Kapitel 85
Shawn Mendes - Act Like You Love Me
Ich bin mit den Untersuchungen fertig und werde von Adam nach Hause gefahren. Mama hat nichts finden oder feststellen können, was mich irgendwie bedrohen könnte. Trotzdem will sie mich wieder untersuchen, um sicher zu gehen. Dabei gehen wir auf Monatsabstände. Ich bin erleichtert, dass es mir gut geht. Ob ich Ardan davon erzählen soll? Er ist immer so sensibel, was meine Gesundheit angeht. Ich werde ihm einfach Bescheid geben. Er hat meine Nachrichten immer noch nicht gelesen. Wieso tut er es nicht? Ich würde mich freuen, wenn er auf meinen Text zu seinem Geburtstag eingehen würde. "Willst du zu ihm?", fragt Adam mich. Ich weiß nicht, ob ich es tun soll. Seine Familie ist sicherlich noch bei ihm. Ich will ihm Freiraum geben, deshalb verneine ich Adams Frage. "Er braucht Zeit für sich", murmele ich. Bin ich froh, dass ich Adam als Vertrauensperson habe. So muss ich Yasmin nicht immer als Alibi benutzen. Heute kommt sie sogar mit den Mädels zu mir. Ramzi und Miran kommen ebenfalls. Es wäre so unfassbar toll, wenn auch Ardan kommen könnte, aber er ist bestimmt nicht in der Verfassung dazu ... oder vielleicht doch? Wir besprechen einfach gleich, wie wir es angehen werden. "Vielleicht besuchen wir ihn heute gemeinsam ... ich weiß nicht so recht." "Wir gucken gleich einfach. Soll ich Aiman Bescheid geben?" "Mir egal. Ich werde meine Beziehung ja eh nicht vor allen ausleben können."
"Stimmt. Nur Yasmin und ich wissen es?" Ich bestätige es ihm. "Wieso wissen es die anderen nicht?" "Ich wollte es eigentlich niemandem erzählen. Ich habe von Ardan eine Kette zum Geburtstag bekommen und zu Mama gesagt, dass sie von den Mädels ist und eines Tages hat Mama Yasmin darauf angesprochen und dann hat Yasmin bemerkt, dass ich da etwas verheimliche. Dann musste ich es ihr erzählen." "Aber sie hat dir den Rücken freigehalten?" "Jap." Auf dem Weg nach Hause nehmen wir Amal mit und fahren dann durch die Siedlung an den restlichen Häusern vorbei, um den Rest ins Auto zu quetschen. "Elyas wollte mitkommen, aber er muss lernen", erzählt uns Ramzi. Die Geschenke für Ardan nehme ich von Ramzi an mich, bevor sie noch hinten zerquetscht werden. Hoffentlich fällt es nicht auf, wenn ich dann noch mein anderes Geschenk dazupacke. Wir haben sicherlich noch eine große Tüte zu Hause, wo ich all die Geschenke reinpacken kann, sodass man es nicht sehen kann, dass da noch ein anderes Geschenk drin ist. "Ja, er muss noch eine Präsentation vorbereiten", bestätigt es Adam. Wir fahren an den Häusern vorbei, bis unsers kommt. Alle, die hinten sitzen, quetschen sich irgendwie aus dem Auto. Adam und ich haben es da einfacher. "Wie war die Untersuchung eigentlich, Cana?" "Gut. Es ist nichts festzustellen gewesen", antworte ich Dilan. Um Ramzis besorgten Ausdruck irgendwie umzuändern, lächele ich beschwichtigend. "Alles ist gut, wirklich." Nur geht es mir nicht mehr so gut, wenn ich an Ardan denken muss.
Ich bitte Adam darum, eine große Tüte zu holen und kann erfolgreich mein Geschenk hineinschmuggeln. Er wird sich sicherlich deshalb freuen. Doch, es wird ihn freuen, da bin ich mir sicher. Vielleicht kann er dann auch lächeln. Das hat er nach dem gestrigen Tag auch dringend nötig. Hoffentlich wird Ardan wollen, dass wir kommen. Aber er kann schwer nein sagen, also ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass er zustimmt ... andererseits hat er mich gestern weggeschickt. Aber wenn Ramzi fragen würde, würde Ardan doch anders reagieren. "Weiß immer noch niemand, was mit Ardan ist?", fragt Ramzi. Wir verneinen es. "Was kann nur passiert sein, dass er seinen Geburtstag sofort abbricht? Ist jemand in seiner Familie gestorben?" Ramzis Frage verneine ich, obwohl ich mit meinen Schultern zucken wollte. "Ich glaube, es geht um ihn", murmele ich. Es geht definitiv um ihn. "Dann sollten wir ihn besuchen gehen. Ich ruf ihn an. Oh Mann, ich habe mich echt auf seinen Geburtstag gefreut." Ramzi wählt seine Nummer und stellt dann auf Laut. Ich will seine Stimme hören. Ich will wissen, wie es ihm geht. Geht es ihm heute besser?
