Sizilien besichtigen. "Und du, Cana?" "Mir ist es egal." Baba scheint meine Antwort nicht so sehr zu gefallen. Es freut ihn immer so sehr, wenn er uns einen Wunsch erfüllen kann. Mama muss ihn immer zügeln, weil er am liebsten sein ganzes Geld für uns ausgeben würde. Mama ist diejenige, die es eher als Belohnung macht und Baba ist derjenige, der uns gerne verwöhnen will. "Kein bestimmter Ort?" Ich verneine es. Obwohl ... "Es gibt doch so ein Museum, wo echte menschliche Präparate ausgestellt werden." "Ja, das Körperwelten-Museum." "Da würde ich gerne einmal hin." Ich wollte schon immer mal die Präparate sehen. Was gibt es Faszinierendes als so ein Museum für Medizinliebhaber? Wie würde Ardan darauf reagieren? Ich weiß, er würde mit mir kommen, aber so etwas ist nicht sein Ding. Um mich zu ärgern, würde er Zirkel, Lineal und vielleicht noch einen Taschenrechner mitnehmen - er ist selber ein menschlicher Taschenrechner - und dann das Volumen von Organen ausrechnen oder so. Vielleicht würde er mich auch bei einer gewissen Stelle necken ... es gibt dort zwei Präparate, die Sex haben. Er würde irgendeinen seiner zweideutigen Witze raushauen. Der ist aber steif. Nicht, dass wir bald auch so aussehen werden. So etwas würde er sicherlich sagen. Seine Witze sind grässlich, aber dennoch liebenswürdig und unterhaltsam.

Nach dem Essen helfen wir Baba beim Abräumen. Ich habe das Gefühl, dass Baba mich nicht auf mein Zimmer lassen will, damit ich mich wieder im Netz verkriechen kann. Es wird ziemlich offensichtlich, als er mich ins Wohnzimmer zieht und in eine Decke hüllt. "Sag mir, was du hast." "Ich habe nichts." Ardan hat etwas und ich weiß nicht, was es ist. "Deine Augen haben beim Essen getränt." Wie hat er das gesehen? Er saß neben mir, aber ich hatte nicht so stark glasige Augen. Ich schaue verblüfft in seine gelben Augen. Er hat viel mehr graue Sprenkel als ich. "Cana, unterschätz niemals meine Sehstärke. Sie liegt nicht umsonst bei 154%. Die drei Prozent, die ich verloren habe, hole ich mir durch eine Augen-OP wieder zurück, wenn es sein muss." Wow. Er hat verdammt gute Augen. Auf eine Antwort soll er sich nicht verlassen. Ich kann es ihm nicht erzählen. Stattdessen lehne ich mich nur an seine Brust und genieße seine Umarmung. Mir kommt sofort das letzte Mal bei Ardan in den Sinn, wo er mich so unruhig geküsst hat, als ich ihn umarmen wollte. Ich schließe mit leichter Besorgnis meine Augen. Diese Situation war so verdammt komisch. Als ob er irgendetwas verhindern oder von irgendetwas ablenken wollte. Nur noch zwei Tage und dann muss mir Ardan die Antwort liefern. Ich muss konsequent werden, damit es weitergehen kann. Unsere Beziehung ist gerade keine richtige Beziehung, sondern ein Stillstehen mit kleinen Fort- und Rückschritten. Das will ich nicht und so sollte auch eine Beziehung im Allgemeinen nicht sein.

"Cana, mich stört es unheimlich, dass du so schlecht gelaunt bist. Erzähl es mir. Ich verliere langsam meine Geduld", fleht mein Vater nach langer Stille. Ich muss schmunzeln. "Du hast doch nie Geduld." "Werd jetzt bloß nicht frech. Es reicht mir schon, dass deine Mutter mich ärgert." Jetzt muss ich kichern. Obwohl er so wenig Geduld hat, lässt er es mit ganz viel Kraft über sich ergehen, falls Mama ihn ärgert. Aber falls es ihn mal reicht, dann schmeißt er sie einfach über seine Schulter und wirft sie ins Bällebad oder so. "Ärgert dich jemand?" Ich verneine es. "Hast du vielleicht ... Minderwertigkeitsgefühle?" Sein Blick wird ganz weich. Ich verneine es zögernd. Ich mag zwar meine Brüste nicht, aber sonst habe ich keine Probleme mit mir. "Sicher? Du kannst es mir erzählen." "Wirklich." Mit ihm über meinen Brust-Komplex zu reden kommt nicht in die Tüte. "Aber es ist kein Mobbing ... oder?" "Wirklich nicht." Meine Antwort entlastet ihn ungemein. Ich werde in seine Arme gezogen. Baba hat den größten Beschützerinstinkt, den ich kenne. Er hat jeden von uns immer während der Grundschulzeit ins Klassenzimmer begleitet und auch auf der weiterführenden Schule wollte er es nicht seinlassen, was er aber oft musste, da er sonst zu spät zur Arbeit gekommen wäre. In der Grundschule hat er es noch irgendwie hingekriegt, weil es näher am Krankenhaus lag, als unsere Realschule. Er ist mein Bodyguard. Bei Amir hat er sich sogar krankschreiben lassen, damit er dahinfahren kann, wo Amir auf Klassenfahrt war, weil er anfangs sehr, sehr viel Angst um ihn hatte. Mama hat ihn irgendwie therapieren können.

