Kapitel 83

Sam Smith - Fire On Fire

Es ist 00:00 Uhr, Freitag, der 29. September. Es ist Ardans Geburtstag. Ich habe einen langen Text für ihn vorbereitet und abgeschickt. Wie er darauf reagieren wird und ob er reagieren wird, weiß ich nicht. Am Montag war er distanziert zu mir - aber damit musste ich klarkommen, auch wenn es wehgetan hat. Vom Dienstag bis gestern war er nicht da. Keiner wusste weshalb, aber er kam nicht. Zum Glück hat er die Klausurphase hinter sich, sodass er sich keine Sorgen machen muss. Aber weshalb hat er gefehlt? Ich wollte ihn nicht fragen, weil ich mir noch nicht sicher dabei bin. Aber diesen Text musste ich ihm einfach schreiben. Es ist 00:01 Uhr und er hat die Nachricht immer noch nicht gelesen. In der Stufengruppe gratuliert man ihm und auch in der Cliquengruppe. Auf Snapchat hat vor allem Ramzi Fotos und Video von oder mit Ardan gepostet. Wird er zur Schule kommen? Er will mir doch heute das erzählen, was er geheim gehalten hat. Was ist es? Wie werde ich reagieren? Werde ich verstehen können, wieso er es geheim gehalten hat? Am liebsten würde ich ihn fordern, es mir jetzt zu sagen, aber das will ich nicht tun - er würde es sowieso nicht tun. Hat er diese Woche viel über uns nachgedacht? Will er eine Pause? Was macht er, dass er nicht auf die Nachrichten reagiert? Ich spiele ungeduldig an seinem Lederarmband herum. Mein Handy liegt vor meinen Beinen, die ich im Schneidersitz an mich gezogen habe.

'Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich damit beginnen soll:

Es ist dein 19. Geburtstag, den du hoffentlich mit viel Freude und Glück feiern wirst - unter anderem mit uns. Was auch immer dich beschäftigt, das soll dich an diesem Tag nicht belasten. Ich weiß nicht, wie du auf diese Nachricht reagieren wirst, weil ich dir Unrecht getan habe, aber ich habe einen kleinen Funken an Hoffnung, dass du dich über diese Geste freuen wirst und dass zumindest dein ausgeprägtes, linkes Grübchen das eine oder andere Mal hervorstechen wird - wenn dein rechtes hervorsticht, heißt es, dass du dich sehr darüber freust, weil es nicht so ausgeprägt ist. Wie es mit uns weitergehen wird, weiß ich nicht. Momentan bestimmst du mehr als ich und das ist okay. Ich habe uns da in etwas reingeritten, was uns in diese Situation gebracht hat und muss mit den Konsequenzen leben. Ich hoffe dennoch, dass ich stets die kleine Blume bleibe, die deinem Schutz angehört, sowie du meinem Schutz angehörst. Das hört sich für dich jetzt sicherlich widersprüchlich an, weil ich mich letzte Woche ja quasi gegen dich gestellt habe. Was der Mensch in der Schale seiner Irrationalität für Gewalten auslösen kann. Ich will mein Verhalten nicht rechtfertigen ... noch nicht zumindest. Ich würde eines Tages versuchen alles zu klären, ruhig und entspannt, aber das kann warten, solange du willst - du würdest statt willst "magst" benutzen. Dich machen viele Dinge aus, die dich zur Sonnenblume auf dem Weizenfeld machen. Angefangen bei deiner Gutmütigkeit trotz deiner schweren Vergangenheit bis hin zu deiner Ruhe und Geduld. Deine Augen erinnern mich an das Grün von Murmeln. Ich mag Murmeln. Ich mag das klare, grüne Glas. Das mag ich auch an deinen Augen: sie sind so glänzend und klar.