"Hallo?" Ich kann seine Stimme nicht zuordnen. Sie hört sich wunderschön, aber auch verhehlend an.
"Ardan? Wie geht es dir?" Ramzis Stimme ist immer so zärtlich, wenn er sich um jemanden sorgt.
"Ganz gut", seufzt Ardan. Wieso lügt er?
"Sicher?"
"Wer will, soll glücklich sein, denn morgen ist uns nichts gewiss", murmelt Ardan. Von wem hat er dieses Zitat?
"Können wir dich besuchen kommen?" Bitte sag Ja, bitte sag Ja!
"Wie könnte ich dazu Nein sagen?" Ramzi schnipst uns zu, damit wir uns schon mal bereitmachen können.
"Gut, wir kommen dann alle. Ich freue mich auf dich, mein süßer Hengst."
Den ganzen Weg bin ich unsicher, wie Ardan auf mich reagieren wird. Falls er mich sieht ... wird er dann schlechte Laune kriegen? Aber wieso? Ich bin seine Freundin! Er muss gute Laune bei mir kriegen. Adam nimmt mir mit einem aufmunternden Lächeln die Tüte ab. Ich wiederhole mich, wenn ich daran denke, wie froh ich doch bin, dass er es weiß und nicht dagegen ist. Ich umarme ihn einfach, obwohl wir noch laufen. Er soll wissen, dass ich ihm dankbar bin. "De çebet", murmelt er mir aufmunternd zu. Ich hoffe, er hat recht; hoffentlich wird es wirklich wieder. Wenn ich an meinen gestrigen Gedanken denke, dann bin ich ein Ticken optimistischer. Es war ein so schöner Gedanke, wie wir beide in einer Wohnung leben. Wenn ich alt genug bin, können wir das doch tun ... nein, eigentlich nicht. Das ginge nur, wenn wir verheiratet wären. Und wenn ich um deine Hand anhalte? Dieser Satz beschönigt gerade mein nachdenkliches Ich. Ich klingele an. Nemir. Selbst sein Nachname bereitet mir Freude, aber ob er wohl im Türkischen eine andere Bedeutung hat? Da sind doch einige Gemeinsamkeiten. Ardan öffnet die Tür. Mein Atem steht still. Er wirkt nicht so vital, wie sonst. Er hat nicht viel geschlafen, das weiß ich. Hatte er vielleicht wieder einen Schwächeanfall? Wenn ihm so etwas passiert, dann schläft er wenig bis gar nicht. "Hallo", lächelt er. Aber er lächelt zu den anderen, nicht zu mir. Das ist aber nicht sein richtiges Lächeln - und es fällt niemandem auf. Ramzi umarmt ihn stürmisch.
Ardan wird von jedem umarmt, aber das versichert mir aus irgendeinem Grund nicht, dass er auch mich umarmen würde. Jetzt stehe ich als letzte da, obwohl ich die erste an der Tür war. Sein Gesichtsausdruck sagt mir nichts. Dann eben nicht. Ich habe sowieso keine Lust, dass Aiman mich kritisiert. Ich schaue zum fragenden Adam, der noch an der Tür steht und will einfach rein. Das ist der Moment, wo Ardan mich in seine Arme zieht. Er tut es. Er tut es wirklich. Ich schlinge meine Arme um ihn, will ihn gar nicht mehr loslassen. Er drückt so angenehm zu. Es wird schon wieder. "Tut mir leid", murmelt er ganz leise. Wir sollten uns lösen, bevor es zu auffällig wird. Den Schritt übernehme ich, obwohl ich ihn noch Stunden hätte umarmen können. Roxy begrüßt mich wie immer herzlich. Es wird schon wieder. Adam und ich ziehen uns als letzte die Schuhe aus. Im Wohnzimmer sitzt noch seine Familie. Es sind auch neue Gesichter dabei, wie ich sehe. Die Tante fragt irgendetwas auf Türkisch, was er bestätigt. Ich verstehe nichts, aber anhand seines verlegenden Lächelns, ihres Lächelns und den zwei Wörtern, die ich kenne, gehe ich davon aus, dass es um mich geht und dass sie mich hübsch findet. Ein Glück versteht keiner meiner Freunde, was da gerade erzählt wurde. "Ihr könnt schon mal auf mein Zimmer. Mögt ihr etwas trinken?" Ich verneine es, wie die meisten. Nur Miran will etwas. "Und ich will dich", schnurrt Ramzi. Ardan nickt nur lächelnd. Sein linkes Grübchen sticht nur schwach hervor.