"Und sonst so?" Oje, ich kenne diesen Ton. Er versucht beiläufig zu klingen, aber er will es eigentlich unbedingt wissen. "Nichts." Ich hoffe, er sieht mein wachsendes Schmunzeln aus diesem Winkel nicht. "Schule? Freunde? Außerhalb der Schule? Außerschulische Freunde? Gewisse Spezies?" Amüsiert hebe ich den Blick an. Ich weiß, worauf er hinausgehen will. Seine Lippen spitzen sich und nun beginnt er zu pfeifen. Das erinnert mich an ältere US-Serien, wo jemand, der so tut, als sei seine Frage beiläufig gestellt, sich genauso verhält, um das herauszufinden, was er wissen will. "Die Freunde, die ich innerhalb der Schule habe, sind auch meine außerschulischen Freunde." Baba summt. "Und ... sonst so?" Ich pruste. Dieses Verhalten passt irgendwie nicht zu seinem Aussehen. So unsicher und vorsichtig sein Verhalten ist, so angsteinflößend und gemein wirkt er von außen. "Alles gut. Ich bin auf meine Klausuren gespannt." "Da wird alles gut. Falls deine Klausuren nicht so gut ausgefallen sind, kannst du sie immer noch mit der zweiten Klausurphase ausgleichen, bevor deine Notenpunktzahl aufs Zeugnis kommt. Kein Druck." Ich werde so fest an ihn gedrückt, dass ich quietsche. "Hattest du heute keine OP?" "Nur eine Hirnbiopsie. Keine große Sache." "So eine Wachkraniotomie ist eine große Sache, oder?" Meine Neugierde lässt ihn lächeln. Baba erzählt mir von den vielen OPs, die er durchführen musste, bis er sich dann wieder um irgendwelche organisatorischen Dinge kümmern muss.

Ich muss zugeben, dass Baba mich gut abgelenkt hat. Mir geht es wieder besser, aber wie lange das anhält, weiß ich leider nicht. Es wäre schön, wenn es nicht sofort morgen wieder weg ist - was ich auch irgendwie anzweifele. Aber meine Gedanken kommen wieder. Ardan. Ardan hier und Ardan dort. Schaue ich auf meine Plüsch-Roxy, muss ich an ihn denken. Spiele ich an meiner Kette, an seinem Lederarmband oder an meinem Glasfisch, dann kommen mir immer seine grünen Augen in den Sinn, die ich zuletzt nur panisch geweitet gesehen habe. Ach, Ardan, wieso verheimlichst du es mir? Wieso machst du es dir so schwer? Was ist es, das dich so belastet? Und wieso rennst du vor mir deshalb weg? Ich würde dich doch nie deshalb verlassen oder sonstiges. Im Gegenteil, ich würde Ardan nur noch mehr unterstützen. Hatte er mal eine Phase, wo er sich selbst verletzt hat? Ich hoffe nicht, aber ich weiß, dass viele, die von anderen in der Schule nicht akzeptiert werden, zu solchen Mitteln greifen - aber auch zu anderen Mitteln. Ardan trinkt und oder raucht aber nicht. Das würde seiner Gesundheit auch nicht guttun und ich würde ehrlich gesagt schimpfen. Vielleicht, weil Mama und Baba ein striktes Rauch- und Alkoholverbot pflegen, vielleicht aber auch, weil ich selber weiß, dass so etwas schädlich ist - vor allem für Diabetiker. Wie soll ich Ardan dazu bringen, es mir endlich zu sagen? Das wird schwer ... aber mir kommt eine Idee in den Sinn. Sie ist aber leider falsch ... irgendwie. Es ist nicht richtig, wenn ich es tue, aber es muss sein. Er muss mir endlich die Wahrheit sagen, damit wir weitergehen können. Das schreibe ich ihm jetzt auch.

'Ich muss dir bald etwas sagen.'

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