Dass ich nicht weiß, wie du auf diese Nachricht reagieren wirst, verunsichert mich beim Schreiben, aber mein Herz sagt mir, dass du dich freuen wirst und es nicht spöttisch und verurteilend betrachten wirst, denn du gibst doch so gut wie alles und jedem eine Chance, bevor du urteilen willst. Ich kann mir dein zartes Lächeln dabei vorstellen, weil du dich über die ganzen Gratulationen freust. Das ist doch ein Stück, das die fehlende Akzeptanz schließt, oder? Ich hoffe es. Ich hoffe so vieles für dich, obwohl ich so wenig über dich weiß. Unter anderem hoffe ich, dass du mir verzeihen wirst. Du musst und sollst es nicht sofort machen, aber es würde mein Herz entlasten, wenn du mir nicht mehr böse bist. Von mir aus kannst du mich noch zwei weitere Wochen warten lassen. So hast du denselben Zeitraum, wie ich ihn für die Distanzierung genutzt habe. Irren ist menschlich und Vergeben göttlich - so Alexander Pope. Vielleicht kennst du ihn oder nicht, aber dann kannst du ihn in dein kleines Büchlein verewigen. Vielleicht zeichnest du dann noch zwei Herzchen hin, die sich verbinden oder so. Es war ein großer Fehler, Didem zu glauben und ich kann es im Nachhinein selber nicht verstehen. Wie konnte ich nur so dämlich sein? Ich war innerlich einfach so aufgebraust, aber in diesem Text soll es sich um dich drehen. Auch du bringst meine Gefühle und Gedanken zum Aufbrausen und das schon seit unserem ersten Schultag, weil du da so unfreundlich zu mir warst. Dass ich dir im Nachhinein das Gefühl von Unsicherheit vermittelt habe, tut mir leid. Ich war zu stur.

Ich habe das Gefühl, dass dieser Text nicht so toll ist, wie ich ihn mir eigentlich vorgestellt habe. Er macht nicht einem einzigen deiner weisen Sprüchen Konkurrenz, die mich in ein anderes Universum gleiten lassen. Das ist auch etwas, was dich zur Sonnenblume auf dem Weizenfeld macht. Du verstehst sicherlich diese Metapher - du magst die Naturmetaphorik doch. Ich hoffe so sehr, dass du morgen wieder lächeln kannst und damit meine ich nicht das normale Lächeln oder dein höfliches Lächeln, sondern das wunderschöne Lächeln, das deine Grübchen zum Vorschein bringt, deine Augen so schön leuchten lässt und deine Unbeschwertheit zeigt, die immer mehr in deine sanfte Seele tritt. Manchmal schaue ich dich an und entspanne mich, weil du etwas unfassbar Beruhigendes und Zartes ausstrahlst. Und dann frage ich mich immer, wie du das machst. Du freust dich über die kleinsten Dinge und diese Freude macht mich so glücklich, dass mir immer Tränen in die Augen steigen. Wenn ich wieder daran denke, dann steigen sie mir wieder auf. Diese Kleinigkeiten machen doch so vieles in der Liebe aus, oder? Ich finde schon. So gut wie alles macht etwas in der Beziehung aus; auch Fehler und das Verzeihen. Ist denn nicht das Vergeben für ein gutes Herz ein Vergnügen? Entscheide du darüber. Ich warte geduldig, bis du wieder mit mir reden willst.

In diesem Sinne wünsche ich dir alles Gute zum Geburtstag und zum Weltherztag, mein Ardan.'

Als ich aufstehe, habe ich ein mulmiges Bauchgefühl. Vier Stunden werde ich ihn nicht sehen, da er auf dem kooperierenden Gymnasium ist. Aber dann hat er eine Freistunde und ich Mathe. Wird er zu uns in den Matheunterricht kommen? Neben mir ist noch ein Platz frei, da könnte er ja sitzen ... oder er geht zu den anderen nach hinten. Mir ist beides recht, Hauptsache er ist in meiner Nähe. Ich habe mir extra einen Wecker gestellt, der mich früher weckt, sodass ich genügend Zeit habe, um mir Bauernzöpfe zu flechten. Er meinte nämlich einmal zu mir in unserem Wintergarten, dass ich sie doch in der Schule tragen sollte und dass sie mir stehen. Ich habe mich so schön gefühlt, als ich sie dann wirklich in der Schule getragen habe. Zudem nehme ich die herzförmigen Kreolen und die kleinen Blümchenohrstecker, die er mir geschenkt hat. Mein liebstes Outfit ist die Kombination aus meinem weißen Rollkragenpullover und meiner hellen Jeans. Ich sehe echt hübsch aus. Bevor ich mein Parfüm auftrage, hebe ich meine Kette an, damit ihr auch nichts passiert. Soll ich ein wenig Schminke auftragen? Ein klitzekleines bisschen Highlighter, mehr auch nicht. Jetzt binde ich mir nur noch mein Bettelarmband um und ziehe mir die Socken über. Wenn ich doch nur in der Lage wäre, Fotos von mir zu schießen, dann würde ich es tun. Ich sehe so hübsch aus heute. Hoffentlich schaut mich Ardan heute an. Hat er mir geantwortet? Hat er die Nachricht gelesen? Vielleicht wäre es besser, wenn ich es auf einen Zettel geschrieben hätte. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass das ihm so besser gefallen würde.