Ardan lässt jedem den Vortritt in sein Zimmer, wo ebenfalls einige Cousins sitzen. Das Haus ist ziemlich voll. Der Grund kann nur Ardan sein. "Wir haben deine Geschenke dabei", setze ich leise an. Es ist unglaublich, wie schnell meine Tränen aufsteigen können, weil er so schön lächelt. Selbst sein unausgeprägtes Grübchen rechts sticht hervor. Ardan kratzt sich glucksend die Schläfe. Seine Freude rührt mich. Gerade war es nicht so und dass er jetzt wirklich lächelt, bedeutet für mich die Welt. "Dankeschön. So viel?", fragt er erstaunt. "Für meinen Ardan gibt es nur das Beste." Ramzi gibt ihm die Tüte, wo all die Geschenke drin sind, die wir für ihn geholt haben. Mama hat Adam, Aiman und mir jeweils dreißig Euro in die Hand gedrückt, damit wir ihm etwas Schönes holen können. Somit hatten wir mit den anderen über hundert Euro zur Verfügung. Hoffentlich freut er sich über das Armband. Er trägt eher Lederarmbänder, aber so ein silbernes Armband würde ihm auch stehen. Das betont seine schönen Hände dann noch mehr. Und vielleicht sieht er sogar das eingravierte Mopsi an der Innenseite. Ich wollte es nicht auf der oberen Seite machen, weil ich dann ein Modell mit Gravurplatte hätte wählen müssen und mir das nicht gefallen hat. Deshalb habe ich es am Verschluss eingravieren lassen. Wir haben aus den verschiedensten Bereichen etwas geholt; Kleidung, ein Fotoalbum mit unseren Bildern, auch Parfüm, was mir gerade auffällt. Ich will ihm trotzdem selber ein Parfüm holen. Und dann sind da noch meine Bücher, die Schokobons und mein Kuscheltier - und eben das Armband.
"Wer hat die Sachen geholt?", fragt Dilan, als er meine separaten Geschenke holt. Mir wird warm. Er wird die Bücher doch mögen, oder? Ardan schaut sich das schwarze Cover des Mathebuches an. Seine Hand fährt so zärtlich über den weißen Kreis, wo die Formeln abgebildet sind. "Höhere Mathematik", lächelt er. Nun packt er das andere Buch aus. Das Buch der Unendlichkeit heißt es. "Da ist auch etwas zur Biologie drin ... dein Lieblingsfach." Sind meine Wangen gerötet? Ich hoffe nicht. "Wann hast du das alles gekauft?", fragt Dilan mich. "Das war, als sie bei mir war", antwortet Yasmin. Beim Anblick des Pummeluff-Kuscheltiers lachen alle. Ich würde ihm gerne sagen, dass das irgendwie mich darstellen soll und dass der Name Mopsi ziemlich gut zu diesem Kuscheltier passt, aber das ist mir doch etwas zu intim vor den ganzen Leuten, die nichts wissen - vor allem vor Aiman. Zu guter Letzt öffnet er die Schatulle mit dem Armband. Er nimmt es ziemlich genau unter die Lupe. Hat er die Eingravierung entdeckt? Wenn nicht, dann kann ich es ihm ja später schreiben. Er fährt über die Innenseite des Verschlusses ... jetzt lächelt er. Ja, er hat es gesehen. "Dankeschön an alle." Wieder umarmt er uns alle. Die Cousins schauen sich die Geschenke ebenfalls an. "Mit diesen Büchern kann man nichts falsch bei Ardan machen", schmunzelt der Cousin, der meine Bücher in der Hand hält. "Das heißt, dass wir heute ganz viel Mathe lernen werden", meint ein anderer nun. Ardan schaut auf den Boden. An was er wohl denkt?