Mit unterdrückter Hoffnung schaue ich auf mein Handy. Meine Mundwinkel zucken enttäuscht. Er weder geantwortet noch die Nachricht gelesen. Aber vielleicht wird er sie noch lesen und hoffentlich antworten. Es zieht zwar unangenehm im Brustkorb, dass er nicht auf meine Nachricht reagiert, aber auf die ganzen anderen Glückwünsche hat er auch nicht geantwortet. Kommt er heute in die Schule? Das habe ich gar nicht bedacht. Vielleicht fehlt er wieder. Ich frühstücke mit dem Gedanken, dass Ardan hoffentlich zur Schule kommt. Mamas gute Laune inspiriert mich dazu, Ardan glücklich und unbeschwert in meinen Gedanken zu haben. Ich muss vier Stunden warten, bis ich weiß, ob er glücklich ist und ob er überhaupt kommt. Das wird eine Qual, die mich hoffentlich belohnen wird. Wie wird sein Geburtstag? Werden seine Cousins auch da sein? Ich hoffe so sehr, dass er unbeschwert ist, oh Gott, wie sehr ich mir das wünsche! Hoffentlich kann er auch gute Laune haben, wenn ich da bin. Wenn es sein muss, dann gehe ich von mir aus auch ... auch wenn ich dann traurig wäre. Ich will ihm nicht die Laune verderben. Ob Ardan so eine Maßnahme jemals ergreifen würde? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen ... so hätte ich auch denken müssen, als Didem mich manipuliert hat. Einmal und nie wieder. So einen Fehler will ich nie wieder machen. Er war so traurig. Er hätte vor Wut weinen können. Ardan war so verletzt und so wütend. Wenn ich wieder an sein Geschrei denke, steigen Druck und Tränen auf.

Vier Stunden sind um. Wir warten alle sehnlichst auf Ardan, damit wir ihm noch einmal persönlich gratulieren können. Er hat auf die Nachrichten reagiert ... nur auf meine nicht. Das habe ich erfahren, als Ramzi uns in der ersten Pause Bescheid gegeben hat, dass Ardan kommt. Ich bin schon etwas gekränkt deswegen, aber ich gedulde mich. Er ist verletzt, er fühlt sich hintergangen ... nur ist es so, dass ich mir echt Mühe mit dem Text gegeben habe. Er wird ihn sich doch durchlesen, oder? Doch, er wird es sicherlich noch im Laufe des Tages tun. Wo bleibt er? Braucht er noch lange von der Schule bis zu uns? Was hat er an? Hat er gut geschlafen? Hat er gefrühstückt? Das muss er, wegen seiner Gesundheit. Was hat er gefrühstückt? Trägt er Cool Water oder einen anderen Duft? Hätte ich ihm noch ein Parfüm gekauft! Aber das kann ich ja noch nachträglich tun, ohne einen speziellen Anlass dafür zu haben. "Wo bleibt mein Hübschling?", seufzt Ramzi quengelnd. Er brüllt Ardans Namen über den ganzen Hof und überlegt sich schon die Polizei zu rufen und Suchzettel zu erstellen. "ARDAAAAAN! WO STECKST DU?", brüllt Ramzi. Die Schüler schauen ihn an, weshalb er vor ihnen Fratzen sieht. "Mann, mein Ardilein kommt nicht", schluchzt Ramzi. "Ardan!", weint er laut. Als ob ich es gespürt hätte, dass er kommt, schaue ich auf den Eingang. Da ist er in Begleitung von Miran. Mein Ardan. Er wirkt glücklich. Er strahlt, seine Grübchen stechen hervor. 

Mein Herz schlägt augenblicklich schneller. Ich spüre ein Ziehen im Bauch. Ich bin aufgeregt. Er ist da und er sieht glücklich aus. Wird er es mir heute erzählen? Wird er mir sein Geheimnis offenbaren? Das wäre ein Traum, der Missverständnisse aus dem Weg räumen würde. "Ardan!", ruft Ramzi. Ardan bleibt sofort stehen, als Ramzi auf ihn zugerannt kommt und auf ihn springt. Er muss verdutzt Ramzis Beine festhalten, die sich um seine Hüfte schlingen. Ardan wirkt heute so glücklich und schon fast hibbelig. "Bringt die Gurke und singt für meinen Schatz!" "Was für eine Gurke?", frage ich schrill. Dass Yasmin aufnimmt, bemerke ich erst jetzt. "Ramzi wollte einen kleinen Kuchen für Ardan holen, aber da wir nicht wussten, ob er es essen kann, haben wir einfach eine Gurke und eine Kerze geholt." Die genannte Gurke wird von Dilan rausgeholt und die Kerze wird irgendwie reingedrückt. Daraufhin zündet Amal die Kerze an, als wir uns vor Ardan befinden und für ihn singen. Voller Freude lächelt er und muss wegen der Gurke lachen, während wir unser Ständchen beenden und für ihn applaudieren, als er die Kerze auspustet. Es ist schon das dritte Mal, dass er sich durch sein schönes Haar fährt und nach vorne wippt. "Jetzt nimm einen Bissen", raunt Ramzi. Verdutzt zieht Ardan den Kopf zurück. "Nun sei nicht so schüchtern. Nimm das lange Ding in den Mund, so wie ich es bei dir heute tun werde." Ich bete zu Gott, dass ich nicht erröte. Ich kenne mich da schon ein wenig aus, Ramzi.

Prustend stupst mich Yasmin unauffällig an. Ich schließe einfach nur die Augen und tue so, als ob ich es nicht gespürt hätte. Wenn du nur wüsstest, Yasmin. Wenn du nur wüsstest ... Ardan beißt ein relativ großes Stück der Gurke ab, die dann Ramzi an sich nimmt. "Hey, ich will auch etwas Gurke", schmunzele ich. Yasmin stupst mich wieder an. Ich will nicht Ardans Gurke! Nicht jetzt zumindest. Jeder bricht sich ein Stück der langen Gurke ab, woraufhin wir Gruppenbilder machen. "Das ist der beste Geburtstagskuchen, den ich je hatte", sagt Ramzi. Sein Blick liegt die ganze Zeit auf Ardan, der manchmal verlegen zur Seite schaut. Ich schaue ihn auch an, aber zu mir schaut er nie ... schade eigentlich. Will er mich denn nicht ein einziges Mal anschauen? Will er nicht sehen, dass ich die Bauernzöpfe trage und die Ohrringe, die er mir geschenkt hat? Nicht ein einziges Mal? Ich senke seufzend den Blick. Wenn er nicht will, dann eben nicht. Ich kann ihn ja schwer anschreien und dazu zwingen, mich anzuschauen, so sehr ich es auch will. "Lasst uns noch mehr Bilder machen. Ich will alleine mit Ardan auf einem Bild sein." Ramzi schnappt Yasmin meinen Freund weg und greift ihm zwischen die Beine. Selbst ich zucke zusammen. Ardan verschluckt sich an seinem Stück Gurke, weshalb Ramzi den Heimlich-Manöver durchführt ... auf seine eigene Art und Weise ... mit viel Gestöhne. "Geht's wieder, Baby?" Keuchend nickt Ardan. Er ist bestimmt traumatisiert.

"Jetzt macht die Fotos von uns." "Ich will auch Fotos mit Ardan", schmunzelt Yasmin. Jetzt wollen alle Fotos mit ihm machen, nur ich halte mich mit meinem Wunsch zurück und schaue betreten auf den Boden. Wenn er mich nicht einmal anschauen will, dann wird es nichts bringen, Fotos miteinander zu machen, obwohl es schöne Erinnerungen wären. Mir steigen unwillkürlich Tränen auf, weil es so schade ist, an seinem Geburtstag so zu sein. Ich seufze kaum vernehmbar. Yasmin macht die ganzen Bilder von Ramzi und Ardan, der sich über die Aufmerksamkeit echt freut. Andere aus unserer Stufe kommen ab und zu, um ihm noch zu gratulieren. Als das Fotoshooting mit Ramzi beendet ist, will ich Yasmin das Handy abnehmen, damit ich die Fotos schießen kann. Sie schickt mich vor. Sie weiß vom Problem nicht Bescheid, denn ich habe mich diese Woche etwas verschanzt, aber sie weiß, dass etwas passiert ist. Mir wird mulmig bei dem Gedanken, sich neben ihn zu stellen, aber ich kann jetzt keinen Protest machen - ich will es doch selber. Zögernd stelle ich mich zu ihm. Er schaut mich an! Sofort erröte ich, was gerade sehr unpassend ist. Mein Herz schlägt schneller, endlich schaut er mich an. Das macht mich aus irgendeinem Grund verdammt sentimental. Er beugt sich für das Foto auch ein wenig nach unten und legt seinen Arm um mich. Dass er das jetzt macht, lässt meine Gefühle wirbeln. Ich weiß, dass er noch wütend ist. Ich ringe mir echt ein Lächeln ab, was Yasmin wohl bemerkt. Sie senkt ihr Handy, schaut besorgt zu mir.