"Was ist mit deinem Schrank passiert?" Ich kann Dilan wegen ihrer Neugierde nicht böse sein, aber die Tatsache, dass ich weiß, dass Ardan gestern vor Wut und Trauer gegen seinen Schrank geschlagen hat, bringt mich innerlich dazu, die zum Schweigen bringen zu wollen. "Gestern gab es einen Streit unter meinen Cousins. Da hat er seine Wut an meinem Schrank rausgelassen", lügt er, aber ich verstehe ihn. Er wird nicht darüber reden wollen. Er versteckt seine rechte Hand ziemlich gut, sodass man nicht darauf kommen würde, dass Ardan zugeschlagen hat. "Wieso hast du gestern nicht gefeiert?" So sehr ich es wissen will, ich sehe, wie er seine Gefühle zu gestern unterdrückt und will Adam deshalb in die Seite knuffen. "Ich ..." Ardans Lippen bewegen sich zaghaft, ohne Worte über sie gleiten zu lassen. "Du musst es nicht sagen", platzt es dann aus mir. Ich will es so gerne erfahren, aber es bringt nichts, ihn unter Druck zu setzen. Er wollte sich sicherlich eine Lüge überlegen, damit er die Wahrheit nicht sagen muss. Als Antwort seinerseits kriegen wir nur ein Seufzen. Er schließt seine Augen. Denkt er wieder an die Sache? Wie gerne ich in seinen Kopf gucken würde. "Können wir dir irgendwie helfen?", fragt Ramzi vorsichtig. "Nein, leider nicht." Bin ich die Einzige in diesem Raum, die dieses unangenehme Ziehen im Brustbereich verspürt? "Überhaupt nicht?", hake ich verzweifelt nach. Er schüttelt den Kopf. Was ist es nur?
"Ardan?" Die Mutter kommt durch die Tür. Anscheinend kam sie von der Arbeit wieder. Sie lächelt und begrüßt uns alle. "Ich habe gar nicht mit Besuch gerechnet. Wir müssen doch noch ..." Ardan nickt nur. "Ja, ich mache mich fertig." Wohin? Wohin müssen sie noch gehen? Es kommen immer mehr Fragen auf und ich kann nichts anderes tun, außer sie wahllos in meinem Gehirn hin und her zu schmeißen. "Tut mir leid. Ich habe das nicht so richtig durchdacht, als ihr kommen wolltet." Wir beschwichtigen es. Trotzdem ist es schade, dass er gehen muss. Vielleicht ist er auch erleichtert, dass er nicht mehr bei uns bleiben muss. So muss er keinen Schuldgefühlen ausgesetzt sein oder krampfhaft Lügen erfinden. Was ist nur passiert, Ardan? Was bedrückt dein Herz? Wir verlassen das Haus. Ardan begleitet uns diesmal nicht, aber die Mutter tut es. Es gehen schon alle die Treppen hinunter, nur ich lasse mir als einzige Zeit. Ardan bemerkt nach dem Ausziehen seines T-Shirts, dass ich noch nicht aus dem Zimmer bin. Er steht vor seinem Schrank, während er auf seinem T-Shirt herumdrückt, als würde es irgendetwas bringen. "Geh, Cana. Du machst es mir nur schwerer", kommt es mit belegter Stimme von Ardan. Sein Gesicht verzieht sich wieder, er schluchzt. Ich wusste doch, dass er heute nur eine Maske aufgesetzt hat. "Wenn du mich brauchst, sag mir bitte Bescheid", flüstere ich. Die Cousins trösten Ardan, der sich langsam zu Boden sacken lässt. Ich kann mir das nicht länger anschauen.