Um von der Sache irgendwie abzulenken, obwohl es ziemlich offensichtlich ist, spiele ich an meinen Haarspitzen herum. Dass mir die Anlagerung meines Kopfes nach vorne die Tränen aus meinen Augen fallen lässt, habe ich nicht einberechnet. "Was ist los?", fragt sie besorgt. Ramzi kommt auch mich zu, um mich sofort zu umarmen. Würde er das trotzdem tun, wenn er wüsste, weshalb ich so traurig bin? Alle stellen sich um mich, während ich stumm dastehe und mir die Tränen wegwische. Wenigstens nimmt Ardan seinen Arm nicht von mir weg. Er drückt sogar zu! Also reden wir heute? Ich weiß es nicht. Um nicht noch mehr Aufmerksamkeit zu erregen, wische ich mir die Tränen weg, atme tief durch und sage, dass es Ardans Geburtstag ist und er die Aufmerksamkeit kriegen soll. Er hat es verdient. Ich mache einige Fotos mit ihm, übernehme aber schnell für die anderen. Danach müssen wir schon in den Unterricht. Dass er meinen Arm gedrückt hat, hat mir ehrlich gesagt Hoffnung gegeben, dass heute alles gut wird. Ardan hat nie nachtragend auf mich gewirkt, aber es ist sein gutes Recht, lange wütend auf mich zu sein. Ob sein Herz wirklich so lange sauer auf mich sein kann, ist eine andere Frage. Ich laufe beabsichtigt langsam, sodass alle vor mir laufen und Ardan hinter mir, nur damit ich mich nah zu ihm fühle. Er kommt also in den Matheunterricht, das freut mich. In meinen Gedanken streift er jetzt meinen Arm oder meine Hand, als Signal, dass heute ein guter Tag wird oder dass wir reden werden, aber das tut er nicht.

Die letzten Stunden war Ardan so unfassbar aufgeregt. Ich weiß nicht, was der ausschlaggebende Grund für seine Aufregung ist, aber hoffentlich kommt es ihm zugute. Sein Bein hat immer gewippt, als ich mich zu ihm, Ramzi und den anderen nach hinten gedreht habe und er hat immer seine Sitzposition verändert. Als die anderen ihn deshalb angesprochen haben, hat er sanft abgewunken. Was es wohl ist? Die ganze Fahrt über grübele ich, was ihn so hibbelig machen kann, aber mir kommt nichts in den Sinn. Wann genau wird er mir auf dem Geburtstag erzählen, was sein Geheimnis ist? Wird er es vor den anderen tun? Ich bin echt aufgeregt deshalb. Meine Brüder werden ebenfalls kommen. Aiman wird der Störenfried sein, das weiß ich. Deshalb habe ich Mama gesagt, dass sie ihn warnen soll, sodass ich keine schlechte Laune auf dem Geburtstag kriege. Ich steige ungeduldig aus Adams Auto, um mich schnell vor meinen Spiegel zu stellen. Soll ich so gehen? Ich liebe dieses Outfit, es steht mir so unfassbar gut und mein Hintern wirkt so schön. Ich finde sogar, dass meine Brüste ein wenig größer wirken. Der Gedanke lässt mich lächeln. Soll ich etwas Mascara auftragen? Ich sollte mir vielleicht Feuchttücher kaufen, die auch wasserfeste Schminke entfernen können, denn ich trage eigentlich nur wasserfesten Lippenstift und Mascara. Ach, ich lasse es einfach sein. Der Geburtstag ist erst in einer Stunde und ich bin so ungeduldig! Beim Nachrichtenton meines Handys springe ich sofort aufs Bett, um die Nachricht zu lesen. Mein Lächeln fällt augenblicklich.

'Es tut mir leid, aber ich kann heute nicht feiern.'

Ich starre diese Nachricht an. Irgendetwas ist passiert und das lässt mich unruhig werden. Soll ich ihn anrufen? Soll ich ihn anschreiben? Ich nehme das Anschreiben als Wahl, doch sie hat nur einen Haken. Was ist passiert? Wieso kann er nicht feiern? Geht es ihm gut? Geht es seiner Familie gut? Adam kommt zu mir, um zu fragen, ob ich etwas weiß, doch ich verneine es nur. Meine Sorge schlägt für einen Moment in Verdutztheit um. Was hat er erfahren? Dass er mir nicht antwortet, macht mich noch verrückt. Ich muss zu ihm, aber vielleicht ist er nicht zu Hause. Vielleicht muss er mit seinen Eltern irgendwohin. Die Mutter! Sie muss mir doch eine Auskunft geben können. Ich wähle sofort ihren Namen in meinen Kontakten, als ich zur Tür laufe, um sie abzuschließen. Es tutet viel zu lange, bis sie rangeht. Gerade steht alles still für mich. Meine Sorgen werden immer größer.

"Ja?", flüstert sie. Mein Herz setzt aus.

"Was ist passiert?" Meine Stimme ist unwillkürlich heiser. Als ich ihr Schniefen höre, steigen mir die Tränen auf.

"Oh Gott", wimmert sie. Was hat er? Wieso weint sie? Ich laufe unruhig durch mein Zimmer.

"Geht es ihm gut?" Meine Stimme bricht am Ende. Es legt sich Druck auf meinen Nacken.

"Nein, leider nicht." Sofort greife ich nach meiner Jacke. Ich muss zu ihm!

"Ist er zu Hause?"

"Ich weiß nicht, ob er jemanden sehen will, Liebes", schnieft sie. Der Satz entmutigt mich ein kleines bisschen, aber ich kann ihn doch nicht einfach so alleine lassen - nicht, wenn es ihm schlecht geht.

"Ich muss ihn aber sehen", zittert meine Stimme. Ich habe meine Jacke schon an und schließe die Tür auf, um mir meine Schuhe anzuziehen und aus dem Haus zu gehen.

"Ich öffne dir dann gleich die Tür." In ihrer Stimme schwingt Trauer, die mich unwillkürlich schluchzen lässt. Was ist nur passiert?

Ich renne an den Häusern vorbei. Mir fallen die Tränen aus den Augen, je mehr ich daran denke, was im Haus vor sich geht. Was hat er fahren, dass er seinen Geburtstag dafür absagt? Das Haus hat plötzlich einen traurigen Eindruck auf mich, es wirkt so anders. Ängstlich klopfe ich. Was wird mich erwarten? Wird er mich abstoßen? Die Kraft meines Herzschlages fühlt sich an, als würde man Schritte hören. Mir läuft es kalt den Rücken runter, als die Tür aufgemacht wird. Die Mutter hat blutunterlaufene Augen, ihre grünen Augen wirken glasig. "Cana", wimmert sie. "Was hat er?", frage ich schrill. Sie zieht mich in ihre Arme. Meine Dämme brechen, als sie in meinen Armen weint. Ich verstehe die Welt nicht, aber den Schmerz, den ich in diesem Haus spüre. Es ist eine Last, die sich auf mich drückt und mich zwingt, die Tränen rauszulassen. Im Wohnzimmer sitzen Familienangehörige. Auch seine Cousins und Cousinen sind hier. Alle sind traurig oder am Weinen. Ich werde verrückt, was hat mein Ardan? "Manchmal ist das Schicksal erbarmungslos", schluchzt sie. Der Klos, der sich in meinem Hals bildet, vermittelt mir das Gefühl, mich zu würgen, als ich diesen Satz höre. Ich kann mich nur träge bewegen. Am aktivsten sind die Tränen, die mir über meine Wangen rinnen. Die Mutter will mich nicht loslassen. Sie drückt noch fester zu. Ihr Zittern überträgt sich auf mich. Ich will ihn sehen, ich will für ihn da sein. Ist er in seinem Zimmer? "Kann ich zu ihm?", flüstere ich zitternd. "Versuch es, Cana. Ich hoffe so sehr, dass ihm jemand helfen kann." Als sie sich von mir löst, muss sie wegen meines verweinten Gesichtes noch mehr weinen - und ich muss wegen ihr noch mehr weinen.