Ich flüchte schnell in sein Bad. Die anderen dürfen nichts merken, aber ich kann nicht anders! Es geht ihm nicht gut und ich weiß nicht, wie lange es ihm schon nicht gut geht. Mir war seit seinem Diabetes klar, dass er gesundheitliche Probleme hat, aber das kann doch nicht das sein, was ihn langsam zu zerstören droht. Mein Gesicht schmerzt vom Druck. Ich kann das doch nicht noch länger so still mit ansehen. Ich muss ihm doch irgendwie helfen! Schniefend wasche ich mir mein Gesicht und trockne es mit einem der vielen Handtücher im Regal ab. Bevor ich nach unten gehe, muss ich mich beruhigt haben. Was mache ich ihm nur schwerer? "Es wird schon wieder", murmele ich. Als ich mich bereit fühle, das Bad zu verlassen, atme ich noch einmal tief durch. Meine Augen und meine Nase sind nicht gerötet, also werden sie nichts merken. "Wo ist sie?", fragt Aiman. "Auf Toilette war ich", antworte ich trocken, als ich die Treppen hinuntergehe. Seine Frage war nicht misstrauisch gestellt, aber für ihn habe ich einfach keinen Nerv. Die Mutter lächelt mich mitfühlend an. Sie weiß, was in mir vor sich geht. Den Weg nach Hause verstumme ich komplett. Du machst es mir nur schwerer. Meine Augen tränen wieder. Yasmin und Adam haben sich links und rechts zu mir gesellt. Vielleicht, um mich abzuschirmen, vielleicht auch einfach nur so. Was tue ich ihm denn an? Ich will doch nur sein bestes! Ich muss Amir wegen Depressionen ansprechen. Hoffentlich hat er das Thema schon behandelt.
"Hoffentlich geht es ihm bald besser." Ich bete seit gestern dafür, Dilan. Amir ist zu Hause, also kann ich ihn gleich fragen. Ich muss es dringend wissen. Ardan ist so verdammt traurig und er kann sich mir nicht anvertrauen. Es soll sich wenigstens nicht auf seine Noten auswirken. Vielleicht wird er noch besser philosophieren können. Die Herbstferien sind schon bald, wird es ihm dann besser gehen? Können wir dann miteinander reden? Wie wird unsere Beziehung weitergehen? Ardan wird mich sicherlich nicht in der Schule ansprechen wollen. Ich gebe ihm noch etwas Zeit, aber langsam verliere ich die Geduld. Jedoch darf ich ihn nicht drängen. Das tut ihm in seiner jetzigen Verfassung überhaupt nicht gut. Die Jungs entscheiden sich für einen spontanen Besuch im Fitnessstudio. Ich habe auch ehrlich gesagt keine Lust, dass der Rest zu uns kommt. Nicht, weil ich sie nicht bei mir haben möchte, aber Ardan bereitet mir so große Sorgen, dass ich einfach nicht so viel Lust auf Aktivitäten habe. Ich lehne Yasmins Vorschlag ab, in die Stadt zu gehen. Ich will einfach nur mit Amir reden und mich dann hinlegen oder so. Im Flur streife ich mir die Schuhe ab und laufe die Treppen hoch. Ich trete ohne zu klopfen in Amirs Zimmer. Überrascht schaut er zu mir. Telefoniert er mit seiner Freundin? "Brauchst du etwas?" Ich nicke. Mir steigen schon wieder die Tränen auf und sie wegzublinzeln bringt nichts, weil Amir sie sieht. "Hey, nicht doch. Delin, ich rufe dich zurück und wenn nicht, dann sehen wir uns später."
Schniefend schließe ich die Tür ab und lasse mich dann auf seinem Bett nieder. "Wer hat meiner kleinen Schwester Unrecht getan?" Amir zieht mich in seine Arme. Es passt vielleicht nicht, aber ich stelle mir vor, wie Ardan mich umarmt. "Niemand", schniefe ich. Dieses Mal muss ich nicht so viel weinen. Der Gedanke an Ardan hat mich einfach nur so traurig gemacht. "Was ist es dann?" Er redet so sanft. Ardan würde genauso reden. "Meinem Freund geht es nicht gut." Seufzend wische ich mir die Tränen weg. "Deinem Freund?", fragt Amir zögernd. Ich schaue ihn finster an. Es mag sein, dass man es nicht richtig deuten kann, aber muss er mir jetzt damit ankommen, ob ich einen oder meinen Freund meine? "Ardan geht es nicht gut!", blaffe ich schon fast. Er soll mir helfen und mir nicht so blöd kommen. "Und wie kann ich helfen?" "Was kannst du mir über Depressionen erzählen?" "Hat er Depressionen?", fragt Amir überrascht. Ahnungslos und wahrheitsgemäß zucke ich mit meinen Schultern. "Ist nur so eine Überlegung." Amir seufzt und überlegt einen Moment lang schweigend. "Also ich kann dir aktuell nicht allzu viel über Depressionen erzählen. Es gibt viele Formen der Depressionen: die depressive Episode, die leichte depressive Episode, mittelgradige, schwere depressive Episode mit oder ohne psychotische Symptome. Moment ich habe eine Liste mit den Formen." Amir geht zu seinem Schreibtisch, an dem er ein wenig herumkramt. Der Zettel, den er mir in die Hand gibt, enthält so viele Informationen dazu. Ich hätte nicht gedacht, dass es so viele Formen der Depression gibt. Fünfzehn verschiedene Formen, wow.