Das schwummrige Gefühl wird sich noch verstärken, wenn ich weiter weine. Ich sollte mich also lieber nicht so oft nach vorne beugen, wie ich es jetzt tue, um mir die Schuhe auszuziehen. Als ich die Treppen erreiche, verzieht sich mein Gesicht wieder. Ich muss wieder weinen, ohne den konkreten Grund zu wissen. Ich höre ihn. Ich höre seine Wut und seine Trauer. Ich höre, wie sein Vater ihn beruhigen will. Ich höre Roxy, die jault und winselt und wie Ardan etwas umstößt. Die Mutter steht hinter mir, drückt meine Hand. Sie will mir ein Lächeln schenken, was ihr nur halbwegs gelingt. Ohne zu klopfen öffnet sie die Tür. Mein Herz zieht sich zusammen. Ardan liegt zusammengekauert auf dem Boden. Sein Zimmer wirkt verwüstet: die Bettwäsche liegt verstreut im Zimmer, ebenso seine Kleidung. Er hat sogar seinen Schreibtisch umgeworfen und ein Loch in die Schranktür gehauen. Meine Schultern sacken ein. Ich bin nicht in der Lage, mich vom Fleck zu entfernen. Sein Weinen legt einen Fluch um mich, der mich lähmt und mich foltert. "Wieso ich? Ich habe niemandem etwas angetan, dass es mich treffen muss", murmelt er brüchig. Der Vater fährt ihm über seinen gekrümmten Rücken. Auch er ist verweint. Seine Lippen verziehen sich wieder, nachdem Ardan gesprochen hat. Je länger ich Ardan anschaue, umso größer werden meine Schmerzen. Meine Unterlippe bebt, meine Wangen schmerzen. Ich muss den Blick senken. Ihn in dieser gebrochenen Lage zu sehen, ist zu viel für mich. Ich bin nicht stark genug, um es auszuhalten.

"Was habe ich denn getan?", flüstert er. Alles ist still im Raum. Zu still, sodass sein krampfhaftes Schluchzen zu laut für mein Herz ist. "WAS HABE ICH DENN GETAN?", brüllt er. Roxy springt auf, als Ardan es tut. Mir bleibt die Luft weg, als seine verweinten Augen in meine schauen. Wird er mich anschreien? Wird er mich wegschicken? Ich trete unsicher zurück. Das Letzte, was ich will, ist es, dass er sich eingeengt fühlt. Trotzdem würde ich nichts lieber tun, als ihn zu umarmen. Wenn ich ihm mein Herz geben müsste, damit er keinen Herzschmerz mehr verspüren muss, dann tue ich es. Was muss ich opfern, damit sein Leid beendet wird? Meine Hand schnellt zu meinem Mund, um mein Schluchzen abzudämpfen. "Habe ich je jemandem etwas Schlechtes getan? Habe ich das?", fragt er mich. Ich verneine es sofort. "Wieso trifft es dann ausgerechnet mich?" Er greift zu fest nach meinen Handgelenken. "Wieso trifft es immer die, die es am wenigsten verdienen? Haben wir Herzen, damit wir leiden?" Je länger ich in seine in Leid getränkten Augen sehe, umso mehr habe ich das Gefühl zu fallen. Meine Knie wollen nachgeben, um dieser Folter nicht mehr ausgesetzt zu sein. "Wieso trifft es immer die, die immer so viel erleben wollen?", flüstert er. Seine Augen tränken sich in Tränen. Ich habe das Gefühl an seinen Tränen zu ertrinken. Ardan beißt sich auf seine bebende Unterlippe. Seine Brust hebt sich krampfartig im Einklang seines Schluchzens. Dasselbe passiert bei mir.

"Habe ich kein normales Leben verdient?", weint er. Meine Knie geben mit seinen nach. Ich kann ihn so nicht sehen. Wieso weint er nur? Was kann dafür sorgen, dass er aufhört zu weinen? Wenn ich an sein glückliches Gesicht heute denke, dann muss ich noch stärker weinen. Er war doch so glücklich. Wie kann man sein Glück und seine Freude nur so zerstören? Die Eltern verlassen das Zimmer. Ich weine stärker, als die Mutter die Tür schließt. "Bin ich so verkrüppelt, dass niemand Rücksicht auf mich nehmen will?" Meine Hände, die von ihm noch umschlungen sind, schlägt er verzweifelt gegen seinen Kopf. Ich will mich wehren, aber er lässt es nicht zu. Roxy greift sofort ein, indem sie ihre Pfoten zum Schutz einsetzen will und seine Schläfe ableckt. "Bin. Ich. So. Verkrüppelt?", presst er erstickt hervor, wobei er bei jedem Wort meine Hand gegen seine Brust schlagen lässt. Ich entferne meine Hand, um sie aus seiner Gewalt zu befreien und sie vorsichtig um seine Hände zu legen. "Was ist passiert?" Statt mir zu antworten, zieht er seine Augenbrauen zusammen und schaut zur Seite. "Ich habe verloren. Ich hatte eine einzige Hoffnung und diese wurde mir genommen." Er atmet zittrig. Bin ich so verkrüppelt, dass niemand Rücksicht auf mich nehmen will? Ich senke mit tränenden Augen den Blick. Es ist eine Sünde, dass man ihn so zurichtet. Wer dafür verantwortlich ist, soll augenblicklich bestraft werden. Die Person soll das Leid spüren, das gerade im Herzen meines Ardans tobt und brennt.