"Außerdem unterscheidet man zwischen Manie und rezidivierenden Störungen." "Rezidivierend heißt, dass es wiederholt vorkommt?" Amir nickt. "Aber weshalb kommst du auf diesen Gedanken, dass er das haben könnte? Wie verhält er sich?" "Er hat Schuldgefühle, aber er sagt nicht, wieso er diese Schuldgefühle hat." "Aber das heißt noch lange nicht, dass er Depressionen hat, Cana", will Amir mich beruhigen. "Und dass er aus dem Nichts anfängt zu weinen und darum fleht, dass man ihm verzeiht? Und dass er um Verzeihung bittet, weil er eines Tages nicht mehr da sein wird?" Meine Unterlippe bebt. Amir ist nur noch in verschwommener Sicht vor meinen Augen. Es tut weh im Herzen. Es tut so verdammt weh. "Er hat etwas, Amir und ich will ihm helfen. Er sagt, dass ihm niemand helfen kann und ich-, ich kann nicht tatenlos dastehen. Ich muss ... ich muss ihm helfen", schluchze ich heftig. Amir zieht mich wieder in seine Arme. Ich werde noch Tage deshalb weinen und nachdenken. Ich weiß, dass mir mitten im Unterricht die Tränen aufsteigen werden und dass ich im Auto traurig aus dem Fenster schauen werde, weil Ardan unter dem Bann seiner Trauer steht. "Cana, es wird schon wieder." Ich hoffe es so sehr, Amir. Ich hoffe so sehr, dass es schon wieder wird. "Kannst du mir nicht helfen?", flüstere ich. "Ich bin kein niedergelassener Psychologe, Cana. Ich kann dir vieles sagen, aber ob Ardan nun wirklich an Depressionen leidet, kann ich nicht anhand dieser Informationen, die du mir gegeben hast, diagnostizieren. Tut mir leid."
Wer kann mir helfen? Kann Mama mir helfen? Es ist mir gerade echt egal, ob Amir oder Mama mit dem Gedanken im Kopf herumläuft, dass Ardan mein Freund ist. Irgendwann werde ich es ihr sagen, damit Ardan und ich einen weiteren Schritt machen können. Ich will, dass wir auf ewig zusammenbleiben. Wann es sein wird, weiß ich nicht. Vielleicht in drei Jahren, wenn wir mit unserem Abitur fertig sind ... aber dann kommt mir sein Satz in den Sinn. Verzeih mir bitte, wenn ich eines Tages nicht mehr da bin. Ich muss noch heftiger weinen. Amir hält mich ganz fest in seinen Armen. Mein Nacken und mein Gesicht spüren wieder diesen unangenehmen Druck, der sich anfühlt, als ob die Muskeln verspannt sind. Ich kenne das Gefühl unter anderem, wenn man zu lange lacht, aber hier ist es mit dem Schmerz meines Herzens verbunden. "Ich will ihn nicht verlieren. Er ist ein so guter Mensch." Amir versucht mich zu beruhigen, aber egal wie oft er meinen Scheitel küsst, meinen Rücken reibt und mir sagt, dass wir eine Lösung finden werden, es beruhigt mich nicht. Würde Ardan es sagen, dann sähe die Welt schon ganz anders aus. Es tut so weh, wenn der Geliebte leidet. Er leidet so sehr, dass er mir nicht in die Augen schauen will und auf die Knie fällt, weil es ihn emotional so belastet. Wo auch immer er heute hinmusste, es soll ihm doch bitte helfen und ihn befreien. Gott, ich flehe dich an, befreie meinen Ardan von seinem Leid. Befreie ihn von seiner Last und lass ihn so stark lächeln, dass sein schwaches, rechtes Grübchen so stark wie nie hervorsticht.
Nimm dir alles, was dir Lieb ist, nur lass meinen Ardan bei mir.
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