Wir haben nicht viel Abstand zueinander, aber trotzdem zögere ich, als ich weiter zu ihm aufrutsche. "Kannst du es mir erzählen?" Er verneint es. "Es soll im Stillen passieren", flüstert Ardan. Was meint er? Was soll im Stillen passieren? Ich trockne mir schniefend mein Gesicht. Gerade haben meine Tränendrüse eine Pause eingelegt. "Es ist da, wenn ich nicht da bin und ich bin da, wenn es nicht da ist." Er lacht verzweifelt auf. Ich verstehe ihn nicht. Was soll das heißen? Ohne zu zögern schmiege ich seine Hand an meine Wange. Ich spüre etwas Raues an seinen Knöcheln. Er hat sicherlich diese Hand zum Einschlagen der Schranktür genutzt. Heute Nacht werde ich schwer einschlafen. Sein verweintes Gesicht wird mich bis in meine Träume begleiten. Die Tage werden zum Sturm der Trauer. Er trägt die Strafe für die Sünden anderer aus, obwohl er nur das Paradies verdient. Er soll mir seinen Herzenswunsch sagen, den ich ihm erfüllen könnte. "Wie kann ich dir helfen?", frage ich wehleidig. Ich lege meine Hand auf seine Brust. Ich brauche diese Verbundenheit. "Gar nicht", blafft er. Seine Hand, die meine grob entfernt, bricht mir das Herz. Ich schrecke zurück, während mich das elektrisierende Gefühl im Brustkorb befällt. "Du solltest gehen." Wieso tut er das? Ich verstehe überhaupt nichts mehr. "Ardan ..." "GEH!" Sein Abstoßen ruft mir wieder die Tränen in die Augen. "Du kannst mir nicht helfen, Cana. Akzeptier es ... ich muss es doch auch akzeptieren", flüstert er am Ende wieder gebrochen. Über seine schönen Lippen, über die so oft so viel Wunderbares und Zartes gleitet, kommen Töne, die mein Herz in Leid versetzen. Ich kann weder sein Weinen, noch sein Schluchzen ertragen.

"Jetzt geh. Ich halte diese Schuldgefühle nicht länger aus." Wieso Schuldgefühle? Was hat er nur getan? Als ich aufstehe, gehe ich nicht aus dem Raum. Ich räume sein verwüstetes Zimmer auf. Ardan bleibt auf dem Boden. Seine Atmung hört sich manchmal röchelnd an - das beunruhigt mich. Deshalb schreibe ich der Mutter, ob sie ein Glas Wasser für ihn hochbringen kann. Sie scheint sich etwas beruhigt zu haben, als sie ins Zimmer tritt. Ihre Augen widerspiegeln jedoch immer noch ihre Trauer. "Das musst du nicht tun, Liebes." Ich winke ab. Der Stapel Kleidung hat sich schnell falten lassen. "Das ist das Einzige, was ich gerade tun kann." Meine Stimme ist ganz schwach. Ich muss mich räuspern. Kann ich ihm wirklich nicht helfen? Die Tatsache erschüttert mich. Wenn er es mir doch einfach nur erzählen würde, dann könnten wir doch vielleicht eine Lösung finden. Die Mutter fragt Ardans etwas auf Türkisch, was er kopfschüttelnd verneint. Es macht mich traurig, dass ich schon alles aufgeräumt habe. Hätte ich mir doch noch mehr Zeit beim Aufräumen des Schreibtisches gelassen. Dann gehe ich jetzt, damit er nicht weiteren Schuldgefühlen ausgesetzt werden muss. "Du gehst?", fragt die Mutter verdutzt. Ich nicke. "Er möchte es so. Da will ich ihn nicht noch weiter stressen." "Ardan", setzt die Mutter mit leichtem Entsetzen an. "Bitte, Mama." Ardans Stimme zeigt, dass er gereizt ist und keine Lust auf eine Diskussion hat. "Ist schon okay", lächele ich beschwichtigend. Es ist eigentlich nicht okay, aber wenn es ihm hilft, dann tue ich es. "Wir sehen uns hoffentlich irgendwann wieder", murmele ich niedergeschlagen, als ich durch die Tür laufe. "Cana." Voller Hoffnung drehe ich mich zu seiner Stimme um. Er zögert.

"Verzeih mir bitte, wenn ich eines Tages nicht mehr da bin." Der Schmerz, den seine Augen gerade widerspiegeln lässt mich tausend Tode sterben.